Vernetzung von Kunst und Leben in der Magie der Performanz

In „Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin“ nähert sich Eric-Emmanuel Schmitt ontologischen Fragen des Ästhetischen

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kopfschmerzen, unerträgliche. Wegschicken. Widerlicher kleiner Kerl. / Die Mappe loswerden, nicht hingehen. Widerliche alte Tante.“  – so der narrative Wettstreit in erlebter Rede gegen Ende von Gabriele Wohmanns brillanter Kurzgeschichte Die Klavierstunde (1966). Die Autorität der Eltern als Macht hinter dem unmotivierten Jungen und ökonomische Zwänge bei der frustrierten Klavierlehrerin – so ist zu vermuten – bedingen den Widerwillen, mit dem die beiden sich auf den Unterricht einlassen. Ein Metronom als unerbittlicher Taktgeber verunmöglicht obendrein, dass harmonische Klänge entstehen und ihren Zauber entfalten. 

Ganz anders verhält es sich mit dem Klavierunterricht in Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin, im drei Jahre nach dem französischen Original nun auf Deutsch erschienenen siebten Band des Zyklus des Unsichtbaren von Eric-Emmanuel Schmitt. 

Als Tante Aimée im Haus seiner Eltern Chopin spielt, ist der neunjährige Eric so verzaubert, dass er nach Klavierunterricht verlangt. Gut zehn Jahre später – mittlerweile ist er von seinem Lyoner Elternhaus weggezogen, um in Paris Philosophie zu studieren – sind ihm die Partituren vieler Komponisten vertraut, allein Chopin entzieht sich seiner Fingerfertigkeit. Für den weiteren Unterricht wird ihm die polnischstämmige Chopin-Expertin Madame Pylinska empfohlen. Obwohl er ihre höchst unkonventionellen Lehrmethoden akzeptiert, ist er nur ein einziges Mal mit seiner Performanz zufrieden. Da nämlich besucht er seine todkranke Tante Aimée