Der vagabundierende Blick

Joachim Radkau überprüft deutsche Zukunftsvisionen an der Wirklichkeit

Von Wolfgang KrohnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Krohn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das zentrale Interesse des Bielefelder Historikers Joachim Radkau gilt der „Zukunftsgeschichtsschreibung“, also der Dokumentation und Interpretation der wissenschaftlichen und essayistischen Anstrengungen in der jeweiligen Gegenwart, Auskunft über die Zukunft zu geben. Diese Anstrengungen sind verschieden motiviert: Die antizipierten Prognosen lassen das Unvermeidliche vorhersagen und so die Anpassungsprozesse erleichtern, Szenarien dienen der konkreten Ausmalung möglicher Zukünfte, Planungen der Umsetzung; (apokalyptische) Warnungen sollen Kräfte gegen Fehlentwicklungen oder Katastrophen mobilisieren; Utopien wecken Erwartungen auf umfassende Verbesserungen. Die Quellentexte stammen dabei nicht aus der Feder distanzierter Analytiker, sondern überwiegend von Zeitgenossen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, die häufig auch praktisch tätig oder als engagierte Intellektuelle bekannt waren. Der Zeitrahmen ist abgesteckt durch die deutsche Nachkriegsgeschichte und erstreckt sich bis in die Gegenwart.

Einige der Themen knüpfen an die großen utopischen Entwürfe der Vergangenheit an; so, wenn es um Kapitalismus versus Sozialismus im Zusammenhang mit dem Ost-West Konflikt geht, oder wenn der Gegensatz zwischen Technokratie und Demokratie ins Spiel kommt. Andere haben das Potential für neue gesellschaftspolitische Visionen wie etwa das globale Umweltthema. Aber, und das macht den Charme des Buches aus, es geht Radkau nicht in erster Linie um die großspurigen Utopien, sondern um die bei allen gesellschaftlich relevanten Themen mitlaufende Projektion der Zukunft als ein normal gewordenen Teil der Gegenwart. Diese Gegenwärtigkeit der Zukunft durch Vorhersage, Warnung und Planung ist nicht fiktional, sondern manifestiert sich in Einstellungen, Hoffnungen, Befürchtungen und Handlungssträngen, die jeweils mehr oder weniger große Wirkungen erzeugen. Zukunftserwartungen und -befürchtungen bringen die Gegenwart zum Ticken; sie ist auf das Begreifen ihrer zukünftigen Veränderung angelegt.

Radkau ist allerdings nicht von dem philosophischen Impuls getrieben, diese durch die permanente Modernisierung der Gesellschaft veränderte Zeitlichkeit begrifflich zu erfassen. Das Buch zieht seine Kraft aus der Diskrepanz zwischen den Erwartungen und den tatsächlichen Entwicklungen. Über weite Passagen ist es irgendwie lustig zu beobachten, wie die Hellseher und Planungskünstler daneben lagen. Der Beobachter, der aus der zur Gegenwart gewordenen Zukunft auf die Zukunftserwartungen der Vergangenheit zurückblickt, ist in der komfortablen Position des Besserwissers ohne eigenes Verdienst. Radkau macht davon ausführlich, genussvoll und hämisch Gebrauch, auch wenn er sich immer wieder selbst ermahnt und zur methodischen Ordnung ruft. Er tadelt das „billige Vergnügen an der Besserwisserei aus der Retrospektive“ und verwarnt sich selbst: „Geschichte nur deshalb zu betreiben, um sich über Menschen früherer Zeiten zu mokieren, ist ein allzu billiges Vergnügen“. Obschon er dieses Vergnügen von Kapitel zu Kapitel sichtlich genießt, wäre es zu billig zu sagen, dass es ihm genüge. Er zielt durchaus darauf ab, aus dem vielfältigen Scheitern der Zukunftsgeschäftigkeit Gewinn für einen verantwortlichen Umgang mit der Zukunft zu ziehen. „Der Sinn einer kritischen Geschichte der Zukunftserwartungen besteht nicht zuletzt darin, auf aktuelle Defizite der futuristischen Phantasie hinzuweisen“. Aber spätestens hier zahlt sich seine Theorieaversion schlecht aus – der Gewinn bleibt aus. Dazu später.

