Ride my Chevrolet

Abschiedsgedanken nach fünf Jahren Kanada

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

„Singuläre Pluralität“ oder die Unklarheit der Buchmessen-Planung

Kanada ist das virtuelle Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, plant aber zugleich eine Verschiebung des ursprünglich geplanten Events mit physischer Präsenz auf nächstes Jahr. Das deutsche Pandemie-Hickhack um diesen nordamerikanischen Besuch, von dem schon lange klar war, dass er dieses Jahr nur online würde stattfinden können, war traurig mitanzusehen. Nicht wegen Kanada, einem klassischen Einwanderungsland mit einer überaus reichen und reflektierten postkolonialen Kultur, von der der deutschsprachige Literaturbetrieb noch viel lernen könnte. Nein, absolut niemand, auch die Buchmesse nicht, konnte letztlich irgendetwas dafür, dass dieses Jahr mit einer nie dagewesenen internationalen Krise begann, für die das Kürzel COVID-19 steht und welche Publikums-Großveranstaltungen jeder Art seit vielen Monaten grundsätzlich in Frage stellt. Ungut war zuletzt höchstens das Lavieren der Buchmessen-Veranstalter, die zum großen Erstaunen nicht nur der Presse plötzlich glaubten, ihre Tore doch noch für eine wie auch immer reduzierte BesucherInnenzahl öffnen zu können, um dann angesichts neuer Quarantäne-Bestimmungen und internationaler Reisebeschränkungen erst relativ spät wieder zurückzurudern. Was all dies für die Zukunft der Buchmesse bedeuten wird, darüber wird trotz ostentativer Durchhalteparolen der Veranstalter weiter gerätselt.

Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie schwer es unserer Gesellschaft immer noch fällt, mit den Behinderungen klarzukommen, welche die Corona-Krise uns allen auferlegt hat. Sie treffen jedoch vor allem jene Menschen besonders hart, die dadurch im Nu an ihr Existenzminimum gebracht wurden – KleinverlegerInnen etwa, KünstlerInnen, MusikerInnen oder AutorInnen. Für sie ist eine Messe wie die in Frankfurt eine wichtige Einkommensquelle, die nunmehr weitgehend wegfällt. Die Buchmesse ist zu einem durch wankelmütige Planungen verunklarten digitalen Experiment zusammengeschrumpft, dessen Resultate für alle Beteiligten offen bleiben. Es ist keinesfalls eindeutig, was Buchmessen-Direktor Juergen Boos damit gemeint haben mag, als er kürzlich die obskure Durchhalteparole lancierte: „Die Buchmesse ist die Buchmesse ist die Buchmesse.“

Doch auch an Kanada ist die Corona-Krise nicht spurlos vorübergegangen. Was ist davon zu erwarten, dass sich diese Multikulti-Nation avant la lettre nun unter dem selbstbewussten Slogan „Singular Plurality“ in Frankfurt vorstellt? Zufällig war ich seit 2015 mit einer befristeten Stelle als Universitätslehrer in Calgary tätig, einer Großstadt im Westen des Landes. Ich blicke nunmehr, nach meiner Rückkehr Ende Juli, auf einen Lebensabschnitt in jenem Buchmessengastland zurück, das man hierzulande dringend näher kennenlernen sollte. Es liegt mir fern, hier eine umfassende Vorstellung des kanadischen Literaturbetriebs liefern zu wollen. Stattdessen nutze ich die Gelegenheit, um einige Erinnerungen an meinen Pandemie-Alltag der letzten Monate aufzuschreiben und einen kleinen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein kanadisches Akademikerleben in Calgary zuletzt aussah und was auch dort durch die Pandemie derzeit zur Disposition gestellt ist, genauso wie in Deutschland.

Die Pandemie in Kanada

Auch wenn man in Kanada dieses Frühjahr zeitweise katatrophale Entwicklungen befürchtete, verlief die Pandemie dort sehr viel glimpflicher als im südlichen Nachbarland, den Vereinigten Staaten von Amerika. Was nicht heißen soll, dass das Gesundheitswesen in Kanada bombenfest funktionierte. Vor allem in der Altenpflege traten eklatante und oft skandalöse Zustände zutage. Über Monate hinweg starben vor allem die Menschen in den Altenheimen in überdurchschnittlich hohen Zahlen. Sie wurden von erkrankten oder überlasteten PflegerInnen über Wochen sich selbst überlassen, starben alleine, in unbeschreiblichen Szenarien.

