Die untergehende Zivilisation ist ein kopfloses Huhn

Thomas Reverdy beschreibt in „Es war einmal eine Stadt“ die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der Stadt Detroit

Von Sebastian EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wirft man einen Blick auf die Stadtentwicklung der amerikanischen Großstadt Detroit, fällt einem direkt ins Auge, wie sehr sie mit der Automobilproduktion verknüpft ist – oder besser gesagt verknüpft war. „Motor City“ begann bereits vor der 1913 von Henry Ford entwickelten Fließbandproduktion zu wachsen, machte dann aber einen gewaltigen Sprung: die Einwohnerzahl der Stadt wuchs, das Wirtschaftswachstum war überall spürbar. Die Industrie trug die Stadt. Und wenn eine Stadt so eng mit einem Wirtschaftszweig verbunden ist, spürt sie auch die Krise. Die Krise, genauer gesagt die Wirtschaftskrise von 2008, trifft die Stadt Detroit wie ein Vorschlaghammer.

Thomas Reverdy verknüpft diese in Es war einmal eine Stadt mit den Geschichten verschiedener alter und neuer Bewohner Detroits. Da ist Eugène, der von einem großen Automobilkonzern nach Detroit versetzt wird, um das Werk der Stadt auf Vordermann zu bringen, Candice, eine Barfrau Mitte 30, die schon immer mit der Stadt verbunden war, die kleine Bande um Charlie, genannt Skinny, und die Großmutter von Charlie, Georgia, die sich liebevoll und mit einem Hauch von existenzieller Verzweiflung um ihn kümmert, nachdem seine Mutter ihn verlassen hat. Das Figurenensemble wird ergänzt vom alten Lieutenant Brown, einem amerikanischen Polizisten alten Schlages, der es sich nicht nehmen lässt, weiterhin in einem sich leerenden Viertel Detroits zu leben.

In den Geschichten geht es um Alles oder Nichts. Sie handeln vom Aufwachsen in den unruhigen Zeiten des Raubtierkapitalismus und von Träumen, die beim Erwachen schnell von der tristen Realität eingeholt wurden. Detroit wird als winterliche Tristesse beschrieben, die nur durch die Wärme einzelner Menschen gebrochen wird. Der Roman spielt dabei gekonnt mit dem Motiv der Kälte. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto kälter wird es auch im Roman selbst. Der Winter und damit auch Weihnachten naht, in den letzten Büros des Automobilherstellers fallen die Heizungen aus und auch der Polizist hat verfrorene Füße ob seiner kaputten Stiefel. Die Krise des Kapitals nimmt der Stadt förmlich die Wärme; die vormals lebendigen Straßen sind nun leer.

Reverdy schafft es gekonnt, mit einem kleinen Ensemble an handlungstragenden Charakteren eine mitreißende Geschichte zu schreiben. Hierbei bedient er sich zahlreicher beinahe klassischer Motive. Der tragische Held der Geschichte ist wohl Eugène, der aus Europa nach Detroit gekommen ist und dort mutterseelenallein die Führung in einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Firma übernehmen soll. Die menschliche Kälte, repräsentiert durch die Einsamkeit in dem neuen Land, wird dadurch verstärkt, dass die Kollegen Eugènes – bis auf Patrick, seinen Mittelsmann – namenlos bleiben. Sie sind eine Leidensgemeinschaft, die jedoch in der Anonymität verharrt. Aber auch in der Anonymität der sterbenden Großstadt findet sich Gutes: Eugène lernt erst aus der Distanz, dann später aus der Nähe Candice kennen – und auch lieben. In der Kälte Detroits ist also noch ein wenig Wärme vorhanden.