Thematisch gliedert sich das Buch in 12 Kapitel, die um einzelne Schwerpunkte kreisen, auch wenn der Autor sich viele Freiheiten für assoziative Ausflüge nimmt. Das erste Kapitel beginnt mit dem „Überraschungseffekt des Wirtschaftswunders“, der von keiner Wiederaufbauprognose vorhergesehen war. Das zweite Kapitel beobachtet Zukunftsszenarien zur Landwirtschaft im Spannungsfeld zwischen Ökonomisierung und Naturschutz. Hier pocht das Herz des Autors laut mit, wenn er bedauert, „dass sich die Synthese von Landwirtschaft und Naturschutz noch zu keiner populären Zukunftsvision kristallisiert hat.“ Es folgen Verweise auf exemplarische Modelle wie das Ökodorf Brodowin bei Berlin oder die Hermannsdorfer Landwerkstätten des Unternehmers Schweisfurth. Ein methodisch eingestellter Leser mag an dieser und ähnlichen Stellen verwundert fragen, wie hier nun der Grundgedanke des Buches, Zukunftsvisionen mit tatsächlichen Entwicklungen abzugleichen, durchgehalten werden kann. Die Antwort ist wohl: Radkau ist es wichtig, dass Visionen häufig eine Verankerung in gegenwärtigen Modellen haben. Dies nennt er ganz am Ende des Buches die „Verwurzelung der Zukunftsentwürfe im Hier und Jetzt“. Das dritte Kapitel befasst sich mit Automatisierung und Robotik; es ist ein Feld, das einerseits wegen der Weltraumvisionen (,Sputnikschock‘), andererseits wegen der großen Drohungen für den Arbeitsmarkt höchste Aufmerksamkeit in der professionellen Zukunftsforschung genoss, was aber nicht verhinderte, dass wenig an der tatsächlichen Entwicklung (Miniaturisierung, exponentielle Steigerung der Speicherleistung einerseits, vorläufige Aufgabe der Mondbesiedlung andererseits) vorhersehbar war. Allerdings räumt Radkau am Ende des Kapitels ein, dass es der empirischen Arbeitssoziologie ziemlich gut gelungen ist, den sich anbahnenden Zusammenhang zwischen Automatisierung und zunehmender Flexibilisierung frühzeitig zu erkennen (die Kern/Schumann-Studien von 1970 und 1984) sowie die zukünftige Entwicklung der deutschen Industrie vorzuzeichnen. Ein Beleg dafür, dass Zukunftsperspektiven sich aus sorgfältiger Analyse ergeben können – oder vielleicht doch ein Zufallstreffer? Dies bleibt offen. Das vierte Kapitel verfolgt den „Zickzack“ der deutschen Atomwirtschaft von der Euphorie der 1950er Jahre bis zum „Atomausstieg“ mit dem langen Zwischenstück der Anti-AKW-Proteste und dem Tschernobyl-Unfall. Noch heute wird in die Zukunftsvision des Fusionsreaktors gedanklich und faktisch investiert, aber auch in die ungelöste Entsorgung radioaktiver Abfälle. Das Kapitel ist extrem gut aufbereitet, verweist auf viele kaum bekannte Archivalien und erzählt Anekdoten, die ungewöhnliche Einblicke in das vergangene Zukunftsdenken zu Beginn des „Atomzeitalters“ bieten. Radkau ist genauer Kenner dieser Entwicklung, der er eine ausgezeichnete Monographie gewidmet hat. (Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft, 1983). Das fünfte Kapitel widmet sich dem Doppelthema Tourismus und Heimat, von dem man zunächst nicht weiß, warum es in diesem Band untergebracht ist. Radkau verliert es auch schnell aus den Augen, befasst sich mit den Sehnsüchten früherer Epochen und der zelebrierten Heimatliebe der Vertriebenen und schimpft auf die Vertreter der gegenwärtigen Multikulti-Positionen im eigenen Land. Da spricht ein Parteigänger, aber kein Historiker der Zukunftsvisionen. Immerhin rekonstruiert Radkau am Multikulti-Thema, wie sich im Zusammenhang gegenwärtiger Zuwanderungen Zukunftsvorstellungen formen. Spannend ist das sechste Kapitel, in dem es um Visionen des Bildungssystems geht, beginnend mit Georg Pichts Alarmruf zur „Bildungskatastrophe“ (1964) bis hin zum PISA-Schock und zur Bologna-Reform. Radkau wandelt sich auch hier vom Beobachter zum Mitspieler und wirft Picht vor, einen Alarmismus in Gang gesetzt zu haben, der zu einer Akademikerschwemme geführt hat, die heute die Universitäten überflutet. Picht und seine akademischen Freunde vom Bildungsforscher Hellmut Becker bis zum Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker hätten verkannt, wie sehr die Stärke der deutschen Industrie in handwerklicher Technik verankert sei, weil sie Technik vor allem als angewandte Wissenschaft verstanden hätten; ein ähnlicher Vorwurf wird in jüngster Zeit, wie Radkau zustimmend registriert, von Nida-Rümelin (Der Akademisierungswahn, 2015) erhoben. Das Kapitel belegt eine breitflächige Auseinandersetzung über Notwendigkeit versus Irrweg der Höherqualifikation in der schulischen Ausbildung, in die Radkau auch Karl Steinbuch mit dem Bestseller Falsch programmiert (1968), einem polemischen Plädoyer für eine technologisch modernisierte Ausbildung, einbezieht. Steinbuch wird wegen seiner Polemik abgefertigt, ohne dass dabei eine Querverbindung zu den heute überall präsenten Offensiven zur Stärkung der MINT-Fächer gezogen wird. Während Radkau mit PISA einigermaßen höflich umgeht, wird die Bologna-Reform in Grund und Boden verdammt. Wohlfeile hämische Urteile wie von Dieter Lenzen: „beispiellose und desaströse Umformung der deutschen Universitätslandschaft“ werden zustimmend zitiert. Tatsächlich