Die kanadischen Universitäten reagierten relativ schnell und professionell auf die Gefahren. Als vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) geförderter Langzeitdozent und Angestellter der University of Calgary hatte ich angesichts der Corona-Pandemie Glück im Unglück: Mitten im Winter Term 2020 musste ich zwar meine Lehre ohne nennenswerte Vorbereitungszeit auf digitalen Betrieb umstellen, plötzlich von dem heimischen Küchentisch aus meine laufenden Seminare fortführen und unter anderem auf die Fernleihe der Taylor Family Digital Library an der University of Calgary verzichten. Doch so lange ich vor Ort blieb und die Pandemielage in der Provinz Alberta nicht eskalierte, um mich zur Flucht nach Deutschland zu zwingen, musste ich vom DAAD und meiner Gast-Uni keinerlei Gehaltseinbußen hinnehmen oder mir gar von heute auf morgen überlegen, wovon ich nun weiter leben sollte.

Allerdings fielen nun in Calgary ab Februar auch alltägliche kulturelle Erlebnisse weg, die meinen Aufenthalt in Kanada bisher so angenehm gemacht hatten. Nun gab es etwa keine spektakulären Live-Konzerte wie die der Autorin und Inuit-Sängerin Tanya Tagaq mehr, von denen ich und meine Frau in den letzten Jahren eine ganze Reihe in Calgary oder im nahen Banff hatten erleben dürfen. Tagaq, die auch auf der Liste der kanadischen Gast-AutorInnen bei der Frankfurter Buchmesse steht, ist nicht nur als Autorin, sondern vor allem als traditionelle und zugleich mit überaus progressiven Arrangements auftretende Kehlkopf-Sängerin ein Erlebnis von kaum zu beschreibender emotionaler Wucht.

Ab März gab es für uns in Calgary aber auch keine internationalen Film-Festivals und Programm-Kinogänge mehr, keine AutorInnen-Lesungen mit Publikum, keine Mahlzeiten in unseren chinesischen oder äthiopischen Lieblings-Restaurants. Am wohl einschneidensten für uns war es jedoch, dass man auch die Provincial Parks und National Parks in den Rocky Mountains schloss, indem man alle verfügbaren Parkplätze in den Bergen abriegelte, um Ansteckungen unter größeren Wandergruppen und Campern zu unterbinden. Die transkulturelle Offenheit des Landes, die ich in meinen letzten Monaten in Kanada noch einmal ausführlich hatte erkunden, nutzen und genießen wollen, war plötzlich nicht mehr zugänglich. Auch die Jahrestagung der Canadian Association of University Teachers of German (CAUTG), des kanadischen GermanistInnenverbands, zu der ich im Mai mit einem Vortragsproposal zu Maxim Biller eingeladen worden war und die unter dem Motto „Bridging Divides: Confronting Colonialism and Anti-Black Racism“ geplant war, wurde ersatzlos gecancelt.

Kurz: In meinen letzten Monaten in Kanada war nicht nur das reiche kulturelle Leben, sondern auch die unendliche Weite der Prärie Westkanadas, die ich in den letzten Jahren so lieben gelernt hatte, im Alltag auf die Überschaubarkeit eines halbstündigen Spaziergangs ums Haus geschrumpft. Der Radius meines Pandemie-Alltags als DAAD-Entsandter ohne Campus-Leben hatte sich, wie überall auf der Welt, weitgehend auf das Herumsitzen, die tägliche Lektüre in der eigenen Wohnung und auf einsame Gänge durch die nächste Nachbarschaft in unserem Bezirk Varsity reduziert.

 

© J. Sueselbeck

Nach einem nunmehr plötzlich zur Gewohnheit gewordenen, langen Oblomow-Mittagsschlaf und dem allabendlichen Radiotermin mit der CBC-Sendung The World at Six, die für mich über die Jahre zu einer Art Tagesschau-Ersatz geworden war, lief ich jetzt oft nur noch täglich zur nächsten Feuerwehr-Station und zurück. Unterwegs sah ich den großen Hasen beim Umherhüpfen zu, die hier allgegenwärtig waren, beobachtete die kanadischen Wildgänse, bewunderte das Abendlicht.

