Krieg und Schrift

Jörg Rogges Sammelband bietet neue Ansätze zur Darstellung von Kriegserfahrungen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Sammelband Kriegserfahrungen erzählen setzt sich mit aller Vorsicht und Sorgfalt mit der Frage auseinander, wie in historischen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Kriegserfahrungen ihren Niederschlag gefunden haben. In der Einleitung des Herausgebers Jörg Rogge wird als leitende Problemstellung die Bestimmung des Verhältnisses von gemachter persönlicher Erfahrung und deren Wiedergabe in Erzählungen festgelegt. Lassen sich „die Erfahrungen von Kombattanten, Zivilisten und Opfern von Kriegshandlungen überhaupt in Erzählungen so wiedergeben, dass sie von Hörern und Lesern – auch in ihrer emotionalen Dimension – nachvollzogen werden können?“ Das Wort liegt in den herangezogenen Quellen der Beiträge dann vor allem bei den Kämpfenden selbst. Opfer und Zivilisten sind deutlich weniger vertreten.

Rogge folgt Walter Benjamin, der schrieb: „Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde heim kamen?“ Als Unterschied wird für die Menschen der Vormoderne festgehalten, dass sie „in den Jahrhunderten vor 1800 […] andere Gewalt- und Kriegserfahrungen gemacht [haben], die nicht den Charakter von Ausnahmesituationen wie in der Moderne hatten. Die Gewalterfahrungen der Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg hatten ein erheblich größeres traumatisches Potential.“ Aus der geringeren Qualität von Gewalt im Krieg und mehr Gewalt im Alltag entstand demnach kein so starkes Gefälle wie in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Hier ließe sich einwenden, dass die mediale Aufarbeitung auch ein anderes Potential hatte, zum Beispiel in der Art, dass in der Vormoderne eher das Schweigen blieb, vielleicht auch das Gebet, während später für die Bewältigung des Traumas vielfältigere Ausdruckskanäle zur Verfügung standen.

Rogge unterscheidet zwischen Erlebnis und Erfahrung: „Das Erlebnis ist individuell, unmittelbar und damit im Grunde genommen kaum an andere kommunizierbar. Erfahrung hingegen ist die individuelle, kognitive Be- und Verarbeitung des dadurch mit Sinn versehenen Erlebnisses.“ Dies bedingt auch eine Auseinandersetzung mit der Frage von Authentizität von erzählter Erfahrung unter Aufbietung textkritischer Werkzeuge. Die Darstellung des Forschungsstandes hebt besonders die Rolle des Tübinger Sonderforschungsbereichs „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ (1999–2008) hervor. Die Zeit des Spätmittelalters ist allerdings nicht in dem Ausmaße vertreten, wie es vielleicht wünschenswert wäre, was auch an der schlechteren Quellenlage liegt, da es kaum Selbstzeugnisse aus diesem Zeitraum gibt.

Rogge schlägt vor, „von den Texten auszugehen und zunächst genauer zu untersuchen, ob und wie in den Texten über (eigenes) Erleben im Krieg erzählt wird. Die Kriegserlebnisse von Einzelnen sind in der Hinsicht kontingent, dass sie eben individuell sind und nicht unmittelbar kommuniziert werden können.“ Es solle nach der Form von Erzählmustern gefragt werden, „die den jeweiligen literarischen und kommunikativen Standards der Gesellschaften entsprechen, in denen und für die sie gemacht werden. Wenn man sich mit Texten beschäftigt, in denen Kriegserfahrungen thematisiert werden, dann hat man einen Zugriff auf das Ergebnis des Prozesses der Einordnung von Erlebten durch Personen in einen Sinnzusammenhang.“

Als Erkenntnisinteresse benennt Rogge,

ob die jeweils verwendeten Erzählmuster oder Narrative in jeder Epoche gelungene Auslegungen und Interpretationen von aktiven und passiven Erleben und Erfahrungen sind. Daran schließt sich die Frage an, ob es epochenübergreifende Erzählmuster der Kriegserfahrungen gibt oder man aufgrund von kulturellen Paradigmen, die als Konventions- oder Erwartungssysteme agierten, eher mit zeit- und kulturspezifischen Erzählmustern rechnen muss.

