Insel mit Brücken

Dorit Rabinyans Liebesgeschichte „Wir sehen uns am Meer“ muss an politischen Realitäten scheitern

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur einen einzigen Winter darf die Welt aus den Angeln sein – dann muss sie sich weiter drehen, muss wieder zurück in jenen Zustand, der so neutral Realität genannt wird. Eine Realität, die der Leidenschaft, dem Wagnis und dem Übermut zuweilen in zerstörerischer Kraft entgegentreten kann. Im Fall von Wir sehen uns am Meer, dem dritten Roman der jungen hebräischen Schriftstellerin Dorit Rabinyan, ist dieser Übermut die leidenschaftliche Liebe zwischen Liat und Chilmi. Sie ist – wie man sich bereits denken kann – eine verbotene Liebe, eine, die nur jenseits von Realität bestehen könnte. Denn Liat ist Israelin und Chilmi Palästinenser. Über den ganzen Roman hinweg bleiben dies die einzig entscheidenden Charakteristika für beide Personen. Der politische Konflikt zwischen beiden Staaten mag hinter ihrer Leidenschaft zurücktreten, gänzlich verschwunden ist er jedoch nie.

Der Ort, der die utopische Liebe zwischen Liat und Chilmi überhaupt erst ermöglicht, ist New York. Es ist kein Zufall, dass die insularische Lage der Stadt zwischen East River und Hudson River im Roman immer wieder herausgestellt wird, dass die Spaziergänge des jungen Paars sie immer wieder ans Wasser führen. Wie keine andere Stadt steht New York für eine Insel in Zeiten, deren Landkarten keine weißen Flecken mehr kennen. New York, das ist keine Stadt, das ist ein „State of Mind“, ein Lebensentwurf. Allerdings nur ein sehr begrenzter, denn anders als im derzeit gefeierten New-York-Roman Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara bildet die Stadt in Rabinyans Buch keine vom Weltgeschehen abgegrenzte Sphäre, sondern wird wie über ihre berühmten Brücken von der Außenwelt beständig eingeholt. Das muss Liat, aus deren Perspektive wir den Roman lesen, immer wieder schmerzhaft erfahren. Sie ist es, die der Beziehung eine zeitliche und räumliche Grenze setzt: Außerhalb der Insel, dem Winter in New York, darf Chilmi nicht existieren. Sie tut deshalb alles dafür, dass ihr Liebhaber während des wöchentlichen Telefongesprächs mit den Eltern „aus ihrem Leben verschwindet“, dass keiner der zahlreichen israelischen Expats in ihrem New Yorker Umkreis von ihm erfährt. Und sie setzt der Beziehung ein Verfallsdatum: den 20. Mai, Tag ihres Abflugs und ihrer Rückkehr nach Tel Aviv.

Die Spannung, die eine solche Beziehung mit rückwärts tickender Uhr auf den Plan ruft, wird von der Autorin mit großer Präzision zur Sprache gebracht. Nie wird zwischen Liat und Chilmi ein Normalzustand erreicht, immer sind heftige Emotionen im Spiel. Das tut dem Roman gut, scheinen doch Alltagsdialoge nicht unbedingt die Stärke der Autorin zu sein: Spröde Phrasen wie „Lass gut sein“ oder „Was du nicht sagst“ – so reden Mittzwanziger nicht wirklich, auch nicht Anfang der 2000er-Jahre in New York.

Die politische Lage in Israel, auf deren Aporien alle Widrigkeiten zwischen Liat und Chilmi gründen, ist eine andere Realitätsbrücke auf die utopische Insel der Liebenden. Liat, die selbst zwei Jahre in der israelischen Armee gedient hat, findet sich gegenüber Chilmi plötzlich in der Rolle der Verteidigerin israelischer Politik wieder. Auf seine Anschuldigungen reagiert sie mit Sätzen, die ihr selbst einst ihre Eltern entgegneten. Das „lächerliche patriotische Pathos“, das sie in solchen Momenten überkommt, ist ein ohnmächtiger Schutzmechanismus in einer Frage, die keine richtigen Antworten kennt. Ganz nebenbei wird – und das ist auch für europäische Ohren interessant – aus israelischer Sicht verdeutlicht, wie utopisch eine Zwei-Staaten-Lösung mittlerweile geworden ist. Ironisch gebrochen wird diese politische Aussage dadurch, dass Liat selbst eine solche Lösung gegenüber Chilmi vertritt, während der darüber nur müde lächeln kann: „Das Land, um das es geht, ist ein und dasselbe“, es lässt sich überhaupt nicht gerecht aufteilen.

Dieser unlösbare Konflikt wird in jenem New Yorker Winter in Liats und Chilmis Beziehung repetiert. Liebe mag zwar dadurch größer werden, dass man sie teilt, sie lässt sich aber nicht mit einem Haltbarkeitsdatum versehen – auch ihr geht es ums Ganze. Und so kann eine solche Geschichte nur tragisch enden, will sie nicht in den Kitsch abrutschen. Dorit Rabinyan gelingt ein Ende, das bei aller Vorhersehbarkeit überrascht. Ihr ist mit Wir sehen uns am Meer eine kleine, in ihrer Tragik schöne und vom Kitsch freie Erzählung gelungen, bei der man vermuten darf, dass sie ein biografisches Vorbild hatte. Allein die Widmung gibt dieser Vermutung einen Anlass, auch hier ist kein Wort zuviel: Ein weiterer Beleg dafür, dass Dorit Rabinyan eine Schriftstellerin ist, die ihr Handwerk versteht.

Titelbild

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Helene Seidler.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
379 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048612

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