Das Dienstmädchen als Schlüssel zum Kafkaesken
Gerhard Riecks Rundumschlag verfehlt sein Ziel
Von Erhard Jöst
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFranz Kafka ist zweifellos einer der faszinierendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Entsprechend zahlreich ist auch die Sekundärliteratur, die sich mit ihm und seinem Werk auseinandersetzt, denn er stellt für jeden Literaturwissenschaftler eine reizvolle Herausforderung dar. Vom religiösen über den psychoanalytischen bis zum marxistischen wurde kein Interpretationsansatz ausgelassen, um Kafkas Romane und Erzählungen zu deuten. "Jede Zeit, jede Generation, jede Gruppierung im intellektuellen Kräftefeld hatte und hat ihren eigenen Kafka", denn "Literaturwissenschaftler stehen in der Kulturindustrie nicht weniger unter Innovations- und Profilierungsdruck als die Fahrzeugkonstrukteure in der Automobilindustrie", schreibt Thomas Anz.
Mancher Interpret verirrte sich in Kafkas Labyrinth und kam sich am Ende vor wie der Protagonist in einer seiner Parabeln, der "sehr früh am Morgen" den Weg zum Bahnhof sucht und, da er sich "in dieser Stadt noch nicht sehr gut" auskennt, einen Schutzmann "atemlos nach dem Weg" fragt. "Er lächelte und sagte: 'Von mir willst du den Weg erfahren?' 'Ja', sagte ich, 'da ich ihn selbst nicht finden kann.' 'Gibs auf, gibs auf', sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen."
Trotzdem konnten viele dem Reiz nicht widerstehen, Kafka zu interpretieren, sodass die Sekundärliteratur über ihn inzwischen fast unübersehbar geworden ist. Wenn jemand diesen tausenden von Untersuchungen eine weitere hinzufügen und auch Beachtung finden möchte, dann muss er provozieren, zumal dann, wenn er als gelernter Elektrotechniker quasi von außerhalb in den Kreis der fachkundigen Interpreten eindringt.
Genau das macht Gerhard Rieck mit seinem Buch "Franz Kafka und die Literaturwissenschaft". Es ist eine Sammlung von vier (zuvor bereits im Internet auf seiner Kafka-Web-Site veröffentlichten) Aufsätzen, mit einem Vorwort und einem Anhang ("Ordnung fiktionaler Texte Kafkas nach Texttiteln, Werkausgaben und Datierungen") versehen, die vorgeben, ein "kafkaeskes Verhältnis" zu erläutern. Die beigegebenen Literaturhinweise sind äußerst dürftig und die Kriterien, nach denen diese ausgewählt wurden, sind nicht zu erkennen. Der Inhalt von Riecks Darlegungen lässt sich so zusammenfassen:
1. Die Literaturwissenschaft betreibt "Erkenntnisverweigerung" und war "mit dem starren Blick auf das in ihren Augen letztendlich Unauflösliche und Unabschließbare vielleicht doch nur 'mit halber Kraft' unterwegs". Die Interpreten konstatierten immer wieder nur die "Rätselhaftigkeit" von Kafkas Werk, um "auf der Basis dieser Rätselhaftigkeit ihr Geschäft der Weiterverdunkelung betreiben zu können." Rieck bringt es auf die Formel: "Die Literaturwissenschaft verhält sich zum Autor Kafka analog wie die Schlossbürokratie zum Landvermesser K. - sie vermeidet die Konfrontation mit dem konkreten Menschen und seinen konkreten Bezügen und weicht statt dessen auf die abstrakte Ebene aus." Sie hat "wesentliche Elemente versäumt", "obwohl die dazu erforderlichen Grundlagen und Methoden seit Jahrzehnten zur Verfügung stehen. Das Hauptargument ist wohl, dass es zahlreiche textbestimmende und strukturtragende Grundelemente in den Texten gibt, die in der Sekundärliteratur bisher entweder sehr vernachlässigt oder gar völlig übersehen wurden. [...] Selbst dort, wo dieser Charakter der Texte gesehen wird, bleiben viele (und gerade viele der wichtigsten) Elemente darin seltsam unterbelichtet." Bei den "Wiederholungsmotiven", denen der Interpret mehr Beachtung schenken müsste, handelt es sich "(als kurzer Auszug aus einer langen Liste) um die Motive 'Bett (bzw. Kanapee)', 'Treppen und Gänge', 'Zerstreutheit, Müdigkeit und Schläfrigkeit', 'die Türe und der Türhüter' und zuletzt 'die fatale Dienstmädchenliebe'."
2. Den Schlüssel zur Deutung von Kafkas Prosa liefern zwei Episoden aus seinem Leben: Das angeblich tabuisierte (und von Rieck vermutete) Liebesverlangen des neunzehnjährigen Franz Kafka zu dem einundzwanzigjährigen Dienstmädchen Anna Pouzarová, "welches sozusagen als eigentliche Muse Kafkas in Frage kommt", und die "Pawlatschen-Szene", die er in seinem niemals abgeschickten Brief an den Vater und abgewandelt als frühkindlich-traumatisches Erlebnis in den "Forschungen eines Hundes" beschrieben hat.
