Fröhlicher Positivismus

Ursula Goldenbaum über die Streitkultur in der deutschen Aufklärung

Von Dietmar TillRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Till

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf 970 eng bedruckten Seiten untersucht Ursula Goldenbaum, Philosophiehistorikerin an der Emory University in Atlanta, die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung. Das zweibändige Werk enthält Fallstudien zu wichtigen Debatten in den Jahren zwischen 1687 und 1796, die heute überwiegend nur noch ausgesprochenen Aufklärungsforschern bekannt, gleichwohl für das intellektuelle Profil des Jahrhunderts zentral sind. Dargestellt werden in sieben Einzelkapiteln, die von der Verfasserin und einigen Mitstreitern erarbeitet worden sind: Der Streit des Kopenhagener Hofpredigers Hector Gottfried Masius mit Christian Thomasius am Ende des 17. Jahrhunderts, der "Skandal" um die "Wertheimer Bibel", die rationalistische Bibelübersetzung von Johann Lorenz Schmidt (mit über 300 Seiten das Zentralkapitel der Studie), die Debatte um die Preisfrage der Berliner Akademie (1752-1753), der Streit zwischen dem "Nordischer Aufseher" (Johannes Andreas Cramer und Klopstock) und Lessings "Literaturbriefen" - schließlich die publizistischen Auseinandersetzung um die preußische Justizreform, die Debatte um die "bürgerliche Verbesserung der Juden" und die Fehde zwischen dem rationalistischen Aufklärer Carl Friedrich Bahrdt und Anhängern der Gegenaufklärung.

Alle diese Analysen argumentieren auf der Grundlage umfassender Quellenkenntnisse und beziehen dabei sowohl gedrucktes wie ungedrucktes Material (Briefe, Archivalien) in die Argumentation ein. Vor dem beträchtlichen Arbeitsaufwand, der hinter diesen Rekonstruktionen steckt, muss man den Hut ziehen. Dass dabei zahlreiche Redundanzen entstanden sind, ist angesichts der Fülle des Materials verständlich; diese hätten aber in einem redaktionellen Durchgang leicht beseitigt werden können. Dazu hat die Kraft am Ende offensichtlich gefehlt. So verliert sich der Leser bisweilen in den einzelnen Debatten (vor allem im umfangreichsten Kapitel über die "Wertheimer Bibel"). Eingeleitet wird die Studie von einem umfangreichen Aufsatz, der über den methodologischen Standort der Arbeit unterrichtet, sich dabei aber immer wieder auf Ergebnisse der nachfolgenden Kapitel bezieht. Er empfiehlt sich für einen ersten Einstieg in die Thematik der beiden Bände.

Neben dem Anspruch der Rekonstruktion dieser Debatten nach dem Modell der "intellectual history" (die, nebenbei gesagt, durchaus auch Stoff für mehrere historische Romane böten) verfolgt die Studie das prinzipiellere Ziel einer Revision unseres Epochenbildes von der "unpolitischen Aufklärung". Jürgen Habermas und Reinhart Koselleck sind die publizistischen Gegner in der Debatte, die das Buch anstoßen möchte. Im Gegensatz zu Habermas' Thesen in seinem Buch "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1960) postuliert Goldenbaum, dass es in Deutschland bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine intensive publizistische und politische Diskussion gab, die durchaus auf die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit schließen ließe. Die deutsche Aufklärung sei also im Vergleich mit England und Frankreich keineswegs als "verspätet" oder gar als rückständig zu bezeichnen - im Gegenteil: Die Zersplitterung der Territorien im deutschen Territorialabsolutismus mit seinen je spezifischen Zensurbestimmungen und die erstaunlich große Denkfreiheit in religiösen und konfessionellen Fragen, die seit dem Westfälischen Frieden zumindest in den protestantischen Gebieten rechtlich garantiert war, bot, wie die Debatte um die Bibelübersetzung Schmidts eindrücklich zeigt, dem Verfolgten einen relativen Schutzraum, der die Territorien des Alten Reiches sogar zu Vorläufern moderner Meinungsfreiheit macht.

