Einblicke in das Atelier der kritischen Hermeneutik

Anmerkungen zu Jean Bollacks großartiger Studie über "Paul Celan und die Literatur"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Freitod und einer kaum zu überschauenden Zahl an Interpretationen fasziniert das einzigartige lyrische Werk Paul Celans. Der Pariser Philologe Jean Bollack, 1923 in Straßburg geboren, einer elsässisch-jüdischen Familie entstammend und in Paris wie Peter Szondi, Jacques Derrida (dieser erst 1968 über Szondi), Edmond Jabès, Maurice Blanchot, André du Bouchet, Jacques Dupin, Jean Daive und der Beckett-Übersetzer Elmar Tophoven zum engeren Bekannten- und Freundeskreis des 1948 in die französische Hauptstadt gekommenen Celan gehörend, hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren Celans Gedichten ihres Schwierigkeitsgrades wegen einen guten Teil seiner Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Aufmerksamkeit manifestierte sich zunächst in seinem Vorwort zu Szondis "Celan-Studien" (1972) und fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der umfassenden Darstellung "L'Ecrit. Une poétique dans la poésie de Celan" (Paris 1999), in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel "Paul Celan. Poetik der Fremdheit" (Wien 2000, vgl. literaturkritik.de 06/2003). Nicht nur in den Arbeiten über Celan, auch in seinen glänzenden Analysen zur griechischen Tragödie (etwa in den Essays zu Sophokles' "Oidipus tyrannos"; dt. Ausgabe: Frankfurt a. M. 1994) vermochte es Bollack auf faszinierende Weise, eine kritisch erneuerte Klassische Philologie, wie sie sich im 19. Jahrhundert vornehmlich in Deutschland (etwa bei Jacob Bernays und anderen jüdischen Intellektuellen) herausgebildet hatte, mit den literarischen und dichtungstheoretischen Positionen der französischen Moderne in der Gravitation von Theater, Psychoanalyse, Soziologie, (Post-)Strukturalismus und Literatur zu verknüpfen.

Im Mittelpunkt der Monografie zur "Poetik der Fremdheit" stehen Celans bewusste Loslösung von seinem traditionellen Umfeld und die Reflexionen darüber, welche Voraussetzungen für eine ungebundene künstlerische Produktion gewährleistet sein müssen. Gestützt wird die Lektüre der Texte Celans durch die Rekonstruktion der persönlichen Situation des Dichters und des historischen Kontextes der einzelnen Gedichte. Bollack berief sich hier primär auf die anarchische Seite des Autors, der sich gegen alle sprachliche Ordnung wehrt, die sich als Zwang für das schreibende Ich herausstellt. Bollack nimmt die unter dem Einfluss von Adornos kategorischem Imperativ, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, stehende Frage Szondis an die so genannte hermetische Lyrik auf, wie ein Leser der Autonomie des Textes, der autonomen Textrealität und zugleich den präzisen Bezügen zu jenen historischen Realien gerecht werden könne, auf die er sich bezieht.

Bollack zwingt damit zusammen, was die diversen literaturtheoretischen Richtungen der letzten Jahr(zehnt)e geflissentlich zu trennen suchten: den vermeintlich in und aus sich heraus verstehbaren oder auch nicht mehr verstehbaren Text einerseits und den biografischen Kontext andererseits. Für Bollack kann und muss diese Hermetik der Texte zum einen in der Immanenz ihrer komplexen sprachlichen Bezüge und zum anderen in der Restitution, die die historischen Realien im sprachlichen Medium erfahren, verstanden werden. Gerade das jeweils rekonstruierbare historisch Konkrete, das Partikulare wie auch das Private, wird, so Bollack, nicht in irgendeinen allgemeinen Diskurs integriert, sondern sprachlich bearbeitet und in dieser Bearbeitung als Zeugnis im Archiv der Texte bewahrt. Damit befindet sich Bollacks Hermeneutik in zweifacher Distanz: einmal zu der Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers, die sich durch alle Celan-Interpretationen wie ein roter Faden hindurchzieht, zum anderen zur Dekonstruktion Jacques Derridas, obwohl sich beide Ansätze in vielen Punkten sicherlich näher sind, als von Bollack wiederholt behauptet wird. Etwa dann, wenn Bollack (wie auch Derrida in seinen Überlegungen zu Celan) von der Negation des vertrauten Wortkörpers, der schmerzlichen Polysemie der Texte und der zunehmenden Entsemantisierung der Erinnerungszeichen ausgeht. Ein deutlicher Unterschied beider Theorien besteht zugegebenermaßen darin, dass Bollack (im Gegensatz zu Derridas Präferenz der écriture) von dem Prozess der lecture ausgeht, die eine ethische Entscheidung voraussetzt: Bollack achtet die Freiheit Celans, sich von seiner Tradition abzusetzen, und interpretiert auf diese Weise die Eigenart seiner Texte, die in diesem Sinn entstanden sind. Jener Freiheit entspricht die Freiheit des gegenwärtigen Interpreten, der in eine neue Distanz treten und sich seinerseits von der Tradition des Verständnisses, in der er sich befindet, lösen muss, um den idiomatischen Gebrauch der Sprache erkennen zu können. Nicht der Wahrheitsgehalt mache die Literatur aus, so Bollack, sondern eine Bewegung, eine permanente 'Arbeit am Sinn'.

