Hebbel für Germanisten
Monika Ritzer legt eine Neuedition der Tagebücher und eine neue Biographie des Autors vor
Von Andreas Solbach
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFriedrich Hebbel ist in der gegenwärtigen Germanistik in Forschung und Lehre ebenso wie auf dem Buchmarkt und auf den Bühnen der deutschsprachigen Länder (vom Ausland ganz zu schweigen) fast vollständig in Vergessenheit geraten. Natürlich gibt es noch Publikationen zu Hebbel, und es werden auch hier und da noch Lehrveranstaltungen angeboten, aber letztlich lebt der Autor, wenn er noch lebt, von der Dauerinfusion, die er aus dem Interessengebiet bezieht, das sich das „bürgerliche Trauerspiel“ nennt. Dieses Schicksal teilt er mit einigen durchaus prominenten Zeitgenossen, deren Werke noch in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts als kanonisch galten und die heute immer weiter in Vergessenheit zu geraten scheinen. Das betrifft unter anderem seinen Konkurrenten in Wien, Franz Grillparzer.
Man könnte daraus schließen, dass es sich hier um ein gattungsgebundenes Phänomen handelt; mit anderen Worten, dass Dramen des 19. Jahrhunderts keinen Anspruch mehr auf die Gunst der LeserInnen machen dürfen. Dagegen steht aber nicht nur die Tatsache, dass Büchner, Kleist und Gerhart Hauptmann weiterhin ein erkennbares Rezeptionsprofil haben, sondern auch der Befund, dass angeblich schwergängige Autoren wie Stifter in die erste Reihe des germanistischen Interesses aufgestiegen sind und andere wie Fontane, Storm und Keller auch weiterhin ein zum Teil hohes Interesse in der Öffentlichkeit hervorrufen. Die Frage, woran denn mangelndes Interesse abzulesen wäre, lässt sich dabei relativ einfach beantworten: Die Anzahl der Promotionen, Habilitationen und Biographien lassen in dieser Hinsicht deutliche Rückschlüsse zu, ebenso wie die Anzahl und Qualität der Werkausgaben und der Einzeltexte.
Für die Öffentlichkeit dagegen zählen zumeist die sichtbaren Zeugnisse des Publikumsinteresses: Erwähnungen in der Presse, wissenschaftliche Konferenzen und Gedenkveranstaltungen. Das sieht im Falle von Hebbel nicht gut aus, auch wenn wir zugestehen müssen, dass es weiterhin Veranstaltungen, Promotionen und auch Einzelveröffentlichungen zum Autor gibt. Wer aber Hebbel lesen will, kann dabei auf nur wenige Einzeltitel aus den gegenwärtigen Verlagsprogrammen zurückgreifen: zuvorderst auf das bürgerliche Trauerspiel Maria Magdalena (samt Schulkommentaren) und Die Nibelungen, die Gedichte wie auch eine ältere Auswahlausgabe der Tagebücher – alle bei Reclam. Eine neuere Auswahl der Tagebücher gibt es als Fischer-Taschenbuch (von Christian Schärf herausgegeben), und von Monika Ritzer bei dtv einen Band Meistererzählungen von Hebbel. Wer mehr will, muss in die Bibliotheken oder in den Antiquariatsbuchhandel gehen, der ebenfalls nur ein dünnes Angebot bereithält.
Dabei steht es in editorischer Hinsicht letztlich gar nicht schlecht um Hebbel, denn zum einen liegt eine zwar ältere, aber durchaus vernünftige historisch-kritische Ausgabe vor, die R. M. Werner kurz nach der Jahrhundertwende besorgt hatte. Diese, wie auch die auf ihr basierenden Auswahlausgaben bis in die 1960er Jahre, teilt das Werk Hebbels in die Bereiche dichterischer Produktion, theoretischer Schriften, gefolgt von den Tagebüchern und einer Abteilung von Briefen. Noch in den 50er und 60er Jahren gab es einige auch für die Forschung brauchbare Ausgaben, etwa die fünfbändige Werkausgabe von Fricke, Keller und Pörnbacher – allesamt längst vergriffen. Seitdem hat es zwar keine neue Werkausgabe in größerem Umfange gegeben, aber 1999 erschien eine komplett überarbeitete und wissenschaftlichen Standards gehorchende Briefausgabe, womit neben den tatsächlich immer wieder aufgelegten Tagebüchern ein wichtiger Baustein für eine zukünftige Biographie bereitgestellt wurde.
Ein Blick auf die vorhandenen Hebbel-Biographien zeigt ganz deutlich, an welcher Stelle das Interesse an ihm so weit nachgelassen hat, dass der Autor nicht mehr die kritische Masse an Aufmerksamkeit erregen konnte, um eine moderne Biographie zu generieren: Hebbels Ruhm und das Interesse seiner Leser ist historisch zunächst einmal an die Wirksamkeit der Kategorie der Tragik beziehungsweise des Tragischen gebunden. Er gilt den GermanistInnen und den LeserInnen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als die höchste Inkarnation eines dramatischen Dichters, doch mit dem stetigen Niedergang der Popularität des Tragischen nahm auch Hebbels Ruhm ab. In den drei Jahrzenten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs findet zumindest das fachwissenschaftliche Interesse an dem Autor noch eine fruchtbare Fortsetzung, die durch die Verbindung und Adaption Hebbelscher Tragik mit dem existenzialistischen Weltgefühl der unmittelbaren Nachkriegszeit vorübergehend den Nerv der Zeit trifft.
Die neuere Germanistik der 80er und 90er Jahre fand dagegen nur noch ausnahmsweise Zugang zu dem Autor, ohne dass dafür jedoch ein überzeugender Grund vorliegen würde – gerade seine Tagebücher dürfen auch weiterhin als faszinierender Gegenstand möglicher Untersuchungen gelten. Es kann daher nicht überraschen, dass Monika Ritzer 2017 eine „neue historisch-kritische Ausgabe“ der Tagebücher in zwei Bänden vorgelegt hat, wobei der zweite Band einen umfassenden Kommentar samt Konkordanz und Apparat enthält. Die Herausgeberin stützt sich auf die Handschrift, die sie mit der Tagebuch-Edition von Werner (samt den Erweiterungen von Krumm und Bornstein) im Rahmen seiner historisch-kritischen Hebbel-Ausgabe vergleicht, und unterzieht die Handschrift erneut einer kritischen Lektüre.
Ihr Ziel ist nicht nur, einen vollständigen Abdruck des Textes zu bringen, sondern durch die skrupulöse Berücksichtigung aller Elemente einschließlich Randbemerkungen und anderer Paratexte einen Blick auf die Textgenese zu ermöglichen. Dabei werden durch eine verbesserte editorische Ordnung die Notate vermehrt und teilweise anders angeordnet. Da es außer der Handschrift keinen anderen Textzeugen gibt, erübrigen sich Fassungsvergleiche, und die editorische Arbeit kann sich auf die genannten Textelemente konzentrieren. Die von Ritzer erstellte Textfassung darf dabei nach gegenwärtigem Stand als konklusiv gelten. Mit den Tagebücher liegt der zweite Teil einer modernen Ausgabe der Werke Hebbels in bewundernswerter Art und Weise vor – und wird kommenden Generationen von ForscherInnen als Grundlage für ihre Arbeit dienen können. Der Preis von 300 Euro dürfte allerdings ihre Leserschaft auf akademische Kreise mit Zugang zu Universitätsbibliotheken begrenzen.
Monika Ritzer hat sich offenkundig auf der Grundlage ihrer intensiven Arbeit an der neuen Tagebuch-Ausgabe auch einer neuen Biographie des Autors gewidmet, die seit Ende letzten Jahres vorliegt. Sie darf nach den umfangreichen Darstellungen von Kuh und Werner und einigen eher populären Darstellungen als die dritte große Hebbel-Biographie gelten. Und da sie seit Jahrzehnten die erste umfangreichere, moderne Biographie darstellt, die sich auf ein deutlich breiteres Fundament an Kenntnissen und Dokumenten stützen kann als ihre Vorgänger, geht sie auch weit über das hinaus, was seit den Tagen von Kuh und Werner an Biographien vorgelegt wurde. Man kann sagen, dass Ritzers Arbeit den Referenzstandard für Forschung und Öffentlichkeit ebenso entschieden setzen können wird wie ihre Tagebücher-Edition.
Diese mit 832 dicht gesetzten Seiten bislang detaillierteste Darstellung von Leben und Werk des norddeutschen Autors will ausweislich ihres Nebentitels Hebbel als Individualisten in seiner Epoche verstehen. Es dürfte schwerfallen, auch nur eine SchriftstellerIn zu finden, die sich nicht als IndividualistIn verstanden sehen will, und so ist diese genauere Bestimmung, die ja auf ein, wenn nicht das zentrale Persönlichkeitsmerkmal Hebbels zielt, eigentümlich diffus: auf wen träfe das nicht zu, Individualisten sind sie alle, selbst wenn sie wie Brecht dem Kollektivismus huldigen. Hebbel ist dann auch viel eher ein Einzelgänger aus Not und Notwendigkeit, eine Ausnahmeerscheinung durch seine Armut, seine fehlende formale Bildung und seine unsicheren Umgangsformen. Er gehört in die Tradition der Verstörten und Unangepassten von Kuhlmann über Günther, Lenz und Hölderlin bis zu Kleist, Grabbe und den zahlreichen Nachfolgern in der Moderne. Gewollt hat er seine Sonderexistenz gewiss nicht, sie ist ihm durch seine Lebenskontexte über lange Zeit aufgenötigt worden, und die Niederlagen und Demütigungen der frühen Jahre haben unauslöschliche Spuren hinterlassen.
Ritzers Biographie folgt dem klassischen Schema der Leben-Werk-Darstellungen, und sie zieht alle erreichbaren Quellen von Selbstäußerungen über die Urteile anderer bis zu den vielfältigsten Rezeptionszeugnissen heran und entwirft ein reich kontextualisiertes Panorama von Hebbels Leben und Werk. Dabei nutzt sie vor allem die Tagebücher bei der biographischen Darstellung, die sich natürlich auch auf den Briefwechsel stützt. Das ist nicht nur legitim, sondern auch erwartbar, obgleich sie auf diese Weise die persönlichen Aufzeichnungen – abgesehen vom Eingangskapitel – nicht mehr als ein einheitliches Werk in den Blick nimmt. Damit entfällt aber die Chance, Hebbels Persönlichkeit aus diesem Kontext heraus als charakteristisches, einheitliches Porträt zu profilieren. Stattdessen werden die Tagebuchaufzeichnungen sehr überzeugend und peinlich genau den jeweiligen Lebens- und Werkkontexten als Kommentar und Beleg zugeordnet. In diesem Zusammenhang finden dann auch Hebbels Gedichte als Zeugnisse für seine Lebenskontexte und seine intellektuelle und künstlerische Biographie stete Berücksichtigung – eine der zahl- und aufschlussreichen Erhellungen, die die Leserschaft erfreut.
Ritzers Arbeit entwirft in ihrer beeindruckenden Detailkenntnis ein ungeheuer informiertes und gleichermaßen belehrendes Bild des Autors, das vor allem diejenigen zu schätzen wissen werden, die leicht aufzufindende und sicher recherchierte Kenntnisse suchen – eine Biographie, die den Germanisten und einigen Hebbel-Fans enorm viel zu bieten hat. Ob das allgemeine Lesepublikum damit für den Autor gewonnen werden kann, bleibt eine offene Frage. Der Verlag hat sich durch allerlei Maßnahmen erfolgreich darum bemüht, bei hoher handwerklicher Qualität ein für die breite Leserschaft noch bezahlbares Buch herzustellen; mit knapp 50 Euro für 800 Seiten wird der Band hoffentlich genügend KäuferInnen finden, um Hebbel wieder in der Öffentlichkeit etwas bekannter zu machen – 30 Euro für 400 Seiten wären hier sicher effektiver gewesen. Aber Ritzer schreibt keine populäre Lebensbeschreibung, sondern sie zielt auf die Kategorie wissenschaftliche Standardbiographie. Ein Ziel, das sie in der Tat erreicht: diese Lebens- und Werkdarstellung wird über lange Zeit die einzige Referenzbiographie des Autors bleiben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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