durchgeführte Evaluationen und Anpassungsstrategien kommen nicht zur Sprache. Was belegt dieses Kapitel? In erster Linie, dass es seit den 1960er Jahren einen intensiven und kontroversen Diskurs über die Zukunft des Bildungswesens gegeben hat, der bis heute in die Umgestaltung eingreift. Das siebte Kapitel konzentriert sich auf Bemühungen, der Zukunftsprognostik und Langfristplanung ein wissenschaftliches Fundament und methodologische Absicherung zu geben. Da stellt sich die Frage nach der Diskrepanz zwischen den Erwartungen an eine solche „Futorologie“ und ihren mit der tatsächlichen Entwicklung abgeglichenen Leistungen besonders scharf. Die Vermutung geht nicht fehl, dass Radkau mit besonderer Süffisanz die Fehlleistungen herausstellt und den Versuch einer systematisierten und methodisch verfahrenden Prognosetechnik in Bausch und Bogen ablehnt. Sein Ideal „ist ein vagabundierender Blick […], um von möglichen Überraschungen und Synergieeffekten der Zukunft eine Ahnung zu bekommen“. Ob dann eine solche Ahnung viel weiter reicht als zu einem Bekenntnis, ‚keine Ahnung‘ zu haben, mag man bezweifeln. Aufschlussreich ist das achte Kapitel, das sich schwerpunktmäßig mit den Zukunftsvisionen befasst, die in der DDR für die DDR entwickelt wurden. Sie haben deswegen eine besondere Bedeutung, weil hier ja vom ideologischen Grundverständnis her Prognose und Planung in nur einer Hand lagen, von einer großen Rahmenerzählung unterfüttert wurden und damit eine Rationalität versprachen, die dem westlichen Pluralismus fremd war. Noch wichtiger war es, dass das Leben mit den Mängeln des real existierenden Sozialismus durch eine, wie Radkau treffend betitelt, „Zukunftsmusik als Dauersound“ in Stimmung gebracht werden sollte. Andererseits bekamen genau dadurch die Dissidenten, die sich dieser von Enttäuschungen überlagerten Engführung von Planung und Prognose in den Weg stellten, eine besonders markante Position. Nebenbei bemerkt ist natürlich auch die Wiedervereinigung eins der großen Debakel der Zukunftsforschung: je näher sie kam, desto weniger wurde sie für wahrscheinlich gehalten. Radkau geht darauf allerdings stärker in dem nächsten, neunten Kapitel ein, das reichhaltiges Material zu vielen Themen wie Dauerarbeitslosigkeit, Automatisierung, Angst vor dem Atomkrieg, Waldsterben, Tschernobyl und dessen Folgen, Klimawandel anhäuft. Struktur und Funktion des Kapitels bleiben unklar, aber der Unterhaltungswert ist hoch. Ähnlich durcheinander gibt sich das zehnte Kapitel, dessen Schwerpunkt vielleicht in den Europa-Visionen ausgemacht werden kann, die durch einerseits Einführung des Euro und andererseits den Beitritt von Ländern unterschiedlicher Wirtschaftsleistung und politischer Traditionen bestimmt sind. Das Kapitel heißt kaum verständlich „Ein Zickzack deutscher Zukünfte vor der offenen Zukunft“. Es werden einige illustre Namen vorgestellt, die nach der Wiedervereinigung mit überwiegend pessimistischen Prognosen den Diskurs belebten, unter ihnen Arnulf Baring, Herbert Gruhl, Christian Graf von Krockow, Hans-Werner Sinn und mitten drin die berühmte ,Ruck-Rede‘ des Bundespräsidenten Roman Herzog. Radkau lässt über plastische Zitate den Zeitgeist lebendig werden (Ist Deutschland noch zu retten? – war 2003 der Buchtitel Sinns, der in beeindruckenden Widerspruch zu dem 2005 einsetzenden Aufschwung der Exportindustrie stand). Das bei Radkau fast zum analytischen Begriff avancierte Wort „Zickzack“ steht auch im Titel des 11. Kapitels, das sich den Zukünften der Industriearbeit widmet und vor allem um die Initiative „Industrie 4.0“ kreist. Es ist nachvollziehbar, dass Radkau, je näher das behandelte Thema der aktuellen Gegenwart rückt, umso weniger mit seinem zentralen Thema, der Differenz von Erwartung und Erfüllung, anfangen kann. Bei der Zukunft von 4.0 muss er mitraten. Das letzte thematische Kapitel ist dem persönlichen Anliegen des Autors gewidmet: der Bewältigung der Umweltprobleme. Er nimmt es daher auch zum Anlass, die Frage aufzuwerfen, „welche Lehren sich der Geschichte der Zukunftserwartungen für künftige Szenarien entnehmen lassen“. Wo und wie er zu Antworten kommt, ist nicht genau zu ermitteln. Eine Abschnittüberschrift spricht vom „achtsamen Umgang mit dem Apokalypse- und dem Utopieverdacht“, aber da erfährt man am Ende nichts weiter als „dass die Geschichte Überraschungen bietet“. Als Beleg dient der anekdotische Hinweis, dass der Philosoph Hans Jonas 1979 es für utopisch hielt, den Energiebedarf mit Sonnenenergie zu decken, dafür aber an die Zukunftschancen des Fusionsreaktors glaubte. Radkau führt dann dem Leser das mehr oder weniger gegenwartsnahe Herumstochern in energietechnischen Alternativen vor (Wasserstofftechnologie, Solarstrom aus der Sahara, Photovoltaik, Biosprit, Windkraft) und deren Konfliktpotential mit Wirtschaftlichkeit, Naturschutz und Landschaftsschutz. Am Ende folgt noch ein Hinweis auf das nicht weniger basale Umweltproblem der Ressourcenschonung und die utopische Aussicht, durch Perfektionierung der Stoffstromkreisläufe zu einer durchgängigen Wiederverwertungsökonomie zu gelangen. Und dann ist Schluss.

