Identität ist ein komplexes Gewebe

Mithu Sanyal führt in „Identitti“ das Konstrukt ‚race‘ ad absurdum

Von Léonie KlotzbücherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Léonie Klotzbücher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihre Sachbücher Vulva. Das unsichtbare Geschlecht und Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens sowie der Vorschlag, Opfer von sexualisierter Gewalt als „Erlebende“ zu bezeichnen, brachten Mithu Sanyal in den letzten Jahren Intervieweinladungen, Shitstorms und Vergewaltigungsdrohungen ein. Identitti, der erste Roman der Kulturwissenschaftlerin, schaffte es nun zurecht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Im Roman hat sich Saraswati, Professorin für Postcolonical Studies an der Universität Düsseldorf, jahrelang als Person of Colour ausgegeben, obwohl sie eigentlich weiß ist und Sarah Vera Thielmann heißt. Die Studierenden, die sich wie ein Kult um die legendäre Professorin gesammelt hatten, sind empört und auch der Twitter-Sturm lässt nicht lange auf sich warten. Besonders erschüttert ist jedoch Saraswatis Studentin Nivedita, die im Versuch, ihre eigene Identität zu verstehen, die Bücher ihrer Professorin las wie eine religiöse Schrift, und nun nicht mehr weiß, an was sie glauben soll. So ist Niveditas Umgang mit dem Skandal beinahe zentraler als jener selbst. Denn hinter der Wut ihrer Mitstudierenden und dem Hass im Netz steckt mehr: Es ist eine persönliche Kränkung – der Verrat einer Verbündeten, einer Mutterfigur, einer Schwester.

Wenn Nivedita nicht gerade mit der hinduistischen Göttin Kali spricht, die auf wundersame Weise immer wieder aus dem Nichts auftaucht, schreibt sie auf ihrem Blog unter dem Namen Identitti oder Mixed-Race Wonder-Woman über Rassismus und Sexismus. Als Tochter einer deutsch-polnischen Mutter und eines indischen Vaters fühlt sich Nivedita nie eindeutig genug: „zu wenig beheimatet, zu wenig diskriminiert“, ein „Mischmasch aus Herkünften und Verbundenheiten“. Identitätslos, wie sie sich empfindet, lässt sie sich von ihrem Umfeld leiten – von ihrem stets mit sich selbst beschäftigten Freund Simon, der sie in regelmäßigen Abständen verlässt, um ebenso regelmäßig wiederzukommen, von ihrer Cousine Priti, die stets das Ende ihrer Gespräche bestimmt und von der charismatisch-manipulativen Professorin Saraswati, die ihr das Gefühl gibt, jemand zu sein.

Aber Saraswatis Passing stellt alles auf den Kopf. Schließlich ist es Saraswati gewesen, die ihr beibrachte, was kulturelle Aneignung bedeutet. Wenn Saraswati nicht PoC ist, sind ihre Bücher dann noch echt? Darf man sich seine Hautfarbe aussuchen? Ist Saraswati nicht richtig PoC, weil sie die Erfahrung der Sklaverei nicht in ihrer DNA trägt? Schränkt Weißsein ein? Wäre sie als weiße Professorin genauso ernst genommen worden? Auf der Suche nach Antworten kommt Nivedita der Aufforderung nach, Saraswati in ihrer Luxuswohnung zu besuchen. Während Studierende für die Entlassung ihrer Professorin demonstrieren, stellt Nivedita all die Fragen, die das Internet und sie selbst so sehr umtreiben. Saraswati baut ihr mütterlich-intimes Verhältnis zur auserwählten Nivedita mehr und mehr aus, bleibt in ihren Gesprächen aber doch die selbstgefällige Starprofessorin am Rednerpult, die immer alle Fakten parat hat. So erfährt Nivedita zwar mehr als alle anderen, aber ganz wird sie das Gefühl, nicht alles zu wissen, nie los.

Sanyal schreibt feinfühlig und klug über die komplexen Auswirkungen von Rassismus und verliert dabei nie die ironische Leichtigkeit, von der man durch den Roman getragen wird. Während Saraswati jeden Satz ihrer Gegenspieler zerpflückt, kommen unterschiedlichste Menschen zu Wort, die alle irgendwie Recht haben und irgendwie auch vollkommen falsch liegen. Beispielsweise Niveditas Mutter, für die das Thema Rassismus in Deutschland erledigt ist, seit Schimanski als Pole den Kommissar im Tatort spielen darf, oder ihre Mitbewohnerin Barbara, die Nivedita vorwirft, das Gefühl von Unzugehörigkeit für People of Colour pachten zu wollen.

Wenn im Laufe des Romans die Realität in den Handlungsfaden einbricht, erschrickt man kurz – bis man akzeptiert, dass Fiktion hier eben nicht angebracht wäre. Überhaupt ist Identitti ein komplexes Gewebe aus fiktiven und realen Figuren, Tweets und Themen. So basieren die Figur Saraswati und einige Twitter-Reaktionen auf dem Skandal um die US-amerikanische Professorin Rachel Dolezal und die Journalisten, die Nivedita Interviewanfragen schicken, gibt es wirklich. Sanyal klärt in einem Nachwort darüber auf, welche Details fiktiv und welche real sind, was durchaus wichtig ist, um den realen Rassismus und seine brutalen Folgen nicht als Fiktion abtun zu können und seinen Opfern stattdessen sogar bewusst ein literarisches Denkmal zu setzen. 

Nicht nur, wer den Leseempfehlungen im Anhang folgt, wird viel lernen – über Rassismus als „das Wasser, in dem wir schwimmen“, über Kolonialgeschichte und Identität. Am Ende des Romans bleibt von ‚race‘ als Konstrukt nicht einmal mehr das übrig. Identitti eröffnet eine Debatte – und ist deshalb so wichtig. Sodass es am Ende nicht mehr heißen muss: „PoCs, das sind Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?“ Denn Sanyal zeigt, dass im öffentlichen Diskurs über Identitätspolitik auch tiefgreifendere Fragen gestellt werden sollten.

Titelbild

Mithu M. Sanyal: Identitti.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783446269217

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