Das stets verspätete Supplement

Der Sammelband „Rücksendungen zu Jacques Derridas ,Die Postkarte‘. Ein essayistisches Glossar“ bietet Antworten auf eines der wichtigsten Bücher des französischen Philosophen an

Von Andreas JackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Jacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Derridas Buch Die Postkarte (1980) ist ein wohl einzigartiger Versuch, zwischen poststrukturalistischer Philosophie, dem Liebes- und Briefroman, der aufkommenden Medientheorie und der Psychoanalyse von Freud und Lacan zu changieren. Der Autor hat vorsorglich in einem Interview erklärt, dass der Status seines Buches unmöglich festgelegt werden könne – Mit einem Abstand von mehr als 40 Jahren gibt es nun erstmals im deutschen Sprachraum eine umfassende, wissenschaftliche Reaktion auf dieses einzigartige Buch. Und die Antwortschreiben entfalten mindestens genauso viele Perspektiven wie der Originaltext.

Oliver Jahraus beschreibt eine medienwissenschaftliche Perspektive, in der die Post zu einem prominenten und zentralen Medienparadigma geworden ist. Derridas Buch sei ein Grundlagentext für dieses Paradigma. Dass geschrieben und versendet wird, ist das, was die Philosophie stets verschweigen muss, aber seit Kittlers Pionierarbeiten auch in Deutschland immer wieder diskutiert wird und schließlich einen ganzen Forschungszweig hervorgebracht hat.

Wie Peter Zeilinger schreibt, geht es in Die Postkarte um die gezielte Inszenierung von Leerstellen, deren Bedeutung nunmehr seine Interpreten auszuloten versuchen. Zeilinger nimmt eine umfassende Taxierung des Buches innerhalb des Gesamtwerkes vor. Es liegt seiner Ansicht nach zwischen den Texten davor, die die reine Abwesenheit thematisiert haben, und denen danach, die die ethischen Konsequenzen der Lücke verhandeln. Die Leerstellen in Die Postkarte machen es unmöglich, diesen Text zu lesen und so als ein Repräsentationssystem von Zeichen einer vorgeordneten Realität zuzuordnen. Auf diesen wesentlichen Aspekt weisen die beiden Aufsätze „Repräsenationen I“ von Sabine Müller und „Repräsentation II – Wie schreiben? Oder ist die ,Verwindung‘ der Repräsentation überhaupt möglich?“ von Lutz Ellrich hin. Müller verbindet Derridas Buch mit einer Rede von 1980, die den Titel „Sendung“ trägt. In dieser Rede hat Derrida eine umfassende Dekonstruktion des Repräsentationsdenkens im semiologischen sowie politischen Sinne mithilfe von Martin Heidegger vorgenommen. Nach Ellrich versucht er das Repräsentationsdenken in Die Postkarte durch die Vorführung einer tragischen Liebesstruktur, die einen deutlichen literarischen Duktus und zahlreiche ironische Brechungen enthält, ad absurdum zu führen. Freudianer und Lacanianer hätten an diesem seltsamen und ungewöhnlich emotional aufgeladenem Material ihre wahre Freude.

Nahezu alle Interpreten berücksichtigen den so hergestellten Schwebezustand. „So wie Derrida hier die logistischen Verläufe von Bedeutungsübertragungen erklärt, würde wohl kein Unternehmen mit ökonomischen Zielen seine Sendungen Derridas Logistik anvertrauen. Denn seine Sprachtransporte bergen eine unendliche Fülle an Umwegen und Ausfällen, die zeichentheoretisch Profit versprechen, (wirtschafts-)analytisch betrachtet jedoch unweigerlich in den Konkurs führen“, schrieb Christina Marie-Charlotte Hoffmann. Gianna Zocco arbeitet in einer sehr durchdachten Analyse die autobiografischen Hintergründe Derridas heraus, die einen neuen, sehr persönlichen Blick auf diese Sendungen werfen. Eingeflochten wurden persönliche Liebesbriefe, von denen es noch etliche mehr geben soll. Dieser Ansatz ist legitim bei einem Autor, der auf biografische Elemente bei Philosophen stets insistiert hat.