Angelpunkt dieser kritischen Hermeneutik, wie man sie in seiner grundlegenden Abhandlung "Sens contre sens - Comment lit-on?", ins Deutsche übersetzt unter dem Titel "Sinn wider Sinn - Wie liest man?" (Göttingen 2003, vgl. literaturkritik.de 04/2006), findet, ist die Vorstellung, die Dichtung sei sich, auf der breiten Grundlage von Spontaneität, ihrer eigenen Vorgehensweise bewusst. Die Auslegung im literarischen Werk (in Anlehnung an das alexandrinische Verständnis der Epen Homers: "Textus interpres sui") wird nach Bollack zur entscheidenden Bedingung der Interpretation und zu ihrem Leitfaden. Statt eine in sich zirkulierende absolute Ästhetik wiederum zu verabsolutieren, historisiert Bollack radikal den Herstellungsprozess (mit Celan: das "Hand-Werk" des Dichters) durch eine historisch determinierte Differenz, die in erster Linie in der Syntax erkennbar werde: Die Syntax, so Bollack, fixiere frei einen Sinn über die Struktur der Sprache hinaus, sie lege fest, wer Subjekt und wer Objekt sei, und sie regiere, in einem weiteren Sinn, auch die Abfolge der Gedanken in den Texten. Es gehört vielleicht zu den überraschendsten und zugleich produktivsten Erkenntnissen Bollacks, wenn er ferner konstatiert, Celan "lese" und reflektiere mit Hilfe seiner Syntax und des in allen Gedichten lesbaren Verhältnisses von "Ich" und "Du", wie die Gedichte mit ihrer Spontaneität umgehen. Gemeint ist damit, dass ein künstlich konstruiertes Subjekt sich eines "Du" bedient, das sich hingibt und schreibt und sich beim Schreiben von einem "Ich" beobachtet weiß: "Der Autor liest, indem er schreibt, oder er schreibt das, was er liest. Das ist der höchste Grad an Genauigkeit". So findet Celan einen Weg zum Schreiben im Angesicht von Auschwitz, das sich in der Beziehung des reflektierenden "Ich" zum schreibenden "Du" unaufhörlich beobachtet weiß.

In seiner letzten Publikation "Poésie contre poésie. Celan et la littérature" (Paris 2001), die jüngst - in der Übersetzung Werner Wögerbauers bei Wallstein in Göttingen - unter dem Titel "Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur" auf Deutsch erschienen ist, durchmisst Bollack die Text-Räume der Gedichte Celans, die dank ihrer dichten literarischen und kulturellen Bezüge Texturen ermöglichen, die von den Autoren der Antike bis hin zur Dichtung und Philosophie des 20. Jahrhunderts geknüpft sind. Bollack liest Celans Werk als Buch im Sinne Stéphane Mallarmés, in dem durch die Negation aufgenommener Bezüge die gesamte Literatur neu konstituiert wird: "Das Buch wird von Narration zu Narration in einer offenen Kontinuität geschrieben, nach einem Moment des sich Abschließens, in Erwartung des nächsten. Zugleich ist es auch seit jeher schon da, es präexistiert, so daß man dem neuen Text mit dieser sich explizierenden Totalität neben sich oder hinter sich begegnet, und doch auch so, als gäbe es keinen anderen als diesen einen. Er hat sich im Buch an die Stelle des Buches selbst gesetzt und vertritt es; auch, wenn man es noch weiter zurückverfolgt, an die Stelle aller anderen je geschriebenen Bücher, indem er mit jedem Schritt ihnen gegenüber Stellung bezieht. Man kann das Gedicht also auch als das Buch lesen, dessen Lektüre ein beträchtliches literarisches Wissen erfordert". Die Gedichte Celans sprechen von diesen Intertexten, indem sie ihnen gleichzeitig widersprechen. Darüber hinaus greift Bollack den bereits in früheren Publikationen thematisierten Antagonismus der Sprachen sowie die durch eine Entzweiung des Subjekts im Angesicht von Auschwitz ermöglichte Befragung der dichterischen Mittel auf: "Wollte man aus seinem Werk eine Philosophie der Geschichte ableiten, so könnte sie etwa so lauten: es hat die Todeslager gegeben; die Person, das historische Subjekt hat demgegenüber entschieden Stellung bezogen; das schreibende Subjekt wird sich nun fragen, wie, mit welcher Sprache und durch welchen Schnitt, es weiterschreiben kann, ohne von all dem kontaminiert zu werden, was in der Welt der Dichtung zur Hervorbringung des Ereignisses beigetragen oder sich ihm nicht entgegengesetzt hat".

