Hans Blumenberg oder das Abenteuer des Denkens

Zum 100. Geburtstag des Philosophen ist eine große intellektuelle Biographie von Rüdiger Zill erschienen

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur wenige Philosophen im späten 20. Jahrhundert haben ihr öffentliches, mediales Bild so reduziert wie Hans Blumenberg. Es gab wenige offizielle Fotos, die er durchgehen ließ, für Interviews oder Fernsehauftritte stand er nicht zur Verfügung. Er wollte allein durch seine Philosophie sprechen. Seine Person sollte den Blicken der Öffentlichkeit verborgen bleiben und eine mediale Inszenierung empfand er als störend. Sein Leben und seine Welt, ihre Lesbarkeit, heißt es in der neuen Biographie von Rüdiger Zill, „sei nur durch das Licht seiner Zeit und ihrer Kämpfe möglich. Unter dem Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Mutter verfolgt, geprägt vom katholischen Milieu seines Vaters und einem humanistischen Elitegymnasium in der Hansestadt Lübeck, ist er am Ende ein typischer Vertreter der alten Bundesrepublik“. Theologie, Naturwissenschaften und Zeitgeschichtliches, alles hat er begierig in sich aufgesogen und aus ihm sein Werk geschaffen.

„Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘“, heißt es einmal in einem seiner kürzeren Essays. Die indirekte, Umwege, Umständlichkeiten und Abschweifungen suchende geistige Aneignung der Welt waren für den Philosophen Lebensthema und methodisches Vorgehen zugleich, sie gehören mithin zu seiner „Philosophie der Distanz“: „In der Nachdenklichkeit liegt ein Erlebnis von Freiheit, zumal von Freiheit der Abschweifung.“ Dieser absolute Wille zum Umweg und Exkurs macht die Lektüre seiner Schriften zum Teil mühsam und aufwendig. Daher gilt er trotz aller stilistischen Eleganz als schwieriger und nur schwer verständlicher Autor.

Rüdiger Zill nennt Blumenbergs Philosophie die eines absoluten Lesers. Nur Spott habe er für jene Philosophen übriggehabt, „deren Stolz es ist, wenig gelesen zu haben. Sie stocken gern das Wenige zu einem Fast-nichts auf. Man wird sanft genötigt, die kaum vorhandene Bibliothek auf ein paar gehobelten Brettern zu besichtigen und sich zu überzeugen, dass die überwiegenden Dedikationsstücke nur hinten beim Register aufgeschnitten sind.“

Sein Biograph beschreibt Blumenbergs „Entfaltung der Antimethode“ als einen Affront für alle Systemdenker. Doch aus seinen Umwegen und Ablenkungen entwickelte er seine Theorie der Unbegrifflichkeit, des Mythos und der Metapher. Zum 100. Geburtstag hat Rüdiger Zill, der in Berlin und London Philosophie, Germanistik und Soziologie studierte und am Einstein Forum in Potsdam als wissenschaftlicher Referent tätig ist, mit seiner gewichtigen Lebens- und Werkbeschreibung des Philosophen eine „intellektuelle Biographie“ vorgelegt, die Maßstäbe setzt.

Hans Joseph Konrad Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Er war der älteste Sohn von Josef Carl Blumenberg und seiner Ehefrau Else Blumenberg, geb. Schreier. Von 1931 bis zu seinem Abitur besuchte er das durch Thomas Mann berühmt gewordene Katharineum zu Lübeck.

Ab 1939 studierte er Theologie an der Philosophisch-theologischen Akademie in Paderborn. Er setzte das Studium 1940 an der Philosophisch-theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt im Sommersemester fort. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Mutter wurde er vom Nationalsozialismus gezwungen, sein Studium aufzugeben. Der endgültige Ausschluss „jüdischer Mischlinge“ erfolgte im Oktober 1940.

Im Wintersemester 1945 begann er ein Philosophie-Studium in Hamburg, vor allem bei Ludwig Landgrebe. Nebenfächer: Griechisch und Deutsche Literatur. In diesem Jahr heiratete er Ursula Heinck. Aus dieser Ehe stammen drei Söhne und seine Tochter Bettina Blumenberg, die auch den Nachlass ihres Vaters verwaltet.

1949 erfolgte die Promotion in Kiel. Der Titel der Dissertation lautet: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Er verfasste die in streng akademischem Duktus gehaltene Arbeit innerhalb weniger Monate. Die mit wiederholten Rekursen auf die Philosophie Heideggers geführte Auseinandersetzung mit dem Denken des christlichen Mittelalters ist jetzt erst(mals) als gedrucktes Buch erschienen.

1950 erfolgte die Habilitation, seine Antrittsvorlesung trägt den Titel „Das Verhältnis von Natur und Technik als Philosophisches Problem“. Als Philosophieprofessor lehrte er in Hamburg, Gießen, Bochum und schließlich in Münster; 1960 erhielt Blumenberg eine Ordentliche Professur in Gießen, drei Jahre später fand dort das erste der legendären Kolloquien der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ zum Thema „Nachahmung und Illusion“ statt. 1970 erfolgte der Wechsel zur Universität Münster. Ab 1978 veranstaltete Blumenberg keine Seminare und Kolloquien mehr; er zog sich in seine „Schreibhöhle“ zurück und nahm seine Lehrverpflichtungen bis zu seiner Emeritierung 1985 nur noch durch Vorlesungen wahr; er wünschte keine Diskussionen über das Vorgetragene.