Wie jedes Jahr bis weit in den Mai hinein wandelte ich hier durch Eis und Schnee, danach jedoch bald schon über frische grüne Wiesen, vorbei an jenem kleinen Park mit einem künstlichen Teich, der dieses Jahr bis weit in den Sommer hinein trocken geblieben war, und erneut über eine große Wiese, auf der Schilder mit der Aufschrift „no trespassing“ standen. Die 32. Avenue North West, an der die knallroten Löschfahrzeuge der Feuerwehr vor einer Lagerhalle herumstanden oder mit Blaulicht losfuhren, markierte die Grenze meiner Gänge, ohne dass ich dafür einen klaren Grund hätte angeben können. Die Wiederholung des Immergleichen tat mir in dieser unerwarteten Beschränkung durch die Corona-Regelungen seltsam wohl.

Manchmal begegnete mir eine meiner Kolleginnen mit ihrer Familie. Auch sie brachen nun täglich zu solchen Spaziergängen auf, um wenigstens einmal am Tag frische Luft zu schnappen. Aus der Ferne rief man sich freundliche Small-Talk-Formeln zu, in stiller Verwunderung über die Absurdität der Situation. Eben noch hatte man sich dienstlich via Zoom getroffen, also bei online durchgeführten Prüfungen oder Uni-Sitzungen, um sich nun mit gebührendem Abstand gegenüber zu stehen, ohne recht zu wissen, wie man mit der bizarren Situation umgehen sollte: „How are you doing?“ „Pretty good, thank you. How about you?“

Unbewältigte Probleme einer postkolonialen Gesellschaft

Ein halbes Jahrzehnt lang habe ich nun als DAAD-Professor für German Studies an der University of Calgary gelehrt und geforscht. Nach Vancouver und an den Pazifik im Westen sind es von hier aus immer noch etwa tausend Kilometer, zur US-Grenze des südlich gelegenen Montana einige hundert. Für kanadische Verhältnisse keine nennenswerten Entfernungen. Calgary liegt mehr als tausend Meter über dem Meeresspiegel, wirkt aber auf Ortsunkundige erst einmal wie eine Stadt auf dem platten Land. Manche Einwanderer, also Leute wie ich, hinterfragen diesen ersten trügerischen Eindruck sogar niemals. Es gibt hier Taxifahrer, meist Immigranten wie fast alle hier, die ihren Fahrgästen aus aller Welt mit dem Brustton der Überzeugung erzählen, Calgary befinde sich auf Normalnull. Bei mir setzte sich die Erkenntnis des besonderen Klimas der Stadt jedoch spätestens wenige Tage nach meiner Ankunft im September 2015 durch, als ich zum ersten Mal hinauf in den Nose Hill Park gerannt war, auf der Suche nach einer Jogging-Strecke, um ungewohnterweise plötzlich Seitenstechen zu bekommen.

  

© J. Sueselbeck

Calgary ist traumhaft gelegen. Die Stadt liegt an der Grenze zwischen der endlosen kanadischen Prärie in Richtung Osten, mit der angrenzenden Provinz Saskatchewan – und den Foothills im Westen, einer voralpen-artigen, sanft hügeligen, bald jedoch immer bergiger werdenden Übergangslandschaft vor den nur etwa eine Autostunde entfernten Rocky Mountains. Die Calgarians sprechen von diesem majestätischen Gebirgszug stets stolz als ihrem „Backyard“. Auch wenn man kein Wintersportler oder Bergsteiger ist, bieten diese im Vergleich zu den Alpen sehr viel wilderen Berge, die sich scheinbar endlos vom Süden hoch nach Norden ziehen, ein geradezu unerschöpfliches Erkundungspotenzial für Outdoor-Aktivitäten aller Art.

Blickt man jedoch auf die Geschichte des weiten Landes, so treten schnell jene nicht nur positiven Aspekte zutage, die Kanada für die Buchmesse gerade so interessant machen: Die fruchtbare, klimatisch jedoch überaus raue Gegend mit äußerst harten und langen Wintern wurde bereits vor etwa 10.000 Jahren von der indigenen Bevölkerung des nordamerikanischen Kontinents besiedelt, deren überlebende Nachfahren in Kanada bis in die Gegenwart hinein unterdrückt, ausgegrenzt, ignoriert und diskriminiert wurden bzw. in statistisch überduchschnittlichen Fällen immer noch von ihrer Ermordung bedroht sind, insbesondere als Frauen. Dies ist eines der nach wie vor nicht beendeten dunklen Kapitel, auf dessen Thematik es bei Kanadas Frankfurter Auftritt besonders zu achten gilt.