Auch erotische Motive, die in Derridas Liebesbriefen immer wieder sehr diskret auftauchen und durchaus mit seiner Kritik am Phallogozentrismus von Platon und Sokrates verbunden sind, werden zweimal diskutiert. Jochen Hörrisch nennt zwar sehr genau die phallischen Konnotationen, verzichtet aber leider darauf, zu beschreiben, mit welchen Mitteln Derrida sie dekonstruiert hat. Beate Wyss entfernt sich noch weiter vom Text, wenn sie den Phaidros von Platon als gefährliche „Päderastenphilosophie“ bezeichnet und dabei erst spät genauer auf Derridas Unternehmen, Platons Denken zu widerlegen, eingeht. Obwohl das Interesse der Aufsätze an einer Auseinandersetzung mit Derridas Buch insgesamt sehr hoch ist, gibt es einige Ausreißer: So wirken die Parallelen zwischen Derrida und den Briefen von Gramsci von Ingo Pohn-Lauggas konstruiert. Auch Daniela Finzi, die zudem die einzige ist, die auf Derridas Kritik an Lacan überhaupt antwortet, welche Die Postkarte schließlich durchläuft wie ein roter Faden, erklärt, dass sie eigentlich lieber über Lacan Terminus „Subjekt, dem Wissen unterstellt wird“ nachgedacht hätte, als sich mit Derridas Text auseinanderzusetzen. Dementsprechend gering wird dieser Konflikt von ihr nur weiter ausgearbeitet. Das beweist nur die Inkompatibilität von Derridas Philosophie für Lacaner, erklärt aber nichts. 

Einige Autoren versuchen den literarischen Stil des Buches nachzuahmen. So hat der deutsche Übersetzer des Textes, Hans Joachim Metzger, im Briefstil geantwortet und berichtet dabei dem verstorbenen Philosophen von den aktuellsten Veränderungen im Bereich der elektronischen Kommunikationsmedien. Noch eindringlicher und poetischer ist der Essay von Arno Böhler, der sich ebenfalls persönlich an Derrida richtet und dessen gesamtes Schreiben in einer melancholischen Form an die Muse vieler verstorbener Personen adressiert sieht: „Melancholie. So viele namenlose Tote. Und mitten unter ihnen Dein Denkmal: Herr der Trauerringe!“, schreibt Böhler. 

Drei wichtige Bezüge fehlen leider, mit denen Derridas Text eng verbunden ist: 1. Eine genaue Auseinandersetzung mit der zweiten Lieferung, die alle die analytischen Aufsätze enthält, die Derrida zuvor schrieb und die in vielfacher Weise erklären, was er in der ersten Lieferung durchspielt hat. 2. Sein Text Telepathie (1982), ein Supplement, das weitere Sendungen enthält, die alle aus einer Woche im Juli 1979 stammen und damit in die letzte Zeit der Sendungen fallen. 3. Der Bezug zu Blanchot, dem Derrida tatsächlich selbst über dessen Tod hinaus Postkarten geschrieben hat. Denn Derrida kopiert hier Maurice Blanchots Stil, wenn er versucht, ebenso wie dieser seinen Text unkenntlich zu machen. Die „Rücksendungen“ stellen dennoch eine vielschichtige und unverzichtbare Hilfe bei den eigenen Lektüren von Die Postkarte dar. Sie rehabilitieren damit zugleich eine in Deutschland viel zu wenig gelesene und gedeutete aber besonders bedeutsame Schrift des Poststrukturalismus.

Titelbild

Matthias Schmidt: Rücksendungen zu Jacques Derridas „Die Postkarte“. Ein essayistisches Glossar.
Turia + Kant Verlag, Wien 2016.
392 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783851328158

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