Nein, nicht ganz. Es folgen im Kapitel zwölf noch 10 Thesen, von denen aber gleich zu Beginn gesagt wird, dass sie in verschiedene Richtungen gehen und in Spannungen zueinander stehen. Denn „je mehr man sich mit all den Zukünften herumschlägt, desto mehr ist man hin- und hergerissen.“ Ginge es um diese Thesen, müsste man einräumen, dass sich der Aufwand, sich durch die Kapitel zu arbeiten, nicht gelohnt hat. Es sind schlicht und einfach Trivialitäten wie die „Offenheit großer Fragen“ nicht zu verleugnen, offen für Diskussion zu sein, Prämissen zu überprüfen, nicht auf Wunschdenken hereinzufallen, Zukunftsentwürfe im Hier und Jetzt zu verankern – wer wollte wiedersprechen oder gar bekennen, dass er sich erst nach dem ausführlichen Studium der Zukunftsgeschichte dazu durchgerungen habe, diese Grundsätze für richtig zu halten? Weitere Thesen empfehlen warnend, mit apokalyptischen und utopischen Visionen vorsichtig umzugehen, weil sich die damit verbundenen Bewertungen ändern können, aber dennoch solche Visionen zu begrüßen, weil sie Sehnsüchte befriedigen und Ängste bewältigen können.