Die hier versammelten Einzelstudien sind die Ergebnisse einer einzigartigen, über zwei Jahrzehnte währenden Entzifferungsarbeit der Gedichte Celans. Sie wurden für die vorliegende deutsche Ausgabe aktualisiert und auf den neuesten Stand der Forschung gebracht. Es dürfte nicht ganz falsch sein, in Bollacks diversen Deutungsepochen auch die Geschichte der Celan-Philologie en minature widergespiegelt zu finden, haben die von ihm (mitunter in aller Radikalität) geführten Auseinandersetzungen und Forschungsinitiativen doch einen nachhaltigen Einfluss auf die Arbeit an den Texten des verstorbenen Freunds ausgeübt. Was möglicherweise nur die Lektüre von Bollacks Celan-Interpretationen vermitteln kann, ist die faszinierende Eindringlichkeit und Unerbittlichkeit seines Umgangs mit den Primärtexten, aber auch mit all dem, was im Laufe der letzten Jahre über sie geschrieben wurde. Das allermeiste der vorhandenen Sekundärliteratur kann vor Bollacks kritisch hermeneutischem Blick nicht bestehen. Einen ungefähren Eindruck dieses Refutationsfurors erhält man durch die Lektüre seines Aufsatzes über Celans Treffen mit Heidegger 1967 auf dessen Hütte in Todtnauberg, in dem sämtliche bisher unternommenen Deutungen nicht nur des dortigen Aufenthalts Celans, sondern auch des im Anschluss an den Besuch geschriebenen Gedichts "Todtnauberg" als nicht substanziell genug verworfen werden.

Der Aufbau der Anthologie ist der französischen Vorlage verpflichtet: nach dem einleitenden Essay, der auf kurzem Raum derart viel Zutreffendes und Überzeugendes zu Celans Poetik verdichtet, wie kaum ein anderes Buch über den Dichter, werden die historischen Voraussetzungen in Erinnerung gerufen, von denen her sich diese kritische Poetik konstituiert hat. Auch hier findet sich die für Bollacks Ansatz zentrale Vorstellung der Spaltung der Textinstanzen in ein "Du" und ein "Ich": "[Celans] Dichtung kann sich nur um den Preis ihrer Selbstentfremdung einem anderen, außerhalb ihrer selbst gelegenen Objekt zuwenden. Sie bezieht ihre kritische Potenz von dieser Selbstreflexivität, von der Überprüfung der verwendeten Mittel, von dem beständigen Rückbezug auf sich selbst. Nur dies verleiht ihr ihren experimentellen Zug, der in dem von der Sprache des Gedichts geschaffenen Raum dem Dichter die Position eines Beobachters seiner eigenen Schöpfungen zuteilt". Im ersten Teil wird vor allem der historische Kontext der massenhaften Ermordung der europäischen Juden als Folie der Texte Celans exponiert, gleichzeitig aber auch als Grenze, gegen die diese Texte anstürmen. Da die Benennung von Auschwitz in den Gedichten zwar nicht expliziert, aber ständig umkreist wird, bleibt mit Werner Hamacher für Celans Lyrik zu unterstreichen, dass der Grund eines jeden Gedichts "ein Abgrund [ist], daß er nicht die Bedingung seiner Möglichkeit, sondern die seiner Unmöglichkeit ist und daß das Gedicht nur noch zu sprechen vermag, weil es sich der Unmöglichkeit seines Sprechens aussetzt". Auch für Bollack erklärt sich die "Negationskraft des Wortes" aus "dem Durchgang durch diesen Schlund; sie gründet sich auf die historische Wahrheit des Nichts - auf die Vernichtung. Celan war zu sehr in dieses Unterfangen engagiert, mit dem er historische Kriterien für eine angemessene Sprache festgelegt hat, als daß er sich wohin auch immer hätte mitreißen lassen". Gedanken Walter Benjamins (durchaus aber auch die Heideggers und die einer dekonstruktiven Re-Lektüre durch Derrida) zum komplementären Spiel von Destruktion und Konstruktion einbeziehend, kommt Bollack zu folgendem Ergebnis: "So greift [Celan] alles auf, um es auseinanderzunehmen und neu zu schaffen, bis an die Stelle der vorgefundenen, mit bestimmten Werten belasteten Form die neue tritt, die dieser Werte entledigt wurde".

