Ein Systemkritiker in Westdeutschland

Sylvia Remé porträtiert die Kabarettlegende Dietrich Kittner

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anlässlich der deutscher Einheit vor dreißig Jahren gab es zahlreiche Veranstaltungen, Publikationen und Rückblicke auf die Geschichte der BRD und der DDR. Absichtlich oder ungewollt lief die Bewertung immer wieder auf das Klischee hinaus, wonach die DDR eine Stasi-Diktatur und die BRD die freiheitlichste Demokratie gewesen sei. Sylvia Remé hat jetzt ein Buch über Leben und Wirken eines Kabarettisten geschrieben, das beweist, dass das kapitalistische System der BRD nicht einfach mit der Freiheit gleichgesetzt werden kann. Die Autorin porträtiert Dietrich Kittner (1935–2013), der nicht nur ein politischer Kabarettist, sondern auch ein kabarettistischer Politiker war. Mit frechen Aktionen profilierte er sich immer wieder als Aktionskünstler. Bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bringen ihn verschiedene Eulenspiegeleien Verhaftungen und Ermittlungen wegen groben Unfugs ein, zum Beispiel sein Protest gegen die Verabschiedung der Notstandgesetze. 1969 findet die Aktion „Roter Punkt“ gegen die Erhöhung der Bus-Fahrpreise in Hannover bundesweit Beachtung. Kittners Einsatz für ein Linksbündnis und den Abschluss der Ostverträge führt 1972 dazu, dass er aus der SPD ausgeschlossen wird.

Der unbeugsame Künstler kämpft gegen den Mief der Bonner Republik und entlarvt gefährlichen Entwicklungen, die mit der Militarisierung und den Aktivitäten der Reaktion verbunden sind, welche sich bald nach dem Kriegsende wieder formiert. Nach Kittners Auffassung ist „der Sozialismus die Fahrkarte zur Demokratie“, und der Kabarettist hat die Pflicht, „politische und gesellschaftliche Sachverhalte aufzuzeigen und sie in allgemeinverständliche Bilder zu übersetzen“. Remé schildert eindrucksvoll, wie er dieser Pflicht nachkommt, was den Verfassungsschutz auf den Plan ruft: Kittner wird fast wie ein Staatsfeind überwacht und schikaniert. Es schockiert, wie die Staatsmacht in der BRD mit dem bekennenden Marxisten umgeht. Was er zusammen mit seiner Frau Christel erleben musste, liest sich wie ein Kriminalroman.

Selbst seine Freunde werden observiert. Der bayerische Karikaturist Guido Zingerl schreibt 1978, als er auf der Autobahn von der Polizei gestoppt und kontrolliert worden war: „Ach Kittner, ‚Staatsfeind, Staatsgefährder, Anheizer, Unterzeichner, Aufrufer, Anhänger, Unterstützer, Teilnehmer, Betrüger.‘ Das alles deine Ehrentitel von Polizei und Staatsmacht. Bespitzelt, überwacht, abgehört und gefilmt. Als wir einmal bei euch waren (Vernissage meiner Bilder im tab), wurden wir auf der Rückreise auf der Autobahn gestoppt und gefilzt. Dunkler BMW und zwei Streifenwagen. Schußwaffen im Anschlag. Warum? ‚Sie waren doch beim Kittner, Herr Zingerl.‘“ Zur Zeit des Kalten Krieges, als die westdeutschen Medien permanent über die „Systemkritiker“ im Osten berichteten, drehte Kittner den Spieß um und erklärte sich zum westdeutschen Systemkritiker. Und als „Friedenshetzer“ beteiligte er sich stets an den Ostermärschen und den Aktionen der Friedensbewegung, besonders in den Jahren, als in Mutlangen und auf der Heilbronner Waldheide mit Atomsprengköpfen bestückte Pershings stationiert waren.

Der Kritiker Klaus Budzinski stellt fest, Kittner habe „mit seiner volkstümlichen Sprache, seiner Geradheit, seinem Mut und seinem kabarettistischen Einfallsreichtum auch ein Publikum beeindruckt, das seine politischen Überzeugungen nicht teilte.“ Zweifellos gehörte er zu den besten Repräsentanten der deutschen Kleinkunst. Auf jeden Fall war er ihr bissigster Vertreter, der mit treffsicheren Pointen die Eigentumsverhältnisse im Kapitalismus entlarvte. Nach Auffassung von Rainer Butenschön war er „ein Lehrer nicht nur in gesellschaftlicher Analyse, die als Dreh- und Angelpunkt die Eigentumsverhältnisse in den Blick zu nehmen hat“.

1935 in Oels (heute Olesnica, Niederschlesien) geboren, lebte Kittner lange Zeit in Hannover, wo er auch sein eigenes Kabarett-Theater (zuerst das tab, dann das tak) unterhielt, und starb 2013 in Bad Radkersburg (Österreich), wohin er 1990 gezogen war. In seiner Traueranzeige stand: „Wir haben einen großen Kabarettisten verloren, einen unermüdlichen politischen Aufklärer, einen vorbildlichen Streiter für eine gerechte Gesellschaft.“ Bis zuletzt war Kittner seiner Devise treu geblieben, nie zu resignieren.

