Die amerikanische Leïla Slimani

In Kiley Reids Debütroman „Such a Fun Age“ bietet eine schlagfertige Babysitterin Scheinheiligkeit und weißen Privilegien die Stirn

Von Charlotte NeuhaussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Neuhauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist fast elf Uhr an einem Samstagabend, als Emira Tucker einen Anruf ihrer Arbeitgeberin erhält. Mrs. Chamberlain, deren Tochter sie mehrmals die Woche hütet, bittet sie aufgrund eines Notfalls, eine Nachtschicht einzulegen. Die verlässliche Emira zieht in High Heels los und nimmt Tochter Briar in das nahegelegene Market Depot mit – nur um dort von einem Wachmann aufgegabelt zu werden, der glaubt, einer Kidnapperin gegenüberzustehen. Aufgelöst und zornig ruft Emira Mr. Chamberlain an: „Er ist ein alter weißer Mann, das wird hier sicher alle beruhigen.“ Und tatsächlich, Mr Chamberlain kann die Wogen glätten. Emira hingegen stürzt aus dem Supermarkt und weiß: Sie braucht einen neuen Job.

Kaum hat man die ersten Seiten des Romans Such a Fun Age gebannt hinter sich gebracht – verfasst von der Amerikanerin Kiley Read und diesen April auf Deutsch bei Ullstein erschienen – drängt sich ein Vergleich auf. Eine Babysitterin, die die Nase voll hat, die Care-Arbeit für privilegierte Leute zu verrichten? Das kommt einem bekannt vor, hat der ein oder andere doch immer noch die bestürzenden Szenen aus Leïla Slimanis Roman Dann schlaf auch du in Erinnerung. Tatsächlich nannte Read ihre Schriftstellerkollegin in einem Interview als inspirierendes Vorbild. Entsprechend verwebt auch sie die Geschichte einer Babysitterin mit den Themen Klassismus und grenzwertiger emotionaler Sorgearbeit. Und doch tut sie es auf ganz andere Weise, und zwar nicht nur, indem sie Rassismus als weitere Variable ergänzt.

Während Slimanis Roman ernste, fast existenzialistische Züge trägt, sprüht Reids Text vor Witz und Schlagfertigkeit, was sich als nicht weniger effektvoll erweist. Zwischen Mitleid und Unverständnis hin- und hergerissen, verfolgt der Leser, wie Mrs. Chamberlain, erschrocken über die Geschehnisse im Market Depot sowie den Fakt, wie wenig sie eigentlich über ihre Babysitterin weiß, Emira nun allabendlich ein Glas Wein einschenkt und sie über ihr Leben ausfragt. Ihrer beider Alltag, so liegt auf der Hand, könnte unterschiedlicher nicht sein, denn während Emira ständig pleite ist und in einer winzigen, schäbigen Wohnung hoch oben in einem Haus ohne Fahrstuhl haust, bekommt Alix Chamberlain schon seit Studentenjahren (Luxus-)Produkte hinterhergeschmissen, die sie auf ihrem erfolgreichen Blog bewertet. Nach einigen klugen Schachzügen wächst sich dieser zu der Marke #LetHerSpeak aus, einem Sprachrohr für „Frauen, die sich Gehör verschaffen“.

Trotz dieser lobenswerten Unternehmensphilosophie gelingt es Alix Chamberlain nicht, den Frauen in ihrem nächsten Umfeld Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht nur tritt ihre Distanz gegenüber der redseligen, fordernden Tochter Briar immer deutlicher zutage, sie verstrickt sich auch in ein immer größeres Lügengeflecht und trägt ihre eigenen Bedürfnisse und Verletzungen auf Emiras Rücken aus. Zuletzt postet sie gar das Video, das Emiras Aufeinanderprallen mit dem Wachmann im Market Depot zeigt – entgegen Emiras ausdrücklichem Wunsch. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein: Die gesellschaftlich privilegierte Geschäftsfrau zerrt ihre Babysitterin ungewollt in die Öffentlichkeit und bietet ihr als Entschädigung den ersehnten Vollzeitjob inklusive Versicherung. Aber sie hat nicht mit Emira gerechnet, denn die hat anderes vor. Emira spricht für sich selbst, und zwar selbstbewusst und vor laufender Kamera. Im Gegensatz zu Slimanis gebeutelter Babysitterin schafft sie es, die Fesseln zu sprengen und den Weg in eine ungewisse, aber selbstbestimmte Zukunft anzutreten.

Am Ende wird es dann doch noch erschreckend ernst, als Emira sich fragt, ob Briar jemals zu einem eigenständigen Menschen heranwachsen wird. „Sollte Briar je auf der Suche nach sich selbst sein, würde sie vermutlich einfach jemanden dafür einstellen.“ Es ist ein krachender letzter Satz, eine konzentrierte Gesellschaftskritik, die den Leser ins Mark trifft – und das fast nebenbei, nachdem Reid den Ernst der Thematik die meiste Zeit nur hin und wieder zwischen den Zeilen einer klugen, rasant erzählten Geschichte hervorblitzen ließ. Kein Wunder, dass es Such a Fun Age prompt auf die New-York-Times-Bestsellerliste schaffte und für den Booker Prize nominiert wurde.

Titelbild

Kiley Reid: Such a Fun Age.
Aus dem Amerikanischen von Corinna Vierkant.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783550201240

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