Rohe Existenz

In ihrem Debüt „Eisfuchs“ schildert die Kanadierin Tanya Tagaq das Leben der Inuit in der arktischen Natur

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer auf Karten nach Cambridge Bay auf der Victoria-Insel sucht, findet eine kleine Siedlung auf einer riesigen, beinah unbewohnten Insel weit im Norden Kanadas. Es ist die Gegend, in der die Sängerin und Autorin Tanya Tagaq aufwuchs, und der Schauplatz ihres literarischen Debüts Eisfuchs. In diesem ist es dann neben der namenlosen Ich-Erzählerin vor allem auch die übermächtige und alles bestimmende Natur der Arktis, die als Protagonistin auftritt.

Dabei ist der Band weniger Roman als Konglomerat. Immer wieder durchbrechen lyrische Verstexte die Prosa, immer wieder wird der Fließtext auch von Skizzen und Zeichnungen abgelöst. Der Drang zur Vermittlung des kargen Lebens in der Arktis ist größer als die konventionelle Prosaform. Dieses Leben zeigt sich im Verlauf des Buches als so rau, wie auch der traditionelle Kehlkopfgesang der Inuit anmutet, den die Autorin und Sängerin sonst auf der Bühne präsentiert.

Wir folgen der Erzählerin zunächst durch eine Schulzeit und Pubertät, die geprägt ist von langen, grausam kalten Wintern, kurzen Sommern, vielen Zigaretten, viel Alkohol und Lösungsmittel, das für kurze Highs von den Kindern inhaliert wird. Auch die erwachsenen Einwohner der kleinen Siedlung stellen sich als ebenso roh und gefährlich heraus wie die sie über tausende Kilometer hinweg umgebende Natur. In alkoholisierten Nächten kommt es immer wieder zu Übergriffen und Missbrauch, die aber in der Abgeschiedenheit des hohen Nordens und der Einsamkeit der ewigen Winternacht verhallen, als kümmerte es niemanden.

Diese Härte und Sinnleere bringt Tagaq dabei in einer Sprache zum Ausdruck, die nicht nur karg ist wie die Landschaft, sondern stets auch in Metaphern und Bilder übergeht, die die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Mensch und Umwelt, ja zwischen Leben und Tod nach und nach verwischen. Alles ist belebt, alles ist Traum, alles ist verknüpft. Wir tauchen damit ein in eine ganzheitliche Weltauffassung, in der auch die Tiere, die Felsen, die Kälte als handelnde und denkende Charaktere erfahrbar werden. Dafür, diesen außergewöhnlichen Klang so schlüssig ins Deutsche gebracht zu haben, darf man im Übrigen der Übersetzerin Anke Caroline Burger danken.

Die erbarmungslose Gleichgültigkeit der übermächtigen Natur, mit der immer aufs Neue Leben ausgelöscht und wieder erschaffen wird, erzeugt aber nicht nur Gefahren, sondern auch Geschenke. Stets ist eine tiefe Verbundenheit mit der Natur spürbar, die letztlich in dem Ausgeliefertsein ihr gegenüber wurzelt. Trotz allem ist diese Verbundenheit aber auch den Menschen gegenüber zu fühlen, welche sich wiederum gegenseitig gleichermaßen ausgeliefert sind. Gewalt und Zuneigung, soziale Kälte und menschliche Wärme wühlen zu gleichen Teilen in der Gemeinschaft und gehören letztlich zu ihr wie Leben und Tod zum Lauf der Dinge.

Je weiter wir der Protagonistin durch die Geschichte folgen, desto mehr wird nun nicht nur die Natur zur Hauptfigur – auch die erzählte Welt fasert mehr und mehr ins Transzendentale aus. Es wird eine Welt erkennbar, in der auch die Ahnen als Geister stets anwesend sind, alte Mythen fortdauern und der Mensch als Individuum und Gattung mehr und mehr an Bedeutung und Gewicht verliert. Unterdessen steigert sich die starke Naturverbundenheit zu einer immer auch gewaltvollen Erotisierung. Die Erzählerin befriedigt einen riesigen Fuchs, vereint sich mit einem Eisbären, wird von Fischen und den Polarlichtern penetriert und schließlich von der Natur geschwängert.

Es ist eine körperliche und auch geistige Vereinigung mit der Umwelt, dem Universum, die hier literarisch durchgespielt und ins Extrem getrieben wird und die sich letztlich aus einem ganzheitlichen Verständnis von Leben speist, in dem Tod und Gewalt ganz selbstverständlich in eins fallen mit Geburt und Liebe. Auf radikale Weise wird Eisfuchs damit zu einem philosophischen Werk, das uns nicht nur die Beschränktheit unserer Begriffe aufweist, sondern auch an unseren Platz in und an unsere Verbindung zu der Welt erinnert. 

Zuletzt kann man dem Text lediglich vorwerfen, dass er es – insbesondere in den lyrischen Einschüben – gelegentlich zu weit treibt mit den kryptisch-metaphorischen Parataxen und damit stellenweise Gefahr läuft, sprachlich ins Abgedroschene, ins Esoterische abzurutschen. Doch das ist Bestandteil der rohen und knappen Sprache Tagaqs und letztlich vielleicht der Preis für eine so lebendige und frische Schilderung des Lebens vom Rande des unendlichen Eises.

Titelbild

Tanya Tagaq: Eisfuchs.
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger.
Verlag Antje Kunstmann, München 2020.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783956143533

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