Das Chamäleonhafte des Menschen

Gerhard Roth legt mit dem Venedigroman „Die Irrfahrt des Michael Aldrian“ den ersten Teil einer neuen Trilogie vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Venedig haben sich schon viele große Schriftsteller inspirieren lassen, man denke nur an Henry James, Thomas Mann oder Ernest Hemingway. Gerhard Roth war dagegen bislang vor allem auf Wien abonniert. Nicht nur Romane hat der 75-jährige Grazer der Donaumetropole gewidmet, sondern auch literarische Reiseführer, mit besonderem Augenmerk auf Wiens Nachtseiten. Eben solch einen Baedeker der etwas anderen Art hat auch der Held von Roths neuem Roman im Sinn, nur eben nicht für Wien, sondern die Lagunenstadt:

Er wollte jetzt nichts anderes, als seinen Reiseführer über Venedig schrei­ben, sagte er sich, in dem er die Stadt wie ein Patho­loge sezieren würde. Zuerst den Kopf, das Gehirn: das Archivio di Stato di Venezia, aber auch San Servolo, die kleine Insel, auf der sich das Irrenhaus befunden hatte, dann den Dogenpalast und die Biblioteca Mar­ciana. Die Augen von Venedig waren die Museen und die Ohren das Teatro La Fenice. Als nächsten Schritt würde er die Verdauungsorgane, die Ostarias, Res­taurants, die Speisen und Getränke untersuchen. […] Und zuletzt die Venen, Adern und Nervenbahnen in den Gliedmaßen der Stadt, die engen Gassen, die Kanäle und den Strand auf dem Lido.

Michael Aldrian ist bislang kein Schreiber gewesen, sondern Souffleur, „maestro suggeritore“ an der Wiener Oper. Ein Hörsturz zwingt den Einzelgänger mit Mitte 40 zu einem beruflichen Neustart. Während seines Venedigaufenthalts klappert Roths Protagonist dann gemäß seinem Vorsatz alle Sehenswürdigkeiten ab, die Aktenlabyrinthe des Staatsarchivs ebenso wie die berühmten Bleikammern, aus denen einst Casanova fliehen musste. Gerhard Roth gibt dies praktischerweise immer wieder Gelegenheit, in seinen Venedigroman faszinierende Exkurse einzustreuen, etwa über den venezianischen Karneval – der, wie könnte es auch anders sein, zufällig gerade ansteht. Nur sein Romanheld kommt nicht zum Schreiben, sondern wird unversehens in eine „Verbrechensgeschichte“, wie Roth seine Romane mit Krimi-Elementen bezeichnet, hineingezogen.

Denn kaum in der Stadt der Kanäle angekommen, muss Aldrian feststellen, dass sein dort lebender Bruder Jakob und dessen Frau verschwunden sind. Bald wird er selbst überfallen; es folgen ein Paket mit Falschgeld, später eines mit einer abgeschnittenen Hand. Inmitten all der verkleideten Menschenmengen ist die Paranoia allgegenwärtig; einmal raunt jemand verschwörerisch „M.“, die Mafia. Doch statt den wackeren Commissario Galli einfach seine Arbeit machen zu lassen, sucht Aldrian auf eigene Faust nach seinem Bruder – und kommt sich dabei immer mehr selbst abhanden.

Aldrian war mit seinen Gedanken weit, ganz weit weg. Er fixierte den Schneefall im Scheinwerfer­licht des Vaporettos und stellte sich vor, dass Sekun­den, Minuten, Stunden, Jahre als winzige, gefrorene Kristalle vom Himmel fielen. Die Vergangenheit löste sich ebenso auf wie die Zukunft, es existierte allein die Gegenwart, der Augenblick, der ein durchsichtiges Teilchen aus Glas in einem Kaleidoskop war, welches fortlaufend seine Muster änderte oder plötzlich still­stand und in der Dunkelheit gänzlich verschwand.

Nicht lange und Aldrian erscheint zunehmend selbst verdächtig, in den Augen seiner neuen Geliebten Beatrice ebenso wie in denen des Lesers. Roths Protagonist beginnt zu lügen, schwankt zwischen Gefühlskälte und rätselhaften Zornesausbrüchen. Bald pflastern erste Leichen seinen Weg. Wie schon in früheren Werken erzeugt Gerhard Roth auch hier mit labyrinthischen Satzkonstruktionen und der Detailobsession eines Psychotikers eine opulent-dichte, hypnotisierende Prosa. Vor allem ihretwegen ist dieser Roman lesenswert, entpuppt sich die Verbrechensgeschichte doch letztlich als wenig originell. Zumal Aldrians Verwandlung vom harmlosen Opernliebhaber zum ausgebufften Detektiv nicht so recht überzeugt. Warum zum Beispiel kann Roths Held plötzlich schneller schießen als ein Auftragskiller?

Die Antwort darauf muss man wohl eher im Menschenbild des Autors als im Roman suchen. Gerhard Roth gilt mit seinen zwei großen Prosazyklen Die Archive des Schweigens und Orkus längst als Klassiker der österreichischen Literatur. Seine Werke beschäftigen sich mit der Grenze von Normalität und Wahnsinn, mit der Verfasstheit von Tätern und Opfern, vor allem aber mit der Frage, wozu der Mensch fähig ist. Und was das angeht, so ist für Roth ausgemacht: Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern vom Chamäleon, wie er einmal in einem Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs erklärte: „Das ununterbrochene Lügen im Alltag, die automatischen Halbwahrheiten, aus denen die Lügengebäude bestehen, das Chamäleonhafte des Menschen und das Apodiktische sind immer schon der Anfang der Zerstörung und des Grauens gewesen.“

Sein Landsmann Robert Musil sprach von der „Gestaltlosigkeit des Menschen“, also der Fähigkeit des Menschen zum Guten ebenso wie zum Bösen. Mit Die Irrfahrt des Michael Aldrian hat Gerhard Roth nun den ersten Band einer neuen Trilogie vorgelegt. Auf den Protagonisten – und uns Leser –  dürfte also noch einiges zukommen.

Titelbild

Gerhard Roth: Die Irrfahrt des Michael Aldrian. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
492 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783100660695

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