Russell, postsäkular gerahmt

Zur Neuausgabe von „Warum ich kein Christ bin“

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor ein paar Jahren überschrieb der Philosophiehistoriker Kurt Flasch die bekenntnishafte Bilanz seines vornehmlich der Philosophie des Mittelalters gewidmeten Forscherlebens mit dem Titel Warum ich kein Christ bin und begründete die Titelübernahme von Bertrand Russells berühmtem Essay stilistisch. In den fast 90 Jahren nach dessen Erscheinen war dieser Titel als Muster für alle möglichen Negativ-Bekenntnisse so produktiv geworden („Warum ich kein XY bin“), dass es schon wieder originell war, ihn wörtlich zu übernehmen.

Der ursprünglich 1927 als Vortrag vor der National Secular Society gehaltene Bekenntnistext des britischen Philosophen wurde, erstmals 1957 zusammen mit etlichen anderen seiner religionskritischen Schriften herausgebracht, in immer neuen Auflagen und Ausgaben zu einem Klassiker der modernen Religionskritik. Nach einer Erstübersetzung in den 1930er Jahren erlangte eine Taschenbuchausgabe von Warum ich kein Christ bin 1968 bei Rowohlt mit einem Vorwort des Autors eigens für die deutsche Ausgabe die größte Verbreitung.
Die nun vorliegende Ausgabe mit einer Neuübersetzung von Grete Osterwald verzichtet auf gut die Hälfte der Texte des Rowohlt-Bandes, die recht speziell sind. Das allerdings wird mehr als ausgeglichen durch die Begleittexte von Martin Walser und Sebastian Kleinschmidt, die mehr als gemeinhin Vor- beziehungsweise Nachworte es tun, als kommentierende Co-Essays Russells Text neu beleuchten, durchaus kritisch.

Doch worum ging es dem Autor? Nachdem er die klassischen Gottesbeweise in ihrer Unzulänglichkeit entlarvt hat – durchaus im Wissen, dass die Menschen nicht aus intellektuellen Gründen an Gott glauben – , geht der Philosoph auf die Person Jesu Christi ein, die ihm im Vergleich zu Buddha und Sokrates keineswegs als so vorbildlich gilt, vor allem, weil Jesus an die Hölle glaubte. Für Russell ist „die ganze Lehre vom Höllenfeuer als Sündenstrafe […] eine Lehre der Grausamkeit“ und die christliche Gottesidee verwurzelt in altorientalischer Despotie und eines freien Menschen unwürdig. Am Beispiel der katholischen Sexualmoral will Russell die Fortschrittsfeindlichkeit der katholischen Kirche und ihr Verhindern von Lebensglück durch rigide Vorschriften vor Augen führen. Vollends mit seinem Rationalismus unvereinbar ist die Angst als Fundament der Religion: „Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Angst ist die Mutter der Grausamkeit, daher nimmt es nicht Wunder, dass Grausamkeit und Religion stets Hand in Hand gegangen sind“. Es verwundert ein wenig, dass Russell auf die bis heute ungelöste Frage der Theodizee mit keinem Wort eingeht, hätte sie sich doch für seine Zwecke lohnend angeboten.

Die Russellʼsche Kritik gipfelt im Vorwurf, dass „die christliche Religion in ihrer kirchlich organisierten Form der Hauptfeind des moralischen Fortschritts in der Welt war und bis heute ist“. Stattdessen setzt er seine Hoffnung auf Wissenschaft und Intelligenz, um angstfrei und in reiner Diesseitigkeit Leben und Zukunft zu gestalten.

In der Druckfassung ist der mündliche, mitunter ironisch gefärbte Vortragston (mit Publikumsanrede) des Philosophen erhalten geblieben, was neben den vielen anschaulichen Beispielen, einer klaren Gliederung sowie dem Verzicht auf Verweise und Fußnoten, die auch nach 90 Jahren für den heutigen Leser nicht nötig sind, erheblich zur Lesbarkeit beiträgt. Mit ein wenig Alltagsverstand und einem Analogiebeispiel lässt Russell die Luft aus dem altbekannten moralischen Theologen-Argument, es müsse deswegen einen Gott geben, damit angesichts der evidenten Ungerechtigkeit in dieser Welt wenigstens im Jenseits für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt ist – er deutet es zum Wahrscheinlichkeitsargument um und stellt fest: Wer würde bei einer Kiste Orangen, deren obere Lage verdorben ist, schon folgern: „Die unteren müssen gut sein, um das Gleichgewicht wiederherzustellen“. Übertragen auf die moralische Weltordnung spräche das eher gegen die Existenz eines Gottes als dafür.

Um wie viel näher steht der angelsächsische Religionskritiker hinsichtlich des intellektuellen Stils wie in der völligen Abwesenheit von eiferndem Furor und Verbissenheit doch seinem schottischen Kollegen und Vorgänger David Hume mit den ebenfalls klassischen und auch heute noch gut lesbaren Dialogues Concerning Natural Religion (postum erschienen 1779) als seinem atheistischen Nachfolger Richard Dawkins, der gut 80 Jahre nach Russell mit dem Rundumschlag The God Delusion (dt. Der Gotteswahn) für Aufsehen – und fast ein Dutzend Gegen-Publikationen – sorgte.

In sieben weiteren Schriften, die in der vorliegenden Ausgabe versammelt und in den 1920er, 30er und 50er Jahren entstanden sind, entfaltet Russell seine Religionskritik im Rahmen eines rationalistisch-wissenschaftlichen Weltbildes, indem er einzelne Aspekte wie die Unsterblichkeit der Seele, Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten oder den Zusammenhang von Religion und Moral noch einmal besonders herausarbeitet. Vor allem in der längeren Schrift Was ich glaube von 1925 entwickelt Russell seine Ansichten über Moral, Glück und einem guten Leben.

1968, im Jahr, in dem die Taschenbuchausgabe von Russells Schriften zur Religion erschien, wurden auch längst vergessene Bücher wie Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott von Joachim Kahl publiziert. Heute, ein halbes Jahrhundert später, haben sich der Zeitgeist und die Debattenlage in Sachen Religion aus vielerlei komplexen Gründen erheblich gewandelt. Die Debatte, die der Philosoph Herbert Schnädelbach in der Zeit mit seinem Generalangriff auf das Christentum entfesselte, liegt nunmehr auch schon fast 20 Jahre zurück. Heute ist die Religion im deutschsprachigen Raum auch philosophisch wieder salonfähig geworden, wie die „glaubensphilosophische“ Abhandlung Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche (2014) des Berliner Philosophen Volker Gerhardt zeigt. (Dem Buch folgte keine kontroverse Debatte, sondern eine Huldigungs-Konferenz mit Tagungsband in Festschrift-Manier.) Im angloamerikanischen Raum, wo die philosophische Auseinandersetzung um Evolution, Biologie und Geist viel lebendiger und kontroverser geführt wird, schlägt dagegen der bekennende Atheist naturalistischer Provenienz Daniel C. Dennett mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen zu Geist und Materie, Evolution und Religion ganz andere Töne an.

Unter diesen Vorzeichen tut einer Neuausgabe von Russells Klassiker eine Kommentierung gut, um ihn neu ins Gespräch zu bringen und auszuloten, was er uns noch zu sagen hat.

Martin Walser nun liefert ein kluges, ja listiges Vorwort mit dem Titel Die Theologie des Mangels. Ein Versuch, Bertrand Russell zu ergänzen, in dem er sich vor dem Autor verbeugt und erklärt: „In seiner Sprache kann man Russell nicht widersprechen“. Daher lässt sich Walser gar nicht erst auf die Argumentation im Einzelnen ein, sondern will die Begrenztheit der rationalistischen Rede über Gott und Religion deutlich machen und diese Sicht mit anderen Erfahrungen ergänzen. So fällt Walsers Replik noch viel bekenntnishafter und subjektiver aus als Russells Essay. Das Voltaireʼsche „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“ ist gewissermaßen sein Motto. (Russell hingegen denkt ganz aus dem Geist von Stendhals „Die einzige Entschuldigung Gottes ist, dass er nicht existiert“.) Der Schriftsteller setzt dem Unglauben des Philosophen gerade nicht seine Gläubigkeit entgegen – Streitgespräche nach diesem Muster gibt es ja zuhauf –, sondern kultiviert die Erfahrung des Glaubensmangels und der Erkenntnisaporie unter Rückgriff auf Gewährsleute, die er „Gottesmänner“ nennt. Es sind Glaubensdenker, wie man auf Deutsch so schön sagt: von Friedrich Hölderlin über Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche bis zum dialektischen Theologen Karl Barth. Deren Evidenzmodus sei das Zeugnis und nicht der Beweis: „Die Sprache der Religiösen ist Zeugnis. Beweise überzeugen. Zeugnisse helfen“. Diese Relativierung im Gestus einer ‚Ergänzung‘ mutet geradezu an wie eine Volte aus der Trickkiste der Postmoderne, die monistische Wahrheitsansprüche pluralisierend in Sprachen und Codes (heute spricht man allerwärts von „Narrativen“) aufgelöst hatte.

Das ist legitim für einen Literaten wie Walser; warum sollte es neben dem Gott der Theologen und dem der Philosophen nicht auch einen Gott der (religiös musikalischen) Literaten geben? Was jedoch in der Tat historisch wohl etwas zu relativieren wäre, ist Russells ungebrochener Wissenschaftsoptimismus als Hintergrund seiner Religionskritik. Martin Walsers suchendes Umkreisen und Kultivieren einer religiösen Mangelerfahrung ist eine typisch postsäkulare Perspektivierung, die ohne den Urheber und Stichwortgeber dieser Epochenmarkierung, Jürgen Habermas, wohl kaum denkbar wäre. Dieser hatte in einem Diskussionsband, einige Jahre nach seiner Friedenspreisrede Glauben und Wissen von 2001, gegenüber der säkularen Vernunft ein „Bewusstsein von dem, was fehlt“ angemahnt.

Walser lässt die kulturanthropologisch schwer zu widerlegende Angst als Basis aller Religion gelten, will sie aber ergänzt wissen durch das Bedürfnis nach Verehrung und Schönheit. Dafür beschwört er in einer Art ästhetischer Theodizee eine Reihe von zu epochalen Kunst- und Musikwerken gewordenen „Religionsdenkmalen“ der europäischen Kulturgeschichte von Dante Alighieri über Johann Sebastian Bach bis Anton Bruckner herauf, die ihre Schönheit religiöser Leidenserfahrung verdanken und gerade dadurch Trost zu spenden vermögen.

Eine andere Relativierung der rationalistischen religionskritischen Position Russells – die als Historisierungsversuch nämlich – überzeugt weniger. Der Philosoph habe, wie ähnlich auch bereits Nietzsche in seiner Gotteskritik, eher auf die Gottesvorstellung und Glaubenspraxis seiner Zeit reagiert. Das stimmt insofern nicht, als kein Leser in Russells Bezugnahme auf Christliches das Christentum im Großbritannien des frühen 20. Jahrhunderts wiedererkennen würde, bezieht er sich doch auf allgemeinchristliche Glaubensinhalte, die bei Russell überdies immer auch als exemplarisch für Religion überhaupt zu verstehen sind. Wenn dem so wäre, verdiente die Schrift nur noch historisches Interesse.
An diesem Vorwurf ist aber insofern etwas Wahres, als Russell zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine „heiße“ Religion vor Augen hatte und Walser, fast 100 Jahre später, eine „kalte“. Diese glückliche Begriffsopposition verdanken wir Rüdiger Safranski, der sie, nicht zuletzt im Hinblick auf den islamischen Fundamentalismus, 2010 in einem vielbeachteten Spiegel-Essay geprägt hat. Gemeint ist damit, dass eine ursprünglich „heiße“, in ihren Moralgeboten und Erlösungsversprechen ernsthaft geglaubte und das Leben der Gläubigen bestimmende Religion wie es das Christentum einst war und der Islam es in weiten Teilen immer noch ist, gleichsam erkaltet, wenn sie die drei Freudʼschen Kränkungen des Menschen (Kopernikus, Darwin, Freud) durchgemacht hat und ihre „konkrete Glaubenswelt psychologisiert, symbolisiert, ritualisiert“ wurde. In einer aufgeklärten, entzauberten Welt muss sich diese Religion nun gegenüber anderen Weltdeutungen und Sinnangeboten behaupten. Nur vor diesem Hintergrund sind die oft diagnostizierte „Wiederkehr der Religion“ und eine „Theologie des Mangels“ wie sie Walser vorschwebt, überhaupt möglich.