Dies vor allem auch deshalb, weil Deutsche das Problem der Kolonialisierung des nordamerikanischen Kontinents, nicht zuletzt durch einen überdurchschnittlich hohen Prozentsatz deutscher SiedlerInnen, immer noch vollkommen externalisieren und durch den Rassismus einer nach wie vor nicht abgesetzten Karl-May-Brille weiterhin als ein Thema ansehen, das mit ihnen selbst rein gar nichts zu tun habe bzw. bei dem sie seit jeher zu den ‚Guten‘ gehört hätten und sich den AmerikanerInnen und KanadierInnen noch dazu ethisch turmhoch überlegen fühlen könnten. Tatsächlich ist Kanada aber trotz aller weiter bestehenden Probleme im Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit und Gegenwart der deutschen Ignoranz gegenüber dieser Geschichte Jahrzehnte voraus. Es ist zu erwarten, dass der kanadische Buchmessenauftritt geeignet sein wird, hier bei den Interessierten so einiges zurechtzurücken.

© J. Sueselbeck

Bis heute leben die sogenannten First Nations in Kanada in Reservaten, so auch unmittelbar an der Stadtgrenze von Calgary. Seit dem 19. Jahrhundert und sogar noch bis 1996 wurden zudem Kinder aus ihren indigenen Familien gerissen und in „Residencial Schools“ gezwungen, wo sie unter Androhung härtester Strafen nur noch Englisch sprechen durften. Prügel, sexueller Missbrauch und seelische Qualen aller Art zerstörten das Zugehörigkeitsgefühl dieser Kinder zu ihren Familien und waren Teil eines weit über 100 Jahre durchgehaltenen Programms der strategischen Auslöschung jeder indigenen Kultur und Hunderter von Sprachen, die hier über Jahrtausende gesprochen wurden, bevor die ersten Kolonisatoren den Kontinent betraten.

Mit der Wahl Justin Trudeaus zum Premierminister Kanadas (2015) und seinem Eintritt für Reconciliation, also eine ‚Aussöhnung‘ mit der indigenen Bevölkerung als Opfer eines von Trudeau sogar explizit als solchen anerkannten kulturellen Genozids traten während meiner Dienstzeit neue Regelungen an der University of Calgary in Kraft. Mittlerweile ist es vor allen Gremiensitzungen oder Events fester Teil einer jeden Begrüßung, die traditionallen Territorien der „Treaty 7 region“ anzuerkennen, benannt nach einem Kolonialvertrag mit den Blackfoot, der 1875 in Alberta unterzeichnet wurde.

Die ausführliche Standardformel benennt alle in der Gegend in und um Calgary ansässigen indigenen Gruppierungen und nennt den Namen, den die Blackfoot für den Ort prägten, an dem der Bow River mit dem Elbow River zusammenfließt und der heute Calgary heißt:   

 [Welcome to the University of Calgary]. I would like to take this opportunity to acknowledge the traditional territories of the people of the Treaty 7 region in Southern Alberta, which includes the Blackfoot Confederacy (comprising the Siksika, Piikani, and Kainai First Nations), as well as the Tsuut’ina First Nation, and the Stoney Nakoda (including the Chiniki, Bearspaw, and Wesley First Nations). The City of Calgary is also home to Métis Nation of Alberta, Region 3. I would also like to note that the University of Calgary is situated on land adjacent to where the Bow River meets the Elbow River, and that the traditional Blackfoot name of this place is “Moh’kins’tsis”, which we now call the City of Calgary. 

Diese Liturgie, deren Deklamation vom Ton her teils tatsächlich an die Feierlichkeit eines Gottesdiensts erinnert, bleibt nicht ohne Zwiespalt. Meist sind diejenigen, deren Geschichte hier anerkannt wird, bei solchen Veranstaltungen gar nicht da. Nur wenige von Ihnen schaffen es überhaupt an die Uni. So bleibt es bei der solennen Verbalisierung einer abwesenden Anwesenheit derjenigen, denen das Land seit jeher gehörte, in dem nun allerdings seit Jahrhunderten überwiegend ‚weiße‘ Einwanderer leben und ihr Geld verdienen, oftmals anhand einer zerstörerischen Ausbeutung der Natur. Denn Alberta ist die Ölprovinz Kanadas, mit einer konservativen Regierung, welche die Klimakrise ganz ähnlich wie Donald Trump als Präsident der USA vollkommen ignoriert.