Die Arbeit argumentiert dabei im Einklang mit neueren Strömungen der Absolutismusforschung. Anstatt immer nur auf die Zensur hinzuweisen, die Artikulation über wichtige öffentliche Streitfragen unmöglich mache, möchte die Studie gerade jene Spielräume ausloten, die es zwischen der Zensur (die selbstverständlich herrschte) und dem Zwang der öffentlichen Meinung, nach bestimmten Regeln und Vorschriften vorzugehen, gab. Wiederum am Beispiel der "Wertheimer Bibel" stellt die Verfasserin anschaulich dar, wie etwa im Protestantismus das kontroverstheologische Verfahren des so genannten "Elenchus" mit seinen genau regulierten Prozessschritten dem Angeklagten einen großen (nicht zuletzt: zeitlichen) Spielraum eröffnete, den dieser für seine Verteidigung, für publizistische Gegenmaßnahmen, die Flucht aber auch schlichtweg für die Fortsetzung des Verkaufs des inkriminierten Werkes nutzen konnte. Am Beispiel der "Wertheimer Bibel" zeigt diese Verfasserin überzeugend, wie es Schmidt und seinen Verbündeten innerhalb eines Jahres gelang, über 1000 Exemplare, und damit fast ein Drittel der Auflage der Bibelübersetzung zu verkaufen, obwohl deren Erscheinen von pietistischen Theologen bereits kritisch beobachtet worden war.

Im Zentrum der dargestellten Debatten stehen Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Vernunft und Offenbarungsreligion, also theologische Streitfragen. Mit Recht weist die Verfasserin auf Kants berühmten Aufsatz "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" ("Berlinische Monatsschrift", 1784) hin, in dem der Königsberger Philosoph den Prozess der Aufklärung besonders "in Religionsdingen" für nötig erachtet habe. Das heißt aber nicht, dass es während des ganzen Jahrhundert darüber keine publizistische Auseinandersetzung gegeben hätte: "Was aber seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und über das ganze 18. Jahrhundert ein zunehmend allgemeines und öffentliches Interesse, somit auch eine Popularisierung erfährt, sind die bis dahin wegen ihrer Brisanz nur innerhalb der Gelehrtenrepublik geführten Diskussionen zur Rechtfertigung der Wissenschaft und Philosophie, der Vernunft oder des Selbstdenkens, gegenüber der Autorität des Glaubens und der Kirche."

Schon rein quantitativ schaffen es die Einzelstudien, das bestehende Vorurteil aufzuheben, dass gerade die deutsche Aufklärung (wegen der repressiven politischen Rahmenbedingungen und der Zensur) zu wenig religionskritisch gewesen sei. Nicht erst in der Spätaufklärung, sondern bereits seit 1700 habe die Philosophie den engeren Bezirk von Universität und res publica litteraria verlassen; mit seiner in französischer Sprache abgefassten und damit auf Popularisierung angelegten "Theodizee" habe Leibniz einen zentralen Text zur Thematik der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung vorgelegt, der in der Frühaufklärung in vielen Auflagen erschien, mehrfach auch ins Deutsche übersetzt und in zahlreichen weiteren Schriften intensiv diskutiert wurde.

Gegen Habermas' Modell einer Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit aus Institutionen wie dem Kaffeehaus, den Moralischen Wochenschriften, den Aufklärungsgesellschaften und nicht zuletzt der Literatur - also jenen Bereichen, die in einem liberalen Freiraum zwischen der Sphäre des Privaten und der öffentlichen Gewalt der Obrigkeit angesiedelt waren -, wendet die Verfasserin ein, dass bereits im Alten Reich seit dem Westfälischen Frieden "das erste Mal in Europa überhaupt eine rechtliche Verfassung in Geltung war, nach der die Toleranz der drei großen christlichen Konfessionen von den Landesherren zu garantieren war."

