Das Wort als Waffe

Ein Gespräch mit dem Dramatiker und Autor Kristo Šagor

Von Cynthia AbelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cynthia Abel

Kristo Šagor erhielt als Theaterautor und Regisseur zahlreiche Preise. Einige seiner Stücke gehören zu den vielgespielten im deutschsprachigen Raum. Mit Cynthia Abel sprach er für literaturkritik.de über seine Arbeit an der dramatisierten Fassung von Orwells 1984 für das Staatstheater Darmstadt.

 

Ist 1984 ein Stückauftrag gewesen?

Ja. Der Schauspieldirektor des Staatstheaters Darmstadt hat eine Inszenierung von einem Regisseur gesehen, der eine Stückfassung von mir verwendet hat. Er hat sich in die Handschrift verknallt und dann haben die beiden entschieden, dass sie mich fragen wollen, ob ich ihnen etwas schreibe. Der Stoff 1984 war ein Vorschlag des Staatstheaters Darmstadt selbst.

Persönliches Interesse spielt aber auch eine Rolle?

Ja. Es war erst mal so, dass ich dachte: Oh Gott, wie soll ich das denn bloß machen? Ich vertraue meinem Instinkt inzwischen so sehr – wenn dieser Gedanke kommt, dann möchte ich es genau deswegen machen! (lacht)Ich habe schon sehr viel Prosa adaptiert, auch zweimal mythische Stoffe bearbeitet, einmal Die Nibelungen, dann Die Argonauten. Bei 1984 dachte ich daran, dass der Inhalt sehr düster und kalt ist und habe das Buch dann nochmal gelesen. Dabei habe ich gemerkt, dass es gar nicht so leicht ist, mit dem Protagonisten mitzugehen, weil er nicht viel Identifikationsfläche bietet. Dann habe ich entschieden: Cool, mache ich sehr gerne!

Sie sagen, Sie haben schon mehrere Prosastücke adaptiert: Wie gelingt Ihnen der Wechsel vom Roman zur Bühnenfassung?

Es ist zu unterscheiden, ob ich diese Adaptation selbst inszeniere oder jemand anderes. Grob überschlagen habe ich bestimmt schon 15-20 Prosatexte adaptiert. Mein Vorgehen: Ich filtere aus dem Set an Figuren leitende Erzählfiguren heraus. Ich mache Listen. Ein Taxifahrer, der einmal erwähnt wird, oder ein Mann auf der Straße usw. Dann hat ein Text vielleicht 86 Figuren oder 111. Aus diesen filtere ich dann heraus, wer Erzählfigur auf der Bühne sein soll. Oft weiß ich auch schon, wenn ein Theaterhaus Einschränkungen hat, dass es dann nur fünf oder sechs Erzählfiguren geben kann. Sobald ich entschieden habe, wer die erzählenden Figuren auf der Bühne sind, ordne ich Spielaufgaben zu. Dazu treffe ich die Unterscheidung zwischen großen, mittleren und kleinen Spielaufgaben. Ich entscheide oft schon, bevor ich den ersten Satz schreibe, wer welche Spielaufgabe bekommt, manchmal aber auch beim Schreiben selbst. Bei 1984 hatte ich die schöne Situation, dass uns das Theater gesagt hat: Ihr könnt machen, was ihr wollt. Wenn ihr 20 Leute wollt, bekommt ihr die. Wenn ihr einen Monolog machen wollt, macht einen Monolog. Erst mal war ich begeistert: 20 Leute auf der Bühne! Aber dann habe ich bei der Lektüre gemerkt: Es findet ein Diskurs statt, Winston kämpft mit seiner Lebensrealität. Auf der auktorialen Ebene werden manchmal Sachen über seinem Kopf benannt, aber man erkennt, dass Winston das nicht denkt. Das ist vor allem an den Tagebuchpassagen zu erkennen: Die haben ein viel niedrigeres Abstraktionsniveau oder Fassungsvermögen als das, was die Erzählinstanz uns sagt. Dann kam ich darauf, dass ich eigentlich nicht viele Erzählerfiguren brauche. Klar, die Julia ist naheliegend, genau wie der O’Brien. Dann hört es intuitiv schon auf. Die anderen sind eigentlich schon nur noch Episodenfiguren. Ich wollte noch mindestens einen weiteren und habe mich für Syme entschieden. Den habe ich mit noch ein paar anderen zusammengelegt, beispielsweise Winstons Kollege Ampleforth, andere wiederum gestrichen. Als fünfte zentrale Figur BIG BROTHER. Da wussten wir schon, dass die Figur wahrscheinlich von einem Chor besetzt und gesprochen wird.