Mit seinen Schriften zu Metaphern, seinen Studien zur Genese des neuzeitlichen Denkens sowie einem Spätwerk, das sich überwiegend anthropologischen Fragestellungen widmete, hat er ein in der Philosophie des 20. Jahrhunderts einzigartiges Werk geschaffen, darunter Klassiker wie Die Legitimität der Neuzeit (1966), Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975), Schiffbruch mit Zuschauer (1979) oder Arbeit am Mythos (1979), die Lesbarkeit der Welt (1981) und Lebenszeit und Weltzeit (1986) sowie Höhlenausgänge (1989).

Zu seinem 100. Geburtstag am 13. Juli 2020 sind zwei neue Bücher des Philosophen erschienen: die bislang nicht publizierte Kieler Dissertation sowie aus dem Nachlass die Studie Realität und Realismus. In ihr widmet sich der Denker den nicht nur erkenntnistheoretischen Fragestellungen: „Was meinen wir, wenn wir von Realität sprechen und was bedeutet Realismus im Denken? Wie tritt der Mensch in Kontakt mit der Wirklichkeit und bildet ein Bewußtsein von ihr aus?“ Es sind Grundfragen der Philosophie, die sich durch seine ganze Forschung ziehen. Ein eigenes Werk hierzu hat er zu Lebzeiten zwar nicht publiziert, aber projektiert. Das aus einem Konvolut druckreifer Texte aus dem Nachlass entstandene Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbegriff und arbeitet dessen historische, kulturelle und anthropologische Dimensionen heraus. Blumenberg zeigt, dass die Thematisierung von „Wirklichkeit“ auf Umwegen geschieht, und zwar dann, wenn wir durch eine Störung, eine „Hürde“ gezwungen werden, unseren selbstverständlichen Zugang zur Welt zu hinterfragen. Realität und Realismus darf als ein weiterer Baustein zu Blumenbergs Theorie der Lebenswelt gelesen werden.

Sein letztes noch zu seinen Lebzeiten publiziertes Buch Höhlenausgänge hat zweifellos eine besondere Stelle im Entwurf seiner „Theorie der Unbegrifflichkeit“, die sich einer In-Eins-Setzung von Philosophie und Abstraktion verweigert. Es soll in ihr „die Arroganz des Begriffs gegenüber der Anschauung, der Deduktion gegenüber der Beschreibung auf ihr Maß ,reduziert‘ werden, das im Anlehnungsbedürfnis aller theoretischen Begrifflichkeit an imaginative – mythische, metaphorische, narrative – Orientierungen“ liege. Ein Beispiel hierfür ist, wie der Philosoph sich mit dem Werk und der Person Ernst Jüngers befasst und in beiden nicht weniger als die Gestalt des zwanzigsten Jahrhunderts erkennt. Die 2007 unter dem Titel Der Mann vom Mond aus dem Nachlass herausgegebenen Essays und Notizen zu Jünger umfassen einen Zeitraum von vierzig Jahren. Jünger ist für Blumenberg der einzige deutsche Schriftsteller, der sich in seinem Werk unbeirrt mit dem Problem des Nihilismus, mit der „Vernichtung der Welt“ beschäftigt habe. Die Parabel Auf den Marmorklippen zähle zu den „wichtigsten Ereignissen der deutschen Geistesgeschichte“, so der Philosoph kurz nach dem Krieg. Die Figuren, an denen der Erzähler seine Zeit erfasst, lösen bei Blumenberg Reflexionen darüber aus, wie in einer Welt der Maschinen und Waffen, in einer Welt der Simulakren überhaupt noch zu leben sei. Hierbei findet er Verbindungen zu eigenen philosophischen Reflexionen in der Lesbarkeit der Welt sowie die ungeheure Differenz von „Weltzeit und Lebenszeit“.

In Jüngers Essaysammlung Das abenteuerliche Herz wird eine Figur des menschlichen Schicksals beschrieben, die „der Verlorene Posten“ heißt. Diese Figur befindet sich in der Lage eines Schachspielers, der sich zum langen Endspiel rüstet, obwohl er den Verlust der Partie als unvermeidlich erkannt hat, eine Insel inmitten drohender Niederlage und Auflösung. Sie kann dem Einzelnen das Gefühl geben, „Letztes und Endgültiges“ zu tun. Als solchen Einzelnen sah sich Jünger und vielleicht sah sich auch Blumenberg so.

Titelbild

Rüdiger Zill: Der absolute Leser. Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
816 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587522

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hans Blumenberg: Realität und Realismus.
Herausgegeben von Nicola Zambon.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
232 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587461

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Titelbild

Hans Blumenberg: Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie.
Herausgegeben von Benjamin Dahlke und Matthias Laarmann.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
232 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587454

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