Ratlos steht man am Ende da, zusammen mit einem mehr oder weniger ratlosen Autor – und das ist dann wohl das pädagogische Ziel der Übung. Die Geschichte, oder genauer der Geschichtswissenschaftler Radkau, lehrt: Viel und noch viel mehr wollte man in Deutschlands Osten und Westen seit den Staatsgründungen über die Zukunft wissen, aber nichts Genaues und noch weniger Zutreffendes kam dabei heraus. Einige Autoren hatten mehr Glück als andere, aber das lag offenbar nicht an ihrem Gespür oder ihrer Methodik; denn bei unterschiedlichen oder gar widersprüchlichen Vorhersagen werden rein zufällig einige zutreffender sein als andere. Das Buch ist also eine umfassende und detailgespickte Übung in Skepsis. Jedoch – das ist nur die halbe Übung. Denn die vielen Episoden sollen auch vermitteln, wie ganz unvermeidlich das gegenwärtige Handeln, jedenfalls das verantwortliche politische Handeln (darum geht es in erster Linie in fast allen Kapiteln) aber auch das persönliche Handeln daran gebunden sind, Rechenschaft über die erwartbaren (wünschbaren oder abzuwendenden) Zukünfte abzulegen und den eigenen Beitrag daran auszurichten. Aus der Skepsis eine Bereitschaft zur Ignoranz oder Empfehlung des Nicht-Bemühens abzuleiten, wäre der Moral des Buches entgegengesetzt. Wie sei aber dies beides – Skepsis an der und Verpflichtung auf die Zukunftsprojektion – zur Deckung zu bringen? Ob da der „vagabundierende Blick“ ausreicht? Oder ob doch ein methodisches Vorgehen zu erarbeiten wäre, das die Kontingenz der Ereignisse, die Komplexität der Strukturen, die Rekursivität von Planung und Prognose aufzunehmen in der Lage wäre?