Das war's dann auch schon. Wieso umfassen die in dem Buch zusammengestellten Aufsätze dann 90 Seiten? Ganz einfach: Weil Rieck diese Behauptungen immer und immer wieder wiederholt. Eigentlich hat er sie bereits in seinem 1999 veröffentlichten Buch "Kafka konkret - das Trauma ein Leben. Wiederholungsmotive im Werk als Grundlage einer psychologischen Deutung" (vgl. die Rezension von Geret Luhr "Kafkas Code entschlüsselt?", in literaturkritik.de 05/2000) präsentiert. Vielleicht glaubt er, dass der Leser ermüdet und ihm dann im Dämmerschlaf beipflichtet. Wahrscheinlicher ist freilich, dass man das Buch irgendwann kopfschüttelnd beiseite legt. Denn die ständig wiederholten Invektiven gegen die Literaturwissenschaft nerven gewaltig. Wenn sie wenigstens zuträfen und von Rieck bewiesen werden könnten! Aber die wenigen Versuche, seine pauschale Verurteilung der Literaturwissenschaft zu belegen, scheitern kläglich. Und um Gewichtigkeit vorzutäuschen, wiederholt er sogar die von ihm aufgegriffenen Zitatfetzen, beispielsweise die von Karlheinz Fingerhut in einem literaturdidaktischen Aufsatz gemachte Aussage von den "erfolglos mäandernden Deutungsaktivitäten". Sicherlich kann man Einwände gegen einzelne Studien von Literaturwissenschaftlern erheben (Rieck attackiert vor allem Jacques Derridas Interpretationsmethode), aber der Literaturwissenschaft pauschal vorzuwerfen, dass sie alles "auf das unendlich Vieldeutige" reduziere, also "das Konkrete" konsequent vernachlässige, ist einfach lächerlich.
Schließlich hat Hartmut Binder bereits in seinem 1975 erschienenen "Kafka Kommentar" den Zugang zu Kafkas Werk über "die textimmanente Interpretationsrichtung" beklagt und festgestellt, dass Kafka mehrfach "konkrete biographische Situationen mit Strukturen bereits vorliegender eigener Werke" veranschaulicht: "Andererseits spricht er davon, er und sein reales Handeln sei dem Geschriebenen auffallend ähnlich oder sogar mit diesem im Kern identisch." Seither sind zahlreiche qualifizierte Studien erschienen, die Kafkas Biografie zur Interpretation seiner Texte herangezogen haben. Auch ist Kafkas gestörte Sexualität häufig nicht nur von Germanisten und Psychologen untersucht und für die Interpretation fruchtbar gemacht worden. Zudem haben sich viele Künstler (wie beispielsweise David Zane Mairowitz und Robert Crumb: Kafka kurz und knapp, Erstauflage 1995) mit ihr kreativ auseinandergesetzt.
Längst ist auch Kafkas Brief an den Vater, speziell das Pawlatschen-Erlebnis, zur Interpretation - vor allem der "Verwandlung" - herangezogen worden. Anregend und aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das von Helmwart Hierdeis herausgegebene Buch "Lieber Franz! Mein lieber Sohn!" Antworten auf Franz Kafkas "Brief an den Vater", Wien 1996.
Man muss also leider feststellen, dass die Aufsatzsammlung nichts Neues bietet und den Anspruch, den sie erhebt, selbst nicht einlöst. Selbst Riecks Pauschal-Attacken gegen die Literaturwissenschaft sind Wiederholungen. Lediglich das Kapitel "Kafka und die Frauen" enthält ein paar brauchbare Anregungen. Riecks "neun Thesen wider die Literaturwissenschaft" sind Pauschalisierungen, mit denen er seine Behauptung, dass sie "gezielt nach Erkenntnisvermeidung" strebe, untermauern möchte. Er behauptet, die Literaturwissenschaft vernachlässige "das Materielle zugunsten des Geistigen, das Konkrete zugunsten des Abstrakten, das Ergründbare zugunsten des Unergründbaren, den Reduktionismus zugunsten des Inflationismus, das Einfache zugunsten des Komplizierten, das Banale zugunsten des Großartigen, die Intratextualität zugunsten der Einzelinterpretation, die Einsinnigkeit zugunsten der Vielsinnigkeit, die Psychologie zugunsten der Philosophie."
Gerhard Rieck ist gefangen in der Vorstellung, dass "der destruktive Dekonstruktivismus der Postmoderne den Prozess der Dekonstruktion von Realität als einen unendlichen Prozess ohne Rekonstruktion begreift", und je mehr er publiziert, umso offenbarer wird, dass er sich von dieser Obsession nicht lösen kann.
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