Geordnetes Chaos

Claude Simons Roman "Jardin des Plantes"

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Keiner entwirft einen bestimmten Lebensplan; wir legen ihn uns stückchenweise zurecht. [...] Wir bestehen alle aus Stücken; und diese sind so uneinheitlich zusammengefügt, dass jeder einzelne Bestandteil, zu jeder Zeit wieder anders, seine Rolle für sich spielt." Auch wenn dieses dem Roman vorangestellte Zitat von Montaigne als eine Art Vorbereitung auf das sich Anschließende zu verstehen sein könnte, muss der erste Leseeindruck für den mit Simon nicht Vertrauten verwirrend und vielleicht auch befremdlich sein. Der Leser wird mitten in einen Satz hineingeschleudert, der weder grammatisch noch gedanklich beendet wird. Diese Art zu Schreiben setzt sich auf mehr als dreihundertfünfzig Seiten fort: Grammatik und Interpunktion des Dudens sind außer Kraft gesetzt, mit Kommas oder finalen Satzzeichen wird äußerst sparsam umgegangen. Eine Vielzahl von Beschreibungen, die durch Einschübe und Abschweifungen unterbrochen oder durch die Anreicherung zahlreicher Details erweitert werden, fordern die volle Konzentration des Lesers.

Jegliche Formen linearen Erzählens sind im "Jardin des Plantes" aufgehoben. Erinnerungsfetzen, Filmsequenzen, Tagebuchnotizen, Zitate aus literarischen Werken oder aus Briefen werden aneinander montiert. Diese Puzzletechnik suggeriert dem Leser die Auflösung der Zeit, sie transportiert auf sprachlicher Ebene die Botschaft des Romans: die Geschichte dieses Jahrhunderts - chaotisch, verwirrend, inhuman, sinnentleert - ist nicht mehr mit herkömmlichen Mitteln erfassbar.

Simon simuliert die Gleichzeitigkeit der Ereignisse auch durch räumliche Nähe: der Eindruck der Simultaneität entsteht dadurch, dass weit auseinanderliegende Ereignisse in Spalten direkt nebeneinander liegen oder direkt und unvermittelt aneinander anschliessen. So stehen harmlose Alltagseinsprengsel neben Prozessberichten über einen sowjetischen Dichter und Erzählfetzen über das Leben eines jüdischen Malers, der das KZ überlebte und sich später das Leben nimmt; abrupte Sprünge in unterschiedlichste Richtungen, von Erlebnisberichten aus der Schulzeit des Autors zu Erzählungen von einer Kirgisienreise oder zu einem in bedeutungsvoller Monotonie immer wieder variierten Bericht über ein Kriegserlebnis im Zweiten Weltkrieg. Jener 17. Mai 1940 in Flandern, an dem fast das gesamte Kavallerieregiment von einer deutschen Panzerdivision niedergewalzt wird, und die anschließende Flucht der drei einzigen Überlebenden, in Todesangst vorbei an Leichen und Tierkadavern, die nur der junge Autor überleben wird, ist zentrales Thema nicht nur dieses Romans von Simon. Im "Jardin des Plantes" unternimmt "S." zahlreiche Anläufe, die Erlebnisse dieses Tages einem Reporter zu beschreiben. Der Versuch am Ende des Romans, die Szene aus 42 Blickwinkeln nachzustellen, muß scheitern, denn die Erfahrungen, die das Individuum in Extremsituationen macht, lassen sich nicht vermitteln. Jeder bleibt mit seiner Angst, in seiner Konfrontation mit Leere und Sinnlosigkeit allein.

Dieses Spätwerk des 85-jährigen steht, wie alle seine vorangehenden Werke, in der Tradition des Nouveau roman und dessen Abkehr von klassischen Erzählstrukturen. So finden sich im "Jardin des Plantes" verschiedene konturenlose Erzähler oder Erzählperspektiven. Der Autor springt in den Zeiten hin und her, von einem Teil des Erdballs zum anderen, von einer Assoziation zur nächsten.

Doch geht die simple literarische Kategorisierungen mit der Gleichung "Widerspiegelung einer chaotischen Welt in einem sich formal auflösenden literarischen Werk" für diesen Text nicht auf. Gerade das Gegenteil trifft zu, denn schon der Titel macht deutlich: Hier handelt es sich um ein geordnetes Chaos. So wie dem wilden Wachstum der Natur in der kunstvollen Parkanlage in der Nähe seines Pariser Wohnortes von Menschenhand Einhalt geboten wird, komponiert Simon ein nach ähnlichen Regeln funktionierendes sprachliches Kunstwerk und versucht auf diese Weise, dem Chaos entgegenzuwirken.

Titelbild

Claude Simon: Jardin des plantes.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
368 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 377014466X

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