Im Fall von 1984 wird das Stück also schon szenisch mitgedacht beim Schreiben?

Es ist üblicherweise nicht so, dass ich eigene Sätze erfinde, sondern jene verwende, die im Originaltext vorliegen. In meiner Fantasie ist es im besten Fall so, dass man die Augen zumacht und den Originaltext auf einem hohen Niveau hört, weil die Schauspieler:innen genau wissen, was sie sagen, und wenn man die Augen wieder aufmacht, wird nochmal eine ganz andere Ebene geschenkt. Das, was im Raum passiert, stellt neue Bezüge her. Bei 1984 weiß ich, nicht ich werde das inszenieren, sondern Jörg Wesemüller. Der ist wiederum mit meinem Werk sehr gut vertraut. Er hat schon zwei Uraufführungen von mir gemacht und Inszenierungen von mir gesehen. Deshalb habe ich dieses Mal so gearbeitet, als ob ich selbst uraufführen würde. Eine Sache, die ich so noch nie gemacht habe: Am Anfang des Textes habe ich Sätze von Orwell benutzt, dann werden aber schon Störsätze dazwischen geschossen. Der Syme ist es, der immer wieder so etwas sagt wie sinngemäß: 1984 wurde Indira Gandhi, die indische Ministerpräsidentin, ermordet. Eine Seite später: 1984 überlebte Margaret Thatcher ein Attentat von Extremisten. 1984 wurde 1946 bis 1948 geschrieben und 1949 veröffentlicht. Von uns aus gesehen ist das Vergangenheit, die es schon gab. Winstons Geschichte wird komplett überschrieben von Gegenwarts-Diskursen. Wollen wir Dystopien? Was bringen uns Dystopien? Oder wollen wir Utopien? Das brave Nacherzählen wird mittendrin also gebrochen.

Inwiefern ist der Text noch relevant für die Gegenwartsdramatik?

Ich finde, das liegt leider auf der Hand. Politisch passieren Dinge, von denen man nicht dachte, dass sie nach klugen und friedvollen Jahrzehnten in Europa passieren könnten. Ob das jetzt der Krieg in der Ukraine ist, Putin und Erdogan oder mit Blick auf Polen und Ungarn die Anti-Demokraten, die Anti-Pluralisten, die in vielen Ländern sehr erfolgreich sind. Gott sei Dank scheint es noch kein Land auf dieser Welt zu geben, das so funktioniert, wie in diesem Roman beschrieben. Vielleicht am ehesten Nordkorea. Gegen die technischen Möglichkeiten (Algorithmus, Cloud), die bis heute entstanden sind und nach wie vor weiter entstehen, sind die, die Orwell für seinen Kosmos erfindet, geradezu harmlos. Jede:r kauft sich ein Handy und lässt sich freiwillig überwachen. Mit Smartwatch und Tablett, automatisch mit GPS-Position versehenen Fotos usw. sind wir Konsument:innen in dem Datenalptraum und gleichzeitig das Rindvieh, das diese Daten bereitwillig zur Verfügung stellt. Wir brauchen gar keinen Großen Bruder, damit wir der Totalüberwachung zustimmen. In China lässt sich mit dem Bürger:innen-Bewertungssystem schon sehen, wohin das führen kann.

Es steckt alles schon in Orwells Text. Fast schon prophetisch.

Ja, wie bei Jules Verne. Bis auf Reise zum Mittelpunkt der Erde hat er mit allem Recht bekommen. (lacht)

Inwiefern wird Ihr Text in der Inszenierung auf der Bühne präsent sein?

Mal abwarten, was Jörg damit macht. Wenn ein Text häufiger gespielt wird, hat man als Autor die luxuriöse Situation, dass man ganz entspannt sein und gucken kann, was die da so machen. Leider ist es aber so, dass eine Uraufführung sehr wirkungsvoll ist. Das heißt gute Texte in schlechten Uraufführungen werden nicht mehr nachgespielt und schlechte Texte in guten Uraufführungen werden nachgespielt. Viele Leute, die in der Dramaturgie oder in der Regie arbeiten, wissen das nicht so sauber zu unterscheiden. Das finde ich schockierend. Ich freue mich sehr auf Jörgs Inszenierung.

Ist der Text ausschließlich auf Deutsch verfasst?

Ich habe ein paar englische Sätze drin. Ich zitiere beispielsweise aus dem Film V wie Vendetta. Aus dem Buch direkt natürlich „Big Brother is watching you“. Aber ganz wenige Sätze auf Englisch, überwiegend deutsch.

Sie haben Ihre Textproduktion als Student im Kontext studentischer Theatergruppen begonnen…

Geschrieben habe ich schon als Kind. Das erste Mal Regie geführt habe ich mit 14. Das habe ich damals nicht so genannt, aber da habe ich Klassenkamerad:innen für ein Schulstück inszeniert. Dann war ich im Lübecker Jugendclub. Und danach in einer studentischen Gruppe. Als Regisseur war ich gerade zwei Jahre als Leiter am Kinder- und Jugendtheater Konstanz. Die meiste Zeit habe ich aber selbstständig gearbeitet.

Sind Bücher gefährlich?

(lacht) Ich weiß nicht, welches Buch ich gefährlich finde. Vielleicht Niccolo Machiavelli Der Fürst – das habe ich allerdings nicht gelesen. Ich weiß nicht, ob Adolf Hitlers Mein Kampf wirkungsmächtig war für irgendetwas Böses. Als kirchenkritischer Mensch überlege ich gerade, ob die Bibel etwas Gefährliches verzapft hat. Der Text selbst aber eigentlich nicht. Nachdem ich ein paar Beispiele durchgedacht habe: Nein, eigentlich sind Bücher nicht gefährlich. Natürlich ist das Wort mächtig. Das Wort kann eine Waffe sein, die man so oder so verwenden kann. Zur Verteidigung, zur Attacke, für das Gute, für das Böse. Gegen das Böse, gegen das Gute. Insofern würde ich der Sprache eine große Wirkmacht zugestehen. Aber ich würde eher sagen, es ist gefährlich, wenn Leute anfangen, Bücher zu verbrennen oder zu verbieten.

Goldsteins Buch oder auch Winstons Tagebuch sind ja sehr zentrale Gegenstände in 1984, die auch haptisch greifbar sind.

Ja, für ihn ist das gefährlich. Das liegt daran, dass er in einem menschenverachtenden, zerstörerischen System lebt. Das System ist gefährlich und er setzt sich durch sein nicht-konformes Handeln einer Gefahr aus. Ob das nicht-konforme Handeln darin besteht, dass man ein Buch liest oder schreibt oder sich ein heroisches Symbol auf die Wangen malt oder ein verbotenes Lied in der Öffentlichkeit singt, ist austauschbar.

Sie haben das Stück gerade fertig geschrieben. Was passiert als Nächstes?

Ich werde wahrscheinlich noch ein paar Kleinigkeiten ändern. Übermorgen treffe ich mich mit dem Regisseur. Meine überwiegende Arbeit ist jetzt aber abgeschlossen.

Der Regisseur liest dann auch über den Text. Inwiefern verändert sich dadurch nochmal etwas an der Fassung?

Beim letzten Mal, als ich etwas für ihn geschrieben habe, haben wir es so gemacht, dass wir uns vor Probenbeginn getroffen und den Text laut gesprochen haben. Da gab es dann noch einige Stellen, bei denen ich nicht wusste: Ist das zu ausführlich? – und konnte dann das Feedback direkt vom Regisseur bekommen. Jörg Wesemüller ist einer der wenigen Menschen, denen ich so sehr vertraue, dass er bei der Textarbeit mitreden darf. (lacht)

Ansonsten ist es nun so, dass ich im deutschsprachigen Raum arbeite und bei uns Regie sehr stark ist. In verschiedenen Kulturräumen ist es ja ganz unterschiedlich, was Regie bedeutet. Im englischsprachigen Raum beispielsweise ist es so, dass ein Text zu Tode geworkshopt werden kann. Da wird ganz viel diskutiert, Dramaturg:innen und Regieführende greifen ständig in das ein, was der:die Autor:in verzapft hat. Wenn der Text aber fertig ist, dann darf man kein Komma mehr ändern. Das ist mir sehr fremd. Wie das in unserem Sprachraum funktioniert, scheint mir sehr viel intuitiver und sinnvoller: Schreib, was du willst, und mit bestimmten Einschränkungen machen wir dann auf der Bühne auch, was wir wollen. Klar, das Urheberrecht ist stark. Wenn ich bei der Uraufführung der Meinung wäre, das ist völliger Schwachsinn, dann steht es mir zu, als der Mensch, der das geschrieben hat, die weiteren Aufführungen zu verbieten. Aber ich weiß nicht, was passieren müsste, dass ich auf die Idee käme, so etwas zu machen. Ich habe schon ein paar schreckliche Inszenierungen von Stücken von mir erlebt. Das kommt schon vor. Aber das ist eher die Ausnahme. Es ist naheliegender, dass eine Inszenierung einfach nur langweilig wird statt grauenhaft.