Besonders hart vom Klimawandel betroffen

Calgary ist gleich von mehreren Extremwetterszenarien bedroht, die in den letzten Jahren immer näher kamen und die Region bereits hart trafen: 2013 gab es eine große Flut, welche die Innenstadt unter Wasser setzte und in der gesamten Gegend Schäden in Höhe von sechs Milliarden Dollar verursachte. Gleichzeitig drohen mit dem Abschmelzen der Gletscher in den Rockies lang anhaltende Trockenheiten, welche die Flüsse austrocknen lassen und schon jetzt die zukünftige Wasserversorgung ganzer Städte in Alberta in Frage stellen.

Seither tauchten aber noch weitere Probleme auf. Wie an der Westküste der USA provozieren Hitzewellen ab Mai in Alberta und British Columbia seit einigen Jahren regelmäßig unkontrollierbare Wald- und Buschbrände, die ganze Städte einäschern, Tausende zur plötzlichen Evakuierung zwingen und vor allem die Luftqualität der Region in extrem gesundheitsschädlichem Maße über Wochen und Monate beeinträchtigen. Auch der Rauch aus den US-Staaten Kalifornien, Oregon, Washington oder Montana erreicht Calgary jetzt regelmäßig und verdüstert den Himmel. Plötzlich gibt es außerdem in großer Zahl noch nie dagewesene Tornados und Hagelstürme mit bis zu tennisballgroßen Eisbrocken, die zuletzt im Osten von Calgary wie Artilleriefeuer vom Himmel schossen und ganze Stadtteile verwüsteten, Häuser schwer beschädigten und Tausende von Autos zerstörten.

Dennoch wird diese Klimakatastrophe von vielen Albertanern offen geleugnet, die weiterhin auf den nächsten Öl-Boom hoffen und aufgrund der jahrelangen Krise des Marktes im Jahr 2019 auch noch die United Conservative Party (UCP) mit dem gewissenlosen Neoliberalen und Anti-Intellektuellen Jason Kenney wählten, der mit kriegerischer Rhetorik neue Pipelines und Jobs versprach und grüne Politik verhöhnte, um das Gesundheitswesen, die Kultur, die Bildung und sogar die Provinvial Parks in den Rocky Mountains ohne jede Not mit brutalsten Millionenkürzungen zugunsten gemeingefährlicher Konzerne in Grund und Boden zu wirtschaften. Die Arbeitsplätze, die er in Aussicht stellte, sind dagegen nirgends aufgetaucht. Dank Kenneys Populismus gegen die kanadische Regierung in Ottawa ist sogar ein albertanischer Separatismus nach dem Vorbild des Brexit wieder neu ins Gespräch gekommen. Die irrationalen Umverteilungen von Millionen und Abermillionen Dollars, die diese skrupellose Provinzregierung in den letzten anderthalb Jahren verbrochen hat, traf nicht zuletzt die University of Calgary in einem in der Höhe vollkommen unerwarteten Maße. Die Kürzungen, die dem dreisten Bruch eines Wahlversprechens der UCP gleichkamen, führten ohne jede Vorwarnung zu Hunderten von Entlassungen sowie einem Einstellungsstop und unmittelbaren, kaum kaschierten Abwicklungsmaßnahmen in geisteswissenschaftlichen Fächern wie den German Studies.

Kultureller Reichtum, einmalige Landschaften

Für mich als privilegierten deutschen Akademiker war es in dieser Stadt an den zwei kristallklaren Gebirgsflüssen (Bow und Elbow River) ab 2015 zunächst einmal ein schönes Leben. Von meinen kanadischen KollegInnen geschätzt, anerkannt und auf Augenhöhe in alle universitären Organisations- und Selbstverwaltungsprozesse mit eingebunden, mit engagierten Studierenden aus allen nur erdenklichen Teilen dieser Welt, erschien mir das Leben in der ‚Cowboy-Stadt‘ Calgary, einer Metropole mit weit über einer Million Einwohnern, alles andere als provinziell.

Man kann hier sogar gut ohne eigenes Auto leben und muss sich als Europäer kaum auf besondere Gefahren eines von Kriminalität beeinträchtigten Lebens einstellen, wie es viele amerikanische Städte verlangen, in denen einem an jeder nächsten Ecke die Kugeln um die Ohren fliegen können. Wie in meinem vorherigen, beschaulichen Marburger Leben fuhr ich in Calgary weiter mit dem Fahrrad zum Campus oder lief gar zu Fuß dorthin, vorbei an jener Feuerwehr-Station meiner Corona-Spaziergänge, über einen der dort bereits nahen Uni-Parkplätze in mein Büro in dem baufälligen Gebäude Craigie Hall, in dem, wie mir erst neulich zufällig als Kuriosität aufgefallen war, in den 1980er-Jahren auch schon einmal der SZ-Autor Thomas Steinfeld als DAAD-Dozent gesessen und gearbeitet haben muss.