Dass allerdings dieses Modell in den Literaturgeschichten immer weitgehend unkritisch rezipiert worden sei, wie in der Studie in Seitenhieben gegen den vermeintlichen Konservatismus der Germanistik immer wieder und durchaus polemisch angemerkt wird, ist gewiss übertrieben. Seitdem das Habermas'sche Modell in der Sozialgeschichte der 1970er Jahre intensiv rezipiert wurde, ist viel Zeit ins Land gegangen, und die Forschung hat sich mit dem Abschied vom sozialhistorischen Paradigma auch von allzu engen Modellen bürgerlicher Freiheit oder Öffentlichkeit befreit - auch wenn sich diese Literaturgeschichte "Nach der Sozialgeschichte" (Huber/Lauer) in der Tat noch kaum in Gestalt dicker Bücher niedergeschlagen hat. Überhaupt sind die teils harschen Invektiven der Verfasserin gegen die Germanistik nur selten überzeugend. Wo sie die Literaturwissenschaft angreift und ihr, wie im Falle Gottscheds, einen ungerechtfertigten Reduktionismus unterstellt, argumentiert sie einseitig und in Unkenntnis der Forschung.

Es ist keineswegs so, dass Gottscheds Rolle in den Literaturgeschichten auf den Streit mit den beiden Schweizer Literaturtheoretikern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger über die Rolle des Wunderbaren und das christliche Epos Miltons und Klopstocks beschränkt ist. Dessen Rolle als Zeitschriftenherausgeber, Literatur- und Theaterreformer wie als Popularisator der aufklärerischen Philosophie seines Lehrers Christian Wolff wird auch in der Germanistik durchaus zur Kenntnis genommen.

Zu Recht weist Ursula Goldenbaum in ihrer Studie auf die Rolle der Medien im Prozess der Aufklärung hin. Sie argumentiert damit in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der Presseforschung und der Mediengeschichte. Sie vertritt die These, dass es nicht die Zeitschriften (wie die "Moralischen Wochenschriften" oder die Gelehrtenzeitschriften) waren, die den Prozess der Aufklärung voranbrachten, sondern die am Beginn des 18. Jahrhunderts neu entstehenden "Zeitungen von gelehrten Sachen". Sie richteten sich nicht an ein gelehrtes Publikums, sondern an eine breitere Leserschicht und informierten zeitnah und in deutscher Sprache. Da sie sich durch den freien Verkauf finanzieren mussten, lässt ihre insgesamt faire und unparteiliche Berichterstattung Rückschlüsse auf die Bedeutung und die Brisanz öffentlicher Debatten zu. Aufschlussreich ist auch, wie die Redakteure dieser Zeitungen mit den Institutionen der Zensur umgehen und ihren neutralen Standpunkt gegen die Einflussnahme der Obrigkeit zu verteidigen suchen. Diese Zeitschriften sind also - und das bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts - das zentrale "Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit", wie die Verfasserin in deutlicher Abgrenzung zu Habermas schreibt.

Es ist zu erwarten, dass Ursula Goldenbaums Studie über die öffentliche Debatte ihrerseits zum Anlass für weitere Debatten über das Problem der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert werden wird. Das scheint so beabsichtigt zu sein, denn in ihrem oft polemischen Grundton, mit der sie der Philosophie- und Literaturgeschichte den Spiegel vorhält, verfolgt die Arbeit selbst ein eminent aufklärerisches Anliegen. Das ist durchaus sympathisch. Dass sie dabei aber nicht immer objektiv verfährt und öfters übers Ziel hinausschießt, ist einer der Schwachpunkte dieses absichtlich nicht sine ira et studio geschriebenen Buches. Wenig innovativ ist letztlich die Methode, mit der die Studie die einzelnen Debatten zitatenreich und in großflächigen Paraphrasen rekonstruiert. Es ist ein fröhlicher Positivismus, den die Verfasserin vertritt. Das schmälert in der Sache den Ertrag der Studie, die unser Bild von der unpolitischen Aufklärung überzeugend korrigiert, keineswegs, lässt aber ihre Innovationsrhetorik an manchen Stellen als etwas überzogen erscheinen.


Titelbild

Ursula Goldenbaum: Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687-1796, Teil 1 und 2.
Akademie Verlag, Berlin 2004.
970 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3050038802

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