Mnemosyne im Satellitenflug

Florian Illies' "Ortsgespräch"

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man konnte damit rechnen. Bereits in "Generation Golf 2" schreibt Florian Illies, dass die Generation Golf "fast mehr nostalgische Erinnerungen an eine Nussnougatcreme als an [ihren] Heimatort" habe. Dieses Defizit musste behoben und "Ortsgespräch" geschrieben werden. Florian Ilies, ehemaliger F.A.Z. und F.A.S.-Feuilletonist und nun Herausgeber der Kunstzeitschrift "Monopol", hat mit "Ortsgespräch" seine Erinnerungen an die Heimat vorgelegt. Konkret: Es geht um ein Dorf in der oberhessischen Provinz namens Schlitz, aus dem die Familie Illies stammt und wo eine stattliche Anzahl an Familienmitgliedern immer noch wohnt. Illies legt aber nicht nur seine Erinnerungen an seine Heimat vor, sondern vielmehr verknüpft er - wie schon in den Büchern über die Generation Golf - individuelle Erfahrungen mit fast schon soziologisch anmutenden Beobachtungen.

Darauf verweist schon der Titel. Denn schließlich ist "Ortsgespräch" eine fast schon vergessene Größe im seinerzeit noch sehr übersichtlichen Tarifangebot. Im Prinzip gab es nur: Orts-, Fern- und Auslandsgespräch. Mehr nicht. Und die magische Uhrzeit war 18.00 Uhr für Ortsgespräche und 21.00 Uhr für Ferngespräche. Der Titel ist also gleichzeitig eine Erinnerung an diese Zeit, - während man heute vor lauter City-, Mondschein- und Weekend-Tarif gar nicht mehr weiß, wann man wen am besten anrufen soll. "Ortsgespräch" funktioniert also als Ortsbestimmung und als Zeitpunkt in der Erinnerung.

Dort nimmt das Buch seinen Anfang. Der Schauplatz aber wird gleichsam medial überhöht, denn der Erzähler findet seinen Heimatort über das bekannte Google-Earth Programm, mit dem man sich Satellitenbilder seines Heimatorts anschauen kann. Man durchschreitet nicht mehr - wie weiland noch Simonides - das Haus der Erinnerung, sondern man überfliegt es und schaut sich die ganze Sache von oben an. Man taucht nicht mehr Madeleines in Lindenblütentee, sondern fliegt mit dem Auge des Satelliten. Natürlich markiert dieser Auftakt auch die fundamentale Differenz, die das Buch so lesenswert und für alle, die nicht mehr in der Gegend ihrer Jugend arbeiten oder leben, so unterhaltsam macht: die Differenz zwischen dem neuen Leben irgendwo und dem alten Leben in der Heimat.

Denn schließlich hat Ilies, wie jedes dynamische und flexible Mitglied seiner Generation, mit der Aufnahme des Studiums seinen Heimatort Schlitz verlassen, um nur noch zu den üblichen Anlässen - Familienfeiern, Abiturtreffen, Beerdigungen - in die Heimat zurückzukehren. Er hat nicht die Karriere beim "Schlitzer Boten" gesucht, sondern bei der F.A.Z. Das Buch lebt von der Konfrontation dieser zwei Welten: die Welt derjenigen, die in der Heimat geblieben oder nach Lehr- und Wanderjahren dorthin zurückgekehrt sind, und die Welt derjenigen, die ihre Heimat verlassen haben, um in der Fremde zu arbeiten und sich, wie man so sagt, ein "neues Leben" fern der Heimat aufzubauen. Es ist die Konfrontation zwischen Provinz und Metropole, zwischen der Gemeinschaft des Dorfs und anonymen Masse der Großstadt, die zur Konstellation des Buches wird und aus der es wesentlich seinen Unterhaltungswert bezieht.

Illies beschreibt die Provinz als "Entschleunigungs-Oase", eine Oase also, die sich der Beschleunigung unserer Lebenswelt widersetzt: keine E-Mail, kein Mobilfunk, keine SMS, fast keine Imbisse, kein Coffee-to-go. In der Provinz setzt man sich an den Tisch, um Kaffee zu trinken, führt Ortsgespräche und schreibt Briefe. Das ist natürlich alles so klischeehaft wie unterhaltsam, aber letztlich eine Konstruktion. In jedem Falle ist es für den Großstadtbewohner irritierend, wenn er solche "Entschleunigungs-Oasen" betritt oder, wenn er, gleichsam den umgekehrten Weg beschreitend, beruflich von der Großstadt in die Provinz zieht. Nur wenige können ermessen, was für eine Irritation es für den Städter darstellt, wenn er nach den ersten Tagen schon namentlich an der Bushaltestelle begrüßt wird und nach drei Wochen im lokalen Supermarkt anschreiben lassen kann.

Illies' Buch ist natürlich hellwach für die Verführung durch die Illusion, die Provinz sei eine heile Welt. Er inszeniert die Provinz nicht als solche, sondern als eine Art von Lupe, durch die man gesellschaftliche Veränderungen beobachten kann. Besonders schön gelingt dies, wenn Illies die ökonomischen Verhältnisse in Schlitz beschreibt. Hier, in der Provinz, kennen sich Produzent und Abnehmer noch, hier in der Provinz gibt es sie noch, die kleinen Läden. Natürlich mussten diese Läden auch auf die ein oder andere Weise der ökonomischen Entwicklung Tribut zollen. Herr Weller, Inhaber von "Frische Früchte" sagt, dass er den Salat teurer einkaufen müsse, als er im Supermarkt verkauft werde. "It's the economy, stupid", wie Bill Clinton wohl sagen würde. Aber anstatt die Grabesrede zu halten und die Auswirkungen der Globalisierung, die noch den kleinsten Fleck auf der Landkarte im Griff habe, zu beklagen, preist Illies die Innovationskraft der Provinzökonomie. Denn schließlich hat Herr Fegisch die Zeichen der Zeit erkannt, eine grundlegende Fähigkeit, die man mitbringen muss, um Unternehmen strategisch neu auszurichten. Er hat die Öffnungszeiten seines Ladens ganz an die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft angepasst. Man öffnet um 7.30 und verkauft Brötchen und Bild-Zeitung an die Bewohner des nahen Altenwohnheims und schließt um 11.00, wenn die Bewohner sich zum Mittagessen aufmachen. Das ist Kundenorientierung und Produktinnovation, das ist Servicementalität. McKinsey hätte in Schlitz nicht viel zu tun.

So oszilliert das Buch zwischen romantischen Sehnsuchtsbeschreibungen und journalistischem Realismus, zwischen dem Gefühl für die Heimat und dem Gefühl ihres Verlustes, zwischen Erinnerung an die eigene Herkunft und Gespür für die eigene Gegenwart. Es ist ein Buch, das, wie fast alle Bücher von Ilies, den Eindruck hinterlässt, das habe ich auch so erlebt, das passt auf so viele meiner Bekannten und Freunde. Und dieses Gefühl ist ja immer der Vorhof jener Erkenntnis, dass die Diagnose des Zeitgeistes, die das Buch vornimmt, stimmt. Sie passt und ist gut lesbar, sie unterhält und lässt einen an die Telefongespräche mit jenen Freunden denken, deren Nummern dreistellig waren. Und gleichzeitig denkt man daran, dass man diese schon lange nicht mehr angerufen hat, schreitet zum Telefon und führt wahrscheinlich kein "Ortsgespräch".


Titelbild

Florian Illies: Ortsgespräch.
Blessing Verlag, München 2006.
206 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-10: 3896672622

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch