Labyrinthe des Liebens

Keine banalen Strickmuster des Schicksalhaften in Michael Reicherts Erzählband „Liebe[n] & Tod[e]“

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Besondere, das Michael Reicherts, Professor der Psychologie, in seine zwölf Erzählungen von der Liebe und vom Tod packt, ist vielfältig und in jedem Fall als etwas zutiefst Menschliches erkennbar. Bestechend ist seine Genauigkeit in der Beobachtung. Die mag interessant sein, doch wird jedes Geschehen so akribisch vorbereitet und entschlüsselt, dass kein vorantreibender Sog entsteht, weil wenig Hoffnung auf Überraschungen aufkommt.

Um welche Liebe(n) geht es? Um die bei Paaren, langjährigen Freundinnen und Neu-Bekanntschaften, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, um enttäuschte Liebe und jene, die über den Tod hinaus die Seele beschäftigt. Der Titel des Buches wird mit eckigen Klammern geschrieben: Liebe[n] & Tod[e] – eine Andeutung dafür, dass hier ungewöhnliche Herausforderungen für das Vorstellungsvermögen lauern. Hier lässt ein Junge aus Eifersucht eine Heerschar von Ameisen auf seine pubertierende Schwester los – mit nicht revidierbaren Konsequenzen; eine Künstlerin stellt mit großem Erfolg „eigentümlich leuchtende“ Acryl-Gemälde aus, denen Fantasien mit ihrem Liebhaber über die Verwendung von Asche aus Urnen vorausgegangen waren.

Zuweilen beginnt es ganz harmlos – wie die Perspektive von Kindern bei einer Trauerfeier, die unter dem Tisch kauern und Beine beobachten. Anderes lässt schon von vornherein vermuten, dass etwas ins Abstruse zugespitzt wird – wie in der Episode mit den Liebesbriefchen auf dem Friedhof. Fürsorge, Respekt, Mitleid, Ekel, Begehren – das Spektrum der Empfindungen und Begegnungen ist breit. Trotzdem bleibt Überraschendes rar, weil die Genauigkeit in der Erzählweise vieles sehr früh erahnen lässt. Man kann sich jedoch darauf verlassen, hier nichts Banales aufgetischt zu bekommen – keine Schicksale, eher Schicksalhaftes. Geduld und Toleranz helfen, um sich in dem zurechtzufinden, was der Verlag als „Labyrinthe des Liebens und Verlierens, der Sehnsüchte und der Suche nach dem anderen“ annonciert. Die Grundthematik ist Begegnung; wie ist Nähe herstellbar, wie lassen sich Nähe und Distanz – je nach Charakteren – verträglich regulieren. Liebe, deren Wandelbarkeit sowie Vergänglichkeit spielen ebenfalls eine zentrale Rolle.

Die Erzählweise ist durchwirkt von Rückblicken, Verflechtungen, Szenenwechseln, Sinnlichem und Analytischem. Teilweise mutet das kompliziert an, gleichzeitig ist es aber raffiniert, was den Geist herausfordert und wider Erwarten einige, wenige Überraschungsmomente bietet, auf die man längst nicht mehr zu hoffen gewagt hat. Sie können noch so klitzeklein sein – ihre Herleitung ist dennoch ein kunstvolles Konstrukt. Überwiegend sind die ProtagonistInnen nicht leicht zu dechiffrieren, die aufgesplitteten Extremsituationen werden so lange ent-wickelt, bis sie sattsam auserzählt sind. Man muss Freude haben an detaillierten Beschreibungen und weiterlesen wollen, auch wenn sich das Ende der Geschichte längst vorhersehen lässt.

Kunstvoll Konstruiertes strengt beim Lesen an. Beispielsweise werden Analysen eines verstorbenen Freundes wortreich als „unerbittlich“ erinnert:

Man war kaum einmal in einer reifen, menschlich-sympathischen Komfortzone, sondern immer in dem morbiden und aufregenden Duft von Unvollkommenheit, des Triebdurchbruchs (ein Wahnsinnswort!?), des Unberechenbaren und Aggressiven, des Verruchten und Grenzwertigen, oft sogar bei der Frage, ob man den Kontakt seelisch überleben würde?

Eine Passage, die zur Beschreibung der zwölf Erzählungen auf dem Buchcover passt, sie seien wie ein Versuchsraum, „in dem ihre emotionale Intensität ist wie eine Operation am offenen Herzen“. Wobei operierende MedizinerInnen gemeinhin als kopf-kühle Spezies gelten, die sich ihrer Handgriffe und Risiken hochkonzentriert bewusst sind. Der Unterhaltungswert von Reicherts Erzählungen mag verflachen in den genauen Herleitungen von Regungen, Fantasien, Handlungen, Wendungen etc., aber emotional verhaken sich trotzdem Kleinigkeiten beim Lesen, die mit einer gewissen Langzeitwirkung das Durchhaltevermögen belohnen.

Titelbild

Michael Reicherts: Liebe[n] & Tod[e]. Erzählungen.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2022.
202 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826077005

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