Es ist einsichtig, dass ein Konferenzsammelband hier nur begrenzte Ergebnisse liefern kann, zu sehr unterscheiden sich die Beiträge in ihrem Zugriff auf ihre jeweiligen Quellentexte.

Martin Claus kommt dem von Rogge vorgeschlagenem Zugang mit seinem Beitrag zu den Croniques des Jean Froissart aus dem Hundertjährigen Krieg sehr nah, wobei zugleich die Einschränkung gemacht werden muss, dass Froissart selbst nicht Teilnehmer an den beschriebenen Kampfhandlungen war. In den Croniques wird dennoch ausschließlich die Perspektive der Kombattanten eingenommen: „Erfahrung – allgemein und die im Krieg – [wird] positiv gewertet und als Ausweis von persönlicher Qualität gesehen“. Besonders eindrücklich ist die Analyse des Berichts Froissarts von seinen Gesprächen mit dem Söldnerführer Bascot de Maulhéon, für den Krieg einzig ein Geschäft ist: „Als Einnahmequellen erscheinen Lösegeldzahlungen und die Abgaben von besetzten Burgen und Städten, als verlustbringend die eigene Gefangenschaft und erzwungene Aufgabe von Herrschaften. Waffenstillstände oder gar Friedenszeiten sind Zeiten der Erwerbslosigkeit“. Diese matter-of-fact-Darstellung steht durchaus im Gegensatz zur heutigen Erwartungshaltung, in der Krieg doch vorwiegend negativ beurteilt wird. Gewalterfahrung wird bei Froissart, so Clauss, als „Helden-Geschichte“ gefasst. Dennoch: „Auch bei Froissart ist der Krieg mitunter voller Verletzungen, Blut und Tod, die Präsentation von Kriegserfahrung bliebt aber immer an den Habitus der sich über den Krieg definierenden und im Krieg als Helden stilisierten Ritterschaft rückgebunden.“

In Matthias Däumers Beitrag Arthurische Archivierung, der sich Thomas Malorys Le Morte Darthur widmet, wird das 1469/70 fertiggestellte und natürlich eindeutig fiktionale Werk einer Re-Lektüre unter dem Aspekt der höchst wahrscheinlichen Teilnahme seines Autors am Hundertjährigen Krieg sowie seiner – vermutlich aus politischen Gründen vorgenommenen – zwanzig Jahre dauernden Haft bis zu seinem Lebensende unterzogen. Aus der Pflicht der Arthusritter, am Hofe Zeugnis abzulegen, entsteht im Text ein Archivierungsverfahren, das sich in verschiedenen Variationen wiederholt, gegen Ende des Textes aber auch immer unsicherer wird, zumal Lanzelot versucht, es auszuhebeln, um sein Verhältnis zu Ginover zu verschleiern. Däumer zieht in aller gebotenen Vorsicht Parallelen:

Malory, der zur Zeit der Abfassung aufgrund einer […] Verurteilung nicht mehr auf eine archivarische Anerkennung, auf die Objektivierung seiner subjektiven Kampferfahrung hoffen darf, zieht sich somit auf die letzte Möglichkeit zurück, eine Stimme zu erhalten: die poetische Selbstermächtigung des Dichters, der durch den arthurischen Filter dem gegenwärtigen englischen Thron eben nicht eine nationale Stärke, sondern einen unvermeidlichen Untergang prophezeit, der aus der Gottesferne seiner Geschichtsschreibung resultiert.

Damit entfernt sich der Beitrag zwar etwas weit vom Thema des Sammelbandes, sensibilisiert aber für die Komplexität der Beziehungen zwischen Geschichte und Fiktion.