Im zweiten Teil sind Aufsätze Bollacks versammelt, etwa die bis heute kaum übertroffene Studie "Celan liest Benjamin" (1968), die einen kontradiktorischen Gestus in den Texten des Dichters aufspüren, der allen versöhnlichen und kompromissbereiten Formen gilt. Durch diesen Gestus wird, was der dritte Teil deutlich zeigt, in einer radikalen Infragestellung und Umschrift der intertextuellen Vorlagen "Dichtung wider Dichtung" konzipiert. Für Bollack dringt die Umschrift "in alle Texte ein, sie entscheidet darüber, was zu behalten ist und was man zu verwerfen hat. Nichts kann standhalten. Die gesamte Tradition ist ein Stoff für die Umschöpfung. Es ist nicht möglich, Celan in die Nähe eines zitierten oder auf andere Weise verwendeten oder auch nur zur Bereicherung seiner Sprache benützten Autors zu rücken, da er sich allen oder fast allen - mit Ausnahme von wenigen, vielleicht von Kafka - entgegensetzt. Seine Eingriffe beruhen auf einer Parteinahme".

Der sich daran anschließende vierte Teil widmet sich den in den Gedichten verzeichneten "Begegnungen", unter denen sich die bereits erwähnte mit Heidegger, aber auch die nicht minder interessante mit Ingeborg Bachmann befindet. Der fünfte und letzte Teil der Anthologie widmet sich dem Bestreben Celans, der großen Hymnik, den existenziellen Entwürfen und pontifikalen Grundmustern die Vorstellung einer reduzierten, reflexiven und parodistischen "Kleinkunst" entgegenzuhalten. Der Schlussessay "Celan und wir" schließlich fixiert den historischen Ort einer so radikal historisierenden Dichtung, indem er fragt, was aus ihrem Vergangenheitsbezug geworden ist. Resümierend führt Bollack aus: "Für uns, im Hinblick auf unsere eigene Situation in der Moderne, nimmt die Exteriorität, die Celan entworfen hat und die zu gestalten und zu tragen er die Kraft hatte, sicher eine Vorrangstellung ein. Sie hat es ihm erlaubt, in alle existierenden Gattungen der Prosa und der Poesie einzudringen, in alle Formen des Geschriebenen - und selbst des mündlichen Ausdrucks, der sich in ihnen äußert - ohne sich je bei irgendetwas aufzuhalten. Die Dualität gibt der Kritik ihre volle Macht; sie beruht auf der gewählten Außenposition und der Freiheit, von außen her zu sprechen. Die unmittelbare Zugehörigkeit und mit ihr alle Formen des Anschlusses an die Mythenwelt werden verbannt. Bleibt die Literatur. Alles ist literarisch; mit dem Begriff vereint sich eine strikte Literalität; sie transformiert die Natur des Werks".

Werner Wögerbauers Hoffnung, "manche Grundthesen Bollacks mögen heute auf weniger großen Widerstand stoßen als noch vor einigen Jahren", hat viel damit zu tun, die Grenzen zwischen den französischen und den deutschen Wissenschaftsdiskursen zu überwinden. So sei nach Wögerbauer die Übersetzung von Bollacks Studien mit der Bemühung verbunden gewesen, "einen Denkprozeß zu vermitteln, Einsicht zu geben in eine progressive Erschließung des Sinns, Einblick in ein hermeneutisches Atelier". Bedenkt man, dass Bollacks philologische Unternehmungen ja selbst aus produktiven Grenzgängen zwischen deutscher philologischer Tradition und französischer Literatur entstanden sind, so kann man in Zeiten, in denen den Literaturwissenschaft(ler)n nicht nur ihre Gegenstände, sondern - fast eklatanter noch - die Kernkompetenzen philologischer Arbeit und inspirierter Textinterpretation abhanden kommen, kaum etwas Besseres zur Lektüre empfehlen als die Bücher des großen, intellektuellen Philologen Jean Bollack.


Titelbild

Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur.
Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Werner Wögerbauer unter Mitwirkung von Barbara Heber-Schärer, Christoph König und Tim Trzaskalik.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
535 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3835300806

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