Downtown war man immer schnell mit dem C-Train, einer meist angenehm leeren und zuverlässig bis spät in die Nacht verkehrenden S-Bahn. Zusammen mit meiner Frau und befreundeten KollegInnen bin ich in Calgary besonders gerne in die klassische Konzerte der Jack Singer Concert Hall gepilgert – und nicht etwa zu Country-Darbietungen. Gustav Mahlers 8. Sinfonie haben wir dort erlebt, aber auch viele progressive Jazz- oder Rock-Konzerte vom Kronos Quartet über John Scofield bis hin zu Tanya Tagaq.

© J. Sueselbeck

Dorthin zu gelangen, oder auch zu den meisten anderen kulturellen Zentren der Stadt, war ähnlich sicher und einfach gewesen wie in Berlin, wo ich seit den 1990er Jahren studiert und 2004 promoviert hatte, bevor ich ab 2005 zehn Jahre lang als Dozent und Redaktionsleiter von literaturkritik.de an der Philipps-Universität Marburg gearbeitet habe. Verglichen mit dem provinziellen Marburg markierte Calgary für mich eine befreiende Rückkehr in die Großstadt, die mit ihrer Skyline noch dazu aussah wie eine Art Mini-New York.

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Vorzeitiger Abschied aus einem beeindruckenden Land

Das Leben hier hatte mich auf Anhieb fasziniert: das helle Licht, der ewige Sonnenschein auch bei minus 20 Grad, der an Hollywood-Filme erinnernde Verkehr mit den vielen Pickup-Trucks, die allgemeine positive Haltung zur Multikulti-Gesellschaft, die kollegiale, joviale, erfrischend offene und lockere Atmosphäre im kanadischen Uni-Alltag.

© J. Sueselbeck

Noch beeindruckender war die Natur: der Himmel, die Flüsse, die Prärie, die Berge. Niemals in meinem Leben bin ich so oft und so regelmäßig gewandert, habe selbst bei minus 20 Grad im Zelt übernachtet, bin durch glitzernde Winterlandschaften gestreift, habe Angst vor Berglöwen, Bären und Wölfen gehabt, an kristallklaren Bergseen in überirdischen Färbungen gestanden, mich mit KanadierInnen am Lagerfeuer verbrüdert.

© J. Sueselbeck

Mit dem Leihwagen, etwa einem Chevrolet wie in dem Song von ZZ Top, durch die Weiten des Farmlandes in Richtung Süden nach Waterton zu fahren oder auch Richtung Norden nach Drumheller mit seinen Badlands, war magisch: Hallelujah, hallelujah, Ride my Chevrolet.

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Toll auch der Himmel. Es war, als führe man durch Wim Wenders‘ Amerika-Filme, mit diesen in der Erdkrümmung am Horizont sich verlierenden weißen Wolkengebilden. Die Sonnenuntergänge in Calgary gehören zu den spektakulärsten in der ganzen Welt. Der Chinook, ein lokales Wetterphänomen mit warmen Winden aus British Columbia, das dem Föhn in europäischen Alpengegenden ähnelt, bildet regelmäßig einen gigantischen Wolkenhalbkreis über der Stadt, einen Chinook Arch, der im Morgengrauen oder am Ende des Tages von der Sonne feuerrot angestrahlt wird und die gesamte Gegend in ein unwirkliches oranges Licht taucht.

© J. Sueselbeck

Aus, vorbei. Wie alle Menschen auf dieser Welt hätte ich mir bis zum Jahresbeginn 2020 nicht vorstellen können, dass meine Zeit hier so aufhören würde. Mit einem Virus, der die täglichen persönlichen Treffen mit den Studierenden jäh beenden und auch die Ausflüge in die Bergwelt über Monate zum Erliegen bringen sollte. Doch was eine geschätzte Kollegin zu meiner Veranschiedung via Zoom im Juni sagte, wird wohl stimmen: Kanada hat mich geprägt und verändert. Für den Rest meines Lebens werde ich dieses Land vermissen. Für den Augenblick jedoch bleibt nur die virtuelle Buchmesse und der dortige kanadischen Auftritt – oder die Lektüre unseres Kanada-Themenschwerpunkts in der Oktober-Ausgabe von literaturkritik.de.