Noch einige abschließende Bemerkungen zur wissenschaftlichen Einordnung des Buches. Es ist zunächst einmal das Werk eines Vollbluthistorikers, dessen Leidenschaften dem Sammeln von Dokumenten, Aufdecken von Unter- und Hintergründen ihrer Entstehung, den beiläufigen Anekdoten und versteckten Widersprüchen – kurz: der buntscheckigen Vielfalt des Gewesenen gelten. Es macht einen Riesenspaß in diesem wenig geordneten Textmuseum herumzuspazieren, die eigenen Erinnerungsfetzen damit abzugleichen, die verqueren und vergessenen Überzeugungen aus den vergangenen Jahrzehnten verwundert zur Kenntnis zu nehmen und zu erfahren, wie vieles davon später glattgebügelt wurde. Man kommt aus dem Staunen darüber, was da so alles gedanklich ausgeheckt und im Brustton des überzeugten Wissens veröffentlicht wurde, gar nicht heraus. Das allein lohnt die Lektüre.

Dennoch kann man einige kritische Anmerkungen machen. So fällt auf, dass Radkau praktisch keine Unterschiede zwischen den von ihm herangezogenen Textsorten macht. Alles, was sich mit Rang und Namen zur Zukunft geäußert hat, ist gleich willkommen und gleichwertig: Zeitungsartikel, essayistische Bücher, Reden, methodisch aufgebaute Analysen, Pamphlete. Auch Allensbach-Umfragen genießen unhinterfragte Glaubwürdigkeit. Dazu passt, dass Radkau ganz selten auf Argumentationen, Begründungen, Belege eingeht. Es genügen ihm durchgängig die geäußerten Meinungen. Seine Hauptfrage ist immer dieselbe: Trafen diese im Lichte der späteren Entwicklung zu oder nicht? Nehmen wir einmal an, es ginge statt um Zukünfte um Szenarien des Vergangenen. Würde da der Historiker dann auch alle verfügbaren Textsorten unterschiedslos für gleich erachten und in einen Topf werfen?

Eine zweite Anmerkung betrifft die unterentwickelte Arbeit mit theoretischen Begriffen. Man sieht es einem Historiker ja nach, dass ihm dazu die Neigung fehlt. Aber ob der von Radkau immer wieder herangezogene und ursprünglich von dem Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski eingeführte Begriff des „Zickzack“ große analytische Dienste leistet, ist doch zu bezweifeln. Denn erstens ist bei Kuczynski der unterlegte Rahmen für die Richtungsänderungen von Zick auf Zack und dann wieder auf Zick das marxistische Grundgerüst der historischen Richtungsbestimmtheit; ein Äquivalent dafür gibt es bei Radkau nicht. Im Gegenteil geht er sehr sparsam und zurückhaltend mit dem Begriff des Fortschritts um. Und zweitens gibt es bei Radkau keine Indikatoren für die Verwendung des Zickzack-Begriffs. (Man könnte ja beispielsweise behaupten, dass durch die Wiedervereinigung der Prozess der Teilung Deutschlands nun erstmal in ein Zack geraten ist…) Ein zweiter Lieblingsbegriff von Radkau ist der der Synergie, der bei ihm das unvorhergesehene Zusammenwirken unterschiedlicher Entwicklungslinien erfassen soll. Synergien setzen zusätzliche Schubkräfte frei, aber was das für historiographische Größen sind, bleibt offen. Verwandt damit ist ein dritter Begriff, dem so etwas wie theoretische Qualität anhaften könnte: die Überraschung. Natürlich ist die Aussage, dass die Zukunft voller Überraschungen stecke, alles andere als überraschend. Aber sie gewinnt durch Radkaus Analysen doch einen etwas genaueren Sinn. Denn die Arbeit an der Zukunft durch Prognosen, Szenarien, Planungen und Warnungen dient ja zunächst und vor allem dazu, durch Antizipation vor Überraschungen zu schützen. Genau dadurch verstellen diese jedoch den Blick auf das Unerwartete. Überraschungsoffenheit ist eine besondere Sensibilität für ‚unerwartete‘ Überraschungen. Es ist diejenige Tugend, die Radkau erzeugen möchte. Sie ergibt sich, wenn wir erstens anerkennen, dass in allen Bereichen des gesellschaftlichen Handelns ständig die Erwartungen an die Zukunft thematisiert und in Handlungsstränge transformiert werden, und zweitens beobachten, dass sich das Erwartete nicht einstellt. Dann wird die Reduktion der Überraschungen durch Prognose und Planung überlagert durch die Steigerung der Überraschungsoffenheit. Das ist ein ebenso komplizierter wie zukunftsweisender Ertrag dieses reichhaltigen Buches.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute.
Carl Hanser Verlag, München 2017.
544 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783446254633

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