Schattenseiten der Pflege

In Tobias Schlegls Erzählung „Strom“ geht es um Missstände auf einer Demenzstation

Von Paula Fittkau-KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Fittkau-Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tobias Schlegl, bekannt als Moderator und Autor, erschüttert mit seinem neuesten Roman Strom die Leser*innen. Handlungsort des Romans ist eine geriatrische Einrichung mit Schwerpunkt Demenz. Schlegl schildert die Herausforderungen, denen Pflegekräfte und Patient*innen gleichermaßen gegenüberstehen.

Die Geschichte, die Schlegl erzählt, ist von persönlichen Erfahrungen geprägt, die er während seiner Tätigkeit als Notfallsanitäter gesammelt hat. Er gewährt einen authentischen Einblick in das Leben auf einer Demenzstation, das von Hoffnung und Verzweiflung geprägt ist. Im Fokus steht die junge Auszubildende Nora, die mit ihren eigenen Konflikten hadert, während sie sich als Praktikantin mit den Pflegekräften und Patient*innen der Station auseinandersetzt. Nora lernt auf der Geriatrie-Station die Kollegen Diddy und Frank kennen. Diddy begegnet, wie Nora, den Patient*innen einfühlsam und empathisch. Im Gegensatz dazu steht Franks grober Umgang mit den Bewohner*innen: „Er packt die dünnen Haare und drückt den Kopf nach vorn. […] ‚Komm schon. Nicht so wehleidig!‘“.

Was Strom besonders macht, ist die Darstellung der ungeschönten Wirklichkeit: Schlegl scheut sich nicht, die negativen Seiten des Pflegealltags zu beleuchten. Seien es die ethischen Dilemmata, denen sich die Pflegekräfte stellen müssen oder die Missstände, die die Lebensqualität der Patient*innen beeinträchtigen. Insbesondere Fachpersonal fehlt und die wenigen Krankenpfleger*innen arbeiten stets unter enormen Zeitdruck. Schlegl führt geschickt Noras Mutter in die Handlung ein, indem diese auf die Station von Nora, Diddy und Frank verlegt wird. Die Vermutung, dass Frank bei Noras Mutter in das Schicksal eingreifen und über Leben und Tod entscheiden will, baut einen Spannungsbogen auf, der sich durch die gesamte Erzählung zieht.

Schlegl verleiht allen Patient*innen und Pfleger*innen Namen – so fällt es leicht, Sympathie für die Figuren zu entwickeln. Besonders Nora führt den Leser*innen vor Augen, wie Zerissenheit, insbesondere moralische Konflikte, aber auch Trauer und Tod den Alltag einer Pflegerin auf der Demenzstation beherrschen. Herzzerreißende Momente der Fürsorge stehen in Strom neben verstörenden Szenen, die Machtmissbrauch vorführen. So kommentiert Frank seine Taten:

Und was geschieht denn schon Verwerfliches? Im Zweifel tut er seinen Patienten einen Gefallen, er erlöst sie. Sie sterben so oder so, ein paar Tage früher oder später, was macht das schon?

Durch eine geschickte Handlungsführung und diverse Perspektivwechsel gelingt es Schlegl, eine komplexe und vielschichtige Geschichte zu erzählen. Die Handlung ist chronologisch aufgebaut und wird kapitelweise von Nora, Frank oder Diddy erzählt. Die Protagonist*innen sind keine eindimensionalen Figuren. Sie werden mit all ihren Stärken und Schwächen – Frank insbesondere durch seine Fehler – zum Leben erweckt. Die Patient*innen kommen jedoch nicht zu Wort. Lediglich die Sorgen und Ängste der Pfleger*innen werden thematisiert.

Insgesamt ist Strom ein fesselnder Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Der Wert von Empathie und Fürsorge wird vermittelt. Es entstehen spannende Momente, in denen man um Patient*innen bangt. Zugleich lädt der Roman zum Nachdenken über den Personalmangel und insbesondere das Pflegepersonal an, das Respekt für seine Arbeit verdient. Eine packende Erzählung, die auch noch lange nach dem Lesen in Erinnerung bleibt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Tobias Schlegl: Strom.
Piper Verlag, München 2023.
240 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783492071338

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