Seine Kariere startete er 1960 in Göttingen mit der Gründung des Kabaretts „Die Leidartikler“. Nach dessen Auflösung trat er ab 1966 nur noch als Solokabarettist auf, weil er nur im Alleingang „geistesgegenwärtig quasi in null Komma nichts auf akute Umbrüche vom selben Tage reagieren und dem Publikum abends bereits ein brandaktuelles Update zu seinem Programm präsentieren“ konnte.

Kittners Lebensgeschichten, seine satirischen Aktionen und seine Kabarettprogramme gewähren profunde Einblicke in die sozialen und kulturellen Konflikte seiner Zeit. In dieser Hinsicht bietet Remés Buch mehr Anschaulichkeit als so manches Geschichtsbuch, zumal es auch Auszüge aus verschiedenen Kabarett-Programmen enthält. Kittner hat seinem Publikum viel gegeben, aber auch viel abverlangt. Seine Programme dauerten in der Regel mindestens vier Stunden, weshalb er sich selbstironisch als den „Wagner unter den Kabarettisten“ bezeichnet hat. Vor allem bei der Rote-Punkt-Aktion gegen Fahrpreiserhöhung 1969, aber auch bei dem „Enteignet Springer“-Protest nach dem Attentat auf Rudi Dutschke stand Kittner als Aktionskünstler und Demonstrant an vorderster Front. Besonders aufschlussreich sind Remés Kapitel, die über den „Kleinkrieg gegen die Kleinkunst“ von 1976 bis 1983 informieren, mit dem Politiker und ihre Handlanger in den Medien den kritischen Kabarettisten mundtot machen wollten.

„Dietrich Kittner machte das politisch bissigste und relevanteste Kabarett bundesweit“, schreibt Rainer Butenschön im Vorwort. Und auch die anderen Zeitzeugen, die Sylvia Remé zu Wort kommen lässt, bestätigen die Feststellung, dass der „Denkspaßmacher“ Kittner besonders scharfzüngig zu Werke ging und die konservativen Politiker so konsequent attackierte wie kein anderer Kabarettist. Sein Einsatz war phänomenal: Zuweilen legte er für seine zweihundert Vorstellungen pro Jahr auf Tourneen in ganz Europa hunderttausend Kilometer zurück.

Wenn er mit der Berichterstattung der Presse unzufrieden war, wurde er selbst journalistisch aktiv: Als Eckhart Spoo 1997 die Zeitschrift Ossietzky gründete, stieg er sofort als Mitherausgeber ein und publizierte regelmäßig in der Zweiwochenschrift. Als Deutschland sich 1999 militärisch am Kosovo-Krieg beteiligt, führt Kittner als „Friedenshetzer“ ein „Kriegstagebuch“ und entlarvt das völkerrechtswidrige Vorgehen der NATO und die Lügen der verantwortlichen Politiker. Das Tagebuch erschien in mehreren Ausgaben.

Für Kittner war die BRD keine freiheitliche Demokratie, sondern ein von zunehmendem Militarismus und kapitalistischen Strukturen geprägter Staat. In einem Lied beschreibt er ihn so: „Wie eiskalt ist dies Ländchen, / wo alles käuflich ist, / das bis zum letzten Prozentchen / nie den Profit vergisst. // Hier kauft man gar Gewissen. / Wer nicht verkaufen will, / wird fristlos rausgeschmissen. / Drum schweigen die Bürger fein still.“

Sylvia Remé hat ihrem Buch Kittners Bibliografie im „Zeitraffer“ und seine umfangreiche Diskografie beigegeben, und sie zählt auch seine Programme und Premieren auf. Aus diesem Überblick geht die Kreativität und der Fleiß hervor, mit dem Kittner zu Werke gegangen ist. „Absicht der vorliegenden Biographie ist es, die Botschaft dieses kompromisslosen Kämpfers für Frieden und soziale Gerechtigkeit mit seiner Vision, die Gesellschaft zu verändern und die Welt zu verbessern, angemessen zu würdigen, vor dem Vergessen zu bewahren und – möglicherweise – neue Freunde für Kittners Werk zu gewinnen“, schreibt Remé. Man kann nur hoffen, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen. Auf jeden Fall ist die Lektüre des Buchs allen, die sich für das deutsche Kabarett und seine Geschichte in der Nachkriegszeit bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts interessieren, dringend zu empfehlen. Die Autorin porträtiert einen engagierten Kabarettisten, der mit seinen Programmen und Aktionen die reaktionären Tendenzen der westdeutschen Nachkriegsgeschichte offengelegt hat. Insofern fungiert die Kittner-Biografie auch als notwendiges Anti-Geschichtsbuch.

Titelbild

Sylvia Remé: Dietrich Kittner. Porträt der Kabarettlegende.
zu Klampen Verlag, Springe 2020.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783866746176

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