Ovids Verwandlungsgeschichten in Bewegung

In „Ovidius perennis“ gibt Kurt Roeske einen Einblick in den andauernden Dialog mit dem Dichter aus Sulmona

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein zum Staunen führendes Buch, das der klassische Philologe und pensionierte Schulleiter Kurt Roeske uns anvertraut. Staunen über eine enorme Belesenheit, unaufgeregte Analyse, klare und systematische Darstellung der Sachverhalte. Staunen aber vor allem über den Gegenstand der Arbeit, Ovids Verwandlungsgeschichten. (Dieses Staunen könnte auch eines sein, das – wie Aristoteles meint – am Anfang des Philosophierens steht.)

Die Einleitung, die knapp das Leben des Dichters Publius Ovidius Naso aus der Abruzzenstadt Sulmona vorstellt, der als „Opfer der Staatsräson“ an seinem Verbannungsort Tomi am Schwarzen Meer sein fast vollendetes Werk mit den Verwandlungsgeschichten, den Metamorphosen verbrennt, weil diese seinen Ansprüchen nicht genügen, enthält darüber hinaus eine präzise Interpretation des Proömiums und eine stichpunktartige Erklärung, was es mit dem Mythos auf sich hat. Die Überzeugung, dass es sich lohnt, „sich mit Ovid und seinen Rezipienten in einen Dialog einzulassen“, wird hier als eine Art Begründung für die Arbeit genannt und am Schluss des Buches wiederholt mit den Worten: „Man meint, Ovid, der in einer Zeit gelebt hat, in der es keine Zeitungen, keinen Rundfunk, kein Fernsehen und keine Smartphones gegeben hat, hätte einen Blick in das 21. Jahrhundert geworfen! “

„Vivam“ so das letzte Wort in den Metamorphosen, „Ich werde leben“ stimmt tatsächlich, wenn man sich die Geschichte der Rezeption in den verschiedenen Künsten ansieht. Kurt Roeske bespricht dafür literarische Beispiele vor allem aus dem Zeitalter der Klassik bis zur Gegenwart und vorwiegend aus der deutschsprachigen Literatur. Die wenigen Vertreter:innen aus der Antike und der englischsprachigen Literatur machen immerhin deutlich, was das dem Band vorangestellte Zitat von Hans Blumenberg ausdrückt: „Die europäische Phantasie ist ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht.“

Während die musikalische Rezeption des Mythos bloß listenhaft erfasst ist, werden ausgewählte Werke aus der Bildenden Kunst von Evelyn Hermann-Schreiber beschrieben, interpretiert und in die Kunstgeschichte eingeordnet. Ihre sorgfältige Arbeit wird zwar im Vorwort bedankt, hätte aber auch einen Platz in den bibliographischen Angaben verdient.

Ovid wird in der Prosaübersetzung von Hermann Heiser zugänglich gemacht. Das lateinische Original kommt nur kurz in der Besprechung des Proömiums zu Wort, Beispiele für eine metrische Übersetzung finden sich in den Abschnitten zu Pygmalion und Narcissus. Generell sind dabei die Ausschnitte so gewählt, dass ihr Gedankengang eindeutig und leicht erkennbar ist. Mitunter werden auch redaktionelle Erklärungen und Zusammenfassungen gebracht, die der Konzentration auf die Aussageabsicht dienen. Manchmal hätte LeserIn vielleicht gerne etwas mehr Ovid gelesen. Ein Befund, der auch auf manchen Text der literarischen Rezeption zutrifft – auch hier sind die Originalzitate mitunter sehr knapp. Gattungsarten und Textsorten, die als Beispiele für die Rezeption angeführt werden, sind höchst divers, was belegt, dass literarische Rezeption eben sehr vielfältig daherkommt. Sie kann Ausdruck der Aneignung, der Konfrontation, der Irritation und des Spiels mit dem Original sein. Jedenfalls illustrieren die Texte die dem Band ebenso vorangestellten Worte Friedrich Schlegels: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte, vorzüglich sich selbst.” Dass es sich so verhält, ist dem Charakter des Ovidschen Werkes als Mythos geschuldet, der ja in jedem Fall gedeutet sein will. Wie jedes Lesen, bringt so jede literarische Ver- und Bearbeitung eine neue Perspektive ein, die zugleich ein neuer Einblick in ein anderes Gedankenuniversum ausmacht. Diese Breite an Sichtweisen und Weltzugängen sichtbar gemacht zu haben ist ein Verdienst der Sammlung von Kurt Roeske.

Thematisch werden in dem Band Fragestellungen behandelt wie: Ist die Welt dem Untergang geweiht? (Der Sturz Phaetons); Was vermag die Liebe (Der Raub der Proserpina); Welche Gefahren birgt das Verhältnis des Künstlers (Technikers) zu seinem Werk? (“Pygmalion”); Wie mit der Natur umgehen? (Philemon und Baucis; Die lyrischen Bauern; Erysichthon). Diese Problemstellungen zeigen, wie vor allem noch einmal das zwölfte und letzte Kapitel des Buches Falschmeldungen, in dem “Fama” vorgestellt wird, wie sehr Kurt Roeske mit seiner Meinung, dass man bei Ovid durchaus die Problemstellungen des 21. Jahrhunderts auffinden kann, recht hat. Es lohnt sich unbedingt dieses Buch in die Hand zu nehmen. 

Titelbild

Kurt Roeske: Ovidius perennis – Unsterblicher Ovid. Verwandlungsgeschichten – Verwandelte Geschichten Texte, Bilder und Interpretationen von der Antike bis zu Peter Härtling und Pablo Picasso.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
290 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826074622

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