Jetzt, nachdem all das verblasst ist, an dem ein Freidenker wie Russell in seiner Zeit noch Anstoß nehmen konnte, kann Religion als Sinnressource und Kulturleistung in einer säkularen Welt wiederentdeckt und gewürdigt werden. Safranski spricht von einer durch Respektierung der Menschenrechte geläuterten Zivilreligion und findet dafür ein Antonionis Filmklassiker Blow up aus den 1960er Jahren entlehntes Bild. In der Schlussszene des Films findet ein Tennismatch mit einem unsichtbaren, imaginären Ball statt, der das Spiel in Gang hält wie ein realer. Als diesen Ball, so Safranski, müsse man sich den Gott der Zivilreligion vorstellen.

Diesem Gedanken folgt auch Sebastian Kleinschmidt in seinem Nachwort Russells Religionskritik und die Theologie des Als-ob, das in der Kritik des Rationalismus ganz auf der Linie Walsers liegt. Kleinschmidt spricht einer Sichtweise zu, „welche die religiöse Welt betrachtet wie eine Welt des Als-ob“, vergleichbar den lebensorientierenden Fiktionen der Kunst. Doch gilt auch hier: Nur eine Religion, die bereits schon „erkaltet“ ist, wird man sich derart ausgedünnt, noch über Immanuel Kants regulative Gottesidee hinausgehend, vorstellen wollen. Für den Gläubigen eines „heißen“ Christentums ist die Bibel eine verbindliche Offenbarungsschrift und kein Buch mit lebensklugen Geschichten. Zwar nicht in den säkularen europäischen Gesellschaften – erzkatholische Länder wie Polen einmal ausgenommen –, wohl aber in anderen Weltregionen wie Amerika oder Afrika ist das Christentum alles andere als eine zivilreligiöse Als-ob-Fiktion, wofür fundamentalistischer Bibelglaube samt Kreationismus in Nordamerika nur ein Beispiel ist. Und der Islam ist es erst recht nicht. Der Schmerz derjenigen, die aus streng religiöser Überzeugung gezüchtigt und bestraft, oder denen aus religiösen Gründen eine medizinische Behandlung verweigert wird, ist eben kein Als-ob-Schmerz, sondern höchst real. Genitalverstümmelungen im Namen der Religion sind nicht nur nicht ein symbolisches Als-ob, sondern dazu noch irreversibel.

Solange noch mit „heißen“ Religionen Zwang, Gewalt und repressive Moral einhergehen, sind schöngeistige Apologien des Glaubens wie die von Walser und Kleinschmidt weltfremd und überhaupt keine Entkräftung von Russells Religionskritik. Heute hätte dieser als Aufklärer seinen Vortrag womöglich eher „Warum ich kein Muslim bin“ überschrieben (wenn es diese Schrift nicht schon gäbe) und wäre dafür, gerade in seinem Heimatland noch mehr als woanders, sicherlich Repressionen ausgesetzt – so wie er solchen Repressionen in den 1940er Jahren in den USA als freidenkender Atheist und Vorkämpfer für die Rechte Homosexueller in einer Kampagne gegen seine Berufung an die New Yorker Universität ausgesetzt war. Für die deutsche Ausgabe dieses Essays könnte dann ja statt Martin Walser Navid Kermani das Vorwort schreiben.

Kein Bild

Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin.
Mit einem Vorwort von Martin Walser und einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.
Übersetzt aus dem Englischen von Grete Osterwald.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957572684

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