Die Geschichte von Eugène und Candice ist lose an die zeitgleich ablaufende Handlung rund um Charlie angesiedelt. Charlie, Außenseiter, talentiert aber nicht leistungswillig, flieht mit Fat Bill und Strothers in „die Zone“. Diese wird als eine Steppe beschrieben, die nahtlos an die verlassenen Straßen Detroits anschließt – in ihr treiben sich nicht nur die Kriminellen der Stadt herum, sondern auch eine Schar Kinder, die in einer verlassenen Schule lebt. Diese kleine Kolonie ist das Ziel der Ausreißergruppe um Charlie. Zunächst erscheint der Aufenthalt dort wie ein einziges großes Abenteuer. Spätestens aber nach dem Abklingen des ersten großen Katzenjammers nach ausschweifenden Gelagen und dem obligatorischen Ausbruch aus der reglementierten Welt der Erwachsenen wird auch hier klar: Es ist kalt – und auch nicht besser, denn eine Zukunft gibt es hier ebenfalls nicht. Zu dieser Situation kommt dann zusätzlich noch ein Mord unter Freunden und eine surreal anmutende Rettungsaktion im Schneegestöber.

Dieser Handlungsstrang ist wiederum verknüpft mit der Erzählung von Lieutenant Brown, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dass Verschwinden zahlreicher Kinder aufzuklären – ohne großen Rückhalt von Seiten der anderen Autoritäten, die Detroit schon abgeschrieben zu haben scheinen. Er verzweifelt, trinkt, denkt an bessere Zeiten. Gerade die Szenen, in denen Reverdy ruhiger beschreibt, wie es in seinen Protagonistinnen aussieht, stechen aus der Gesamthandlung hervor. Hier werden der angenommene Einfluss der kapitalistischen Wirtschaftsweise und die Konsequenz von menschlicher Kälte am greifbarsten, hier weiß die Geschichte zu überzeugen. So ist sie in leichten Nuancierungen an vielen Stellen sozialkritisch, ohne moralisierend zu wirken.

Zugleich aber muss angemerkt werden, dass die Sozialkritik sich nicht auf weitere Verwerfungszusammenhänge bezieht, die in Verbindung mit dem Mikrokosmos Detroit hätten thematisiert werden können. Reverdy erwähnt weder die krasse Segregation, die der wirtschaftliche Kollaps zufolge hat, noch thematisiert er die Probleme sozialer Sicherung, Jugendfürsorge und des Bildungssystems in den USA – obwohl sich dafür Anschlusspunkte geboten hätten. Auch werden die Autoritäten, der Staat, vertreten durch die Polizei, positiv gezeichnet, was in Amerika im Jahr 2017 – vor dem Hintergrund von Polizeigewalt und rassistischen Übergriffen – kaum angemessen erscheint. Reverdys Sozialkritik bleibt hier zahnlos. Das wird durch den Eindruck verstärkt, dass am Ende alles gar zu versöhnlich erscheint und die Verzweiflung der Figuren einfach verschwindet. Man kommt in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, findet sich neu oder ist erwachsen geworden. Das warme Ende kontrastiert die kalte Geschichte. Dies ist sicherlich gewollt, irritiert aber letztlich doch.

Thomas Reverdy schafft es trotz dieser Einwände mit Es war einmal eine Stadt ein bedrückendes und stimmiges Bild einer sich leerenden Stadt zu zeichnen. Bedrückend, weil sowohl die Stadt menschenleer erscheint, als auch die Charaktere über Strecken dermaßen verzweifelt sind, dass das Weiterlesen schwerfällt. Es gelingt Reverdy auf diese Art, eine atmosphärische Narration zu schaffen, die durch ihren schnellen Wechsel der verschiedenen Handlungsstränge und Protagonisten ein multiperspektivisches Panorama der Auswirkungen eine entglittene Wirtschaftsweise auf Mensch, Psyche und Raum ermöglicht. Das Buch punktet an den Stellen, wo es Fahrt aufnimmt und sich auf die eindringliche Beschreibung der Situation konzentriert. Es war einmal eine Stadt ist eine anregende und empfehlenswerte, aber keineswegs innovative Lektüre.

Titelbild

Thomas Reverdy: Es war einmal eine Stadt. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
Berlin Verlag, Berlin 2017.
279 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013453

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