Nicht alle Geheimnisse gelüftet

Viola Rohner serviert mit „42 Grad“ raffiniert kondensierte Lesekost

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vergänglichkeit kann auch ohne Melancholie erlebt und erzählt werden, das setzt sich als Eindruck bei der Lektüre von 42 Grad fest. Insgesamt neun Erzählungen umfasst der Band von Viola Rohner, aus deren Feder sogar die Schilderungen banaler Alltagsverrichtungen die Spannung nicht sinken lassen.

Den Auftakt macht ein Meerschweinchen, das der Verwesung überlassen wird. Warum? Auch darauf kann man sich bei Rohner verlassen: Sie lüftet nicht jedes Geheimnis. Etliches darf der Leser respektive die Leserin für sich selbst dechiffrieren. Fünfmal wechselt die Erzähl-Perspektive in dieser Geschichte, die von der Vereinzelung von Familienmitgliedern handelt, die dem Lauf der Dinge geschuldet ist. Vorhersehbar ist – wie auch in den anderen Geschichten – nichts.

In die übliche Oberflächlichkeit einer Halloween-Party taucht Melissa ein, als sie mit ihren beiden Kindern einer Einladung aus ihrer Nachbarschaft folgt. Allerdings beherrscht sie als neu Zugezogene die Landessprache nur mangelhaft. Durch ihre Augen verfolgen wir distanziert das Geschehen, das die Verbindungslosigkeit der fröhlich plappernden Gäste raffiniert spiegelt. Bunt und später sogar ausgelassen geht es zu – konzipiert als muntere Tapete, die unterschwellige Vorurteile und die Bereitschaft zur Diskriminierung unterstreicht, indem sie sie zu kaschieren versucht.

Verbindungen und Verbindlichkeit, Eigenwilligkeit und Einsamkeit – damit sind die Protagonist*innen befasst. Im scheinbar Gleichbleibenden steckt bereits der Keim zum Richtungswechsel. Wodurch dieser ‚ausbricht‘ und wohin die Reise geht, ist jedes Mal aufs Neue fesselnd. Nicht immer ist ein Vorsatz erkennbar gewesen. Für den Aus- oder Aufbruch kann eine unverhoffte Möglichkeit den Ausschlag geben. Und danach ist alles anders? Nein, was wankt, schaukelt sich auch wieder zurecht, manchmal auch in den angestammten Bahnen. Lesend genießt man ein Kondensat, das satt macht, ohne dass man den jeweils offenen Ausgang der Erzählsequenzen bedauert. Dank der nüchternen Sprache kann man sich Zeit lassen, den tieferen Schichten des Offenbarten nachzuspüren.

Viola Rohner, geboren 1962, entblättert gekonnt Schicksale, die in Erinnerung bleiben. Dazu benötigt sie nichts Spektakuläres – weder bei den Schauplätzen noch bei den Handlungen. Diese könnten freilich nicht vielfältiger angelegt sein. Unter anderem werden wir nach Schottland, Moskau und Australien entführt. Die Autorin selbst hat längere Zeit in Dänemark und in den USA gelebt.

Titelbild

Viola Rohner: 42 Grad. Erzählungen.
Lenos Verlag, Basel 2018.
228 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783857874888

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