Die Erfindung des Ich
Jean-Claude Kaufmanns Theorie der Identität
Von Heidi-Melanie Maier
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJean-Claude Kaufmann ist einer der Wissenschaftler, die – wenn auch nicht selbst-definiert – den Kulturwissenschaften zuzurechnen sind. Sie erfreuen uns so mit mehr oder weniger gewichtigen Betrachtungsgegenständen unserer Alltagswelt. Vorteil dabei: die vermeintlich abgehobenen Beiträge der Geisteswissenschaften scheinen sich endlich einer praktischen Nutzbarkeit zu nähern. Nachteil: manchmal ist das eher Wissenschaft für Frauenzeitschriften.
So begegnet man in diversen Single-Foren der Lektüre-Empfehlung „Der Morgen danach. Wie eine Liebesgeschichte beginnt“ (2005). Oder man erfährt von Kaufmann, dass er bei seinen Forschungen zum Buch „Singlefrau und Märchenprinz – Über die Einsamkeit moderner Frauen“ (2002) tatsächlich entdeckt hat, dass manche Frauen so unglücklich sind, dass sie Selbstmord begehen wollen. Und über die Lektüre von immerhin nur 300 Interviews lässt sich nun endlich nachvollziehen, weshalb sich Frauen und Männer am Strand ausziehen – „Frauenkörper – Männerblicke. Soziologie des Oben-ohne“ (2. Auflage 2006).
Kaufmann ist auf den ersten Blick die Verwissenschaftlichung von „Chick-Lit“, „-Flick“ oder auch „Chicks‘ Night out“. Er bewegt sich dabei hauptsächlich auf dem Feld der „Grounded Theory“, dem Ansatz, der Theoreme möglichst nah an konkreten Fakten postulieren will. Sein übergreifendes Ziel dabei ist: „[…] eines Tages eine soziologische Theorie auf eine neue Weise zu schreiben, konkreter und von den Fakten ausgehend. […] Leider erweist sich die Umsetzung dieses herrlichen Programms in die Praxis als überaus schwierig. […] Die Begriffe bleiben an den Fakten kleben, sind auf ein schwaches Abstraktionsniveau beschränkt und unfähig, sich zu einem richtigen theoretischen Rahmen zu verknüpfen.“
Der vorliegende Band „Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität“ ist einer der Bausteine dieses Vorhabens. Ausgehend von seinem Buch „Der Morgen danach“ ging es Kaufmann um die Erforschung dessen, was nach einer Liebesnacht passiert: „Die soziale Konstruktion des Individuums“, kurzum Identitätsbildung.
Was aber ist Identität? Das mit sich selbst identische Subjekt? Die Gesamtheit von Außen und Innen einer Person? Zahlreiche Disziplinen mühen sich um eine verbindliche Begriffsbestimmung – und zwar seit Jahrzehnten. Und während die einen ihn für einen unverzichtbaren Begriff des theoretischen Diskurses halten, empfehlen die anderen, ob seiner verwirrenden Vielgestalt, seine Abschaffung. Kaufmann nähert sich dem Begriff „konservativ“: in seinem insgesamt drei Teile umfassenden Band beschäftigt er sich im ersten Abschnitt mit der Identität und ihrer Geschichte: Dabei beschränkt er sich im identitätstheoretisch reichen Feld der Philosophie auf „einige kurze philosophische Prolegomena“, die sich vor allem auf die französische Philosophie beziehen. Nach einem Verweil bei der Entstehung der „carte d‘identité“ springt er von Freud zu Erikson und Mead und konstatiert: „Plötzlich tauchen überall Identitäten auf“. Und in der Tat: der Identitätsbegriff war ab den 70er-Jahren en vogue in Philosophie und Soziologie. „Die Identitätssuche, die Identitätskrise, der Identitätsverlust stehen im Zentrum der Forschungen und Beschäftigungen unserer Zeit“, so Lévi-Strauss 1980.
In der Folge untersucht Kaufmann sehr schlüssig und nachvollziehbar das Erstarken des Identitätsbegriffes analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen ab 1700. Im Zentrum steht die historische Wende der Moderne: „Die neue Suche nach dem Ich ist ein Kennzeichen der Moderne und untrennbar mit der Sehnsucht nach der verlorenen ontologischen Sicherheit verknüpft. Die Welt der Intellektuellen und vor allem der Künstler ist am meisten von dieser tief greifenden Veränderung des Vertrauten betroffen. […] Für die große Masse der Bevölkerung auf dem Land ging das Leben weiter seinen gewohnten Gang, ohne dass das Individuum ihm einen neuen Sinn hätte verleihen müssen.“
Nach der historischen Einbettung folgt Kaufmanns eigene Theorie der Identität. Essenziell dabei: „Die Identität ist ein Prozess [sic!], der unlösbar mit der Individualisierung und der Moderne verbunden ist.“ Er untersucht in mehreren Unterkapiteln das, was Identität ist – und was nicht. Dabei betrachtet er zunächst zwei Gegensatzpaare: Identität als zutiefst subjektives Konstrukt im Widerstreit mit den objektiven, nicht beeinflussbaren äußeren Merkmalen. Subjektive und objektive Welt seien, so Kaufmann, tief ineinander verschachtelt – und keinesfalls so gegensätzlich wie es der erste Blick nahe lege. „Das Haupthindernis der identitären Kreativität ist weniger das, was Männern und Frauen biologisch unterschiedlich gegeben ist, als vielmehr die „Erfindung der Natur […], die Anstrengungen der Gesellschaft zur biologischen Kategorisierung der Geschlechteridentitäten. Paradoxerweise ist die Kategorisierung ein stärkerer Zwang als die Natur selbst.“ Identität und Reflexivität seien weiterhin gegenläufige Kräfte. Während Identitätskonstruktion damit ringt, Fakten zu schaffen und eindeutige Bilder zu kreieren, treibt die Reflexivität das Infragestellen genau dessen voran. Das moderne Individuum, so Kaufmann, sei „unrettbar gefangen zwischen dem Versuch, sich selbst zu verstehen und der Unmöglichkeit, die Fragen weiter voranzutreiben.“
Das Kapitel „Individuelle und kollektive Identitäten“ lässt sich vor allem mit dem Diktum Martin Bubers zusammenfassen: Der Mensch wird am Du zum Ich. Kollektive Identifizierungen seien vor allem Werkzeuge, aber auch Ressourcen für die eigene Identitätskonstruktion. Dabei überwiegt das Momentum des Stillstands. Kollektive Identitäten stellten sich als feste, dauerhafte, homogene Substanzen dar. Die Zuordnung dazu erweist sich als ungeheuer stabilisierend – und gleichzeitig als selbst erweiternd.
Im Kapitel „Biographische Identität und unmittelbare Identität“ folgt Kaufmann den Spuren Ricœurs: Die Erzählung von sich selbst sei keine reine Erfindung, sondern eine Übertragung der Realität in Erzählung, eine Verknüpfung von Ereignissen, ,,die es ermöglicht, sie zu lesen und dem Handeln Sinn zu verleihen.“ Wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, enthält dieses Diktum den Nukleus von Kaufmanns Identitätskonzeption. Identität ist weniger als Ergebnis narrativer Prozesse zu verstehen, denn als Handlungssystem. Der Mensch stehe permanent vor der Wahl zwischen konkurrierenden Vorstellungen von sich selbst. Diese manifestierten sich ganz konkret in Handlungsweisen, der alltäglichen Entscheidung für oder gegen das Handtücher-Bügeln oder das Geschirrwaschen. Und zweifelsfrei auch bei gewichtigeren Entscheidungen: für oder gegen einen Beruf, für oder gegen einen Partner. Der Mensch trifft die Entscheidung, die sich am besten mit seinem Selbstbild vereinbaren lässt. Kaufmanns Fazit: „Die Konstruktion der Identität kann als eine riesige Transaktion zwischen dem Selbst und den anderen verstanden werden. Jeder, auch der geringste Austausch wird durch ein Bild (ein Selbstbild oder ein Bild der anderen) gefiltert, das eine Schablone zur Ordnung, zur Reduktion und Festhalten von Informationen ist (ich bin dies, der ist jenes), verbunden mit einer emotionalen Dynamik, die Fakten aktivieren oder deaktivieren kann.“
Im dritten Abschnitt kümmert sich Kaufmann um die Auswirkungen dieses Identitätsbegriffs auf die Lesart gesellschaftlicher Phänomene, konkret: die soziale Frage. „Ebenso wie die Identität zum Filter wird, der das Handeln bestimmt, ist sie ein Filter, durch den die Erfahrungen der sozialen Herrschaft immer mehr wahrgenommen und erlebt werden.“ Drei mögliche Verhaltensweisen zur sozialen Situation vor dem Hintergrund der stärker thematisieren Identitätsfrage sieht er: das Aufbegehren (im Kapitel „Voice“), den Rückzug („Exit“) und das berechnende Arrangieren („Loyalty“).
Auch dadurch gestaltet sich die Monografie als nachvollziehbare und gut zu lesende Darstellung zum Begriff der Identität. Diese ist vor allem synchron gestaltet, was im Sinne der Geschlossenheit eines allzu offenen und vielschichtigen Betrachtungsgegenstands von Vorteil ist, aber bisweilen ein wenig zu kurz greift. Dennoch ist die Monografie als Grundlage zum Identitätsbegriff ein nutzbringender Beitrag – auch aufgrund der den Band abschließenden Bibliografie.
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