In Jörg Rogges eigenem Beitrag Kämpfer als Schreiber. Bemerkungen zur Erzählung von Kampferfahrung und Verwundung in deutschen Selbstzeugnissen des späten Mittelalters werden die Leitfragen aus der Einleitung naturgemäß deutlich konsequenter verfolgt und beantwortet. Es zeigt sich dabei, dass die Konzentration auf nur einen Text die Perspektive möglicherweise zu sehr einengt. Rogge bezieht sich stattdessen auf ein Korpus von Selbstzeugnissen neun unterschiedlicher Autoren, deren prominentester Götz von Berlichingen ist. Nach einer Klärung der Begriffe „Körper“ und „Leib“, die auch den Komplex des Gender berücksichtigt, widmet sich Rogge nicht nur der Kriegserfahrung an sich, sondern auch der Kampfausbildung:

Die Ausbildung zum Kämpfer/Ritter mit einem spezifischen Körpertraining hatte neben den positiven Aspekten auch den Verlust von anderen an den Leib gebundenen Aspekten zur Folge. Emotional weichere Anteile der Persönlichkeit wurden nicht ausgebildet, sondern unterdrückt, weil sie für gefährlich gehalten wurden. Die kriegerische Männlichkeit ist eben nicht gegeben und selbstverständlich, vielmehr muss der entsprechende Habitus erworben und durch entsprechendes Verhalten verstetigt werden.

Dies gilt dann entsprechend auch für den Umgang mit Verwundungen im Zuge kriegerischer Handlungen: An einer ganzen Reihe von Beispielen aus seinen Quellen expliziert Rogge die Funktion von Verwundungen im Narrativ von kriegerischen Handlungen als „Bewährungsproben, an denen sich ihre Fähigkeit, die Leitidee der kriegerischen Männlichkeit in die Praxis des Mannseins umsetzen zu können, beweisen lässt.“ (S. 96) Darüber hinaus ist das Beispiel des Friedrich von Flersheim beeindruckend, der seine Erwartungen, für den Einsatz seines Körpers – der Verwundung und den Verlust von Körperteilen zur Folge haben konnte – von seinen Dienstherren Kompensation zu erhalten beziehungsweise auch nach seiner Zeit als Kämpfer versorgt zu werden, klar zum Ausdruck brachte. Gerade in Rogges Beitrag wird Krieg als pragmatisches Geschäft greifbar, aber auch, wie von Körpern innerhalb von Männlichkeits- und Kriegerdiskursen erzählt wurde – Diskurse, die auf bestehende Muster zurückgriffen und sie zugleich auch an die Rezipienten weitervermittelten.

In Matthias Schnettgers Beitrag „Sauberer Krieg“ oder Katastrophe. Der Sacco di Mantova (1630) in zeitgenössischen Darstellungen, der im Vergleich zu den anderen Beiträgen, die sich mit früheren Phasen beschäftigen, auf eine deutlich breitere Quellenlage zurückgreifen kann, werden die Ereignisse rund um den Fall der Stadt am 18. Juli in Zeugnissen vonseiten beider Kriegsparteien geschildert. Aus der kaiserlichen Sicht von Seiten Ferdinands II. handelte es sich um eine beschränkte Strafexpedition, die dazu dienen sollte, im dynastischen Erbkonflikt „die eigene lehnsherrliche Autorität zur Geltung zu bringen.“ Deswegen sei die Erstürmung und Plünderung der Stadt „professionell und gemäß den anerkannten Grundsätzen des Kriegsrechts unter größtmöglicher Schonung der Zivilbevölkerung durchgeführt“ worden. Zwei zeitgenössische Chroniken geben dagegen die Sicht der Mantuaner Bevölkerung wieder. Hier stehen die Kriegserfahrungen der Zivilbevölkerung im Vordergrund, die zudem durch nicht direkt von Menschen verursachte Umstände wie die Pest oder ungünstiges Wetter mit zusätzlichem Leid verschlimmert wurden. Von einem der Chronisten, Giovanni Mambrino, werden die dreitägigen Plünderungen als „martirio“ bezeichnet, er wechselt dafür sogar von der dritten in die erste Person. In der kaiserlichen Quelle mit beredtem Schweigen übergangen, war das Ausmaß der Plünderungen offenbar das Außergewöhnliche bei der Eroberung der Stadt, sodass sich der Ausdruck „Sacco di Mantova“ als der bleibende Begriff für die Geschehnisse durchsetzte, und nicht etwa „caduta“ (Fall) oder „conquista“ (Eroberung) wie Schnettger festhält. Der Autor spricht sich schließlich auch dafür aus, den oberitalienischen Raum „in Bezug auf die Gewalterfahrungen im Dreißigjährigen Krieg als einen besonderen Erfahrungsraum zu identifizieren, in Abgrenzung von den nordalpinen Erfahrungsräumen, die stärker von konfessionellen Gegensätzen und den damit einhergehenden Deutungsangeboten […] geprägt waren.“ So sind die Feinbilder im Vergleich eher moderat gezeichnet, nicht zuletzt vielleicht auch deswegen, weil die politischen Verhältnisse schon bald wieder auf Annäherung umschalteten.

Im letzten Beitrag des Sammelbandes, „Berichtsweiß erzehlen“. Krieg und Bekenntnis in Grimmelshausen „Courasche“ von Ulrich Breuer, wird einmal mehr deutlich, dass es mit einem Text allein nicht getan sein kann, denn auch er greift zumindest auf einen zweiten zurück, das Kriegstagebuch des Söldners Peter Hagendorf. Die historische Quelle fungiert als eine Art „Sicherheitsnetz“ für den literarischen, fiktionalen Text, der einerseits satirisch ist, andererseits erst lange nach Kriegsende verfasst wurde. Mit Breuer „lässt sich festhalten, dass Frauen nach der perspektivisch verkürzten Auskunft des Söldnertagebuchs im Dreißigjährigen Krieg nur als Ehefrauen ihrer kämpfenden Männer so etwas wie einen Alltag mit eigenen Handlungsspielräumen und Erfahrungsmöglichkeiten erleben konnten.“ Das Pferd konnte da schon einmal wichtiger sein als die Frau. Außerhalb der Ehe begegnen Frauen bei Hagendorf jedenfalls nur als Kriegsbeute oder Tote.

Bemerkenswerterweise deckt sich der Befund, dass Schutz vor Soldaten nur wiederum durch Soldaten zu haben war, auch mit dem literarischen Text der Courasche, die immerhin acht Ehen eingeht. Allerdings wird bei ihr innerhalb der Ehe teilweise das Machtgefüge auf den Kopf gestellt. Außerhalb der Ehe droht jedoch ständig Vergewaltigung. Besonders an der Erzählanlage ist dabei auch, dass die soziale Perspektive viel weiter ausfällt als im Tagebuch, „denn sie [d.i. Courasche] stammt aus dem böhmischen Hochadel, durchläuft auf ihrer Abstiegsbewegung alle Stände und endet als rechtlose Zigeunerin und Vagantin.“ Doch von Gewalt waren Frauen aller gesellschaftlichen Schichten betroffen.

Spezielles Augenmerk legt Breuer auf die paratextuellen Elemente, in denen zum Beispiel der männliche (auktoriale) Erzähler darauf ausgerichtet ist, Erzählung und Person der Courasche negativ zu bewerten. Dafür seien zum einen wohl die Friedenszeiten zum Zeitpunkt der Publikation verantwortlich, zum anderen aber auch das Genre Bekenntnisse. Das Erzählen der Courasche stelle „die patriarchalen Grundlagen dieses Gefüges [d.i. das Normengefüge des späten 17. Jahrhunderts], insbesondere die Schutz- und Ordnungskompetenz und damit auch das Gewaltmonopol des männlichen Souveräns, in Frage“. Das verknüpft Breuer dann weniger mit Belegen aus dem Text, sondern vielmehr mit seiner Interpretation einer auffälligen Vignette eines Falters aus der Erstauflage des Buches: Durchaus schlüssig sieht er darin eine Erinnerung „an dasjenige, was die Gewalt des Dreißigjährigen Krieges für immer zerstört hat: die zeitgenössischen Entfaltungsmöglichkeiten junger Frauen, vornehmlich aus dem Adel.“

Die Diversität der Ansätze im Sammelband lässt vermuten, dass die vorhandenen Quellen, mag ihre Zahl auch begrenzt sein, noch lange nicht ausgeschöpft sind. Als Ergebnis einer im März 2015 in Wien stattgefunden Tagung ist sein Verdienst neben der Darstellung und Ausführung einer Vielzahl von methodischen Zugängen nicht zuletzt sein Vermögen, beim Lesen neue Fragen aufzuwerfen.

Titelbild

Jörg Rogge (Hg.): Kriegserfahrungen erzählen. Geschichts- und literaturwissenschaftliche Perspektiven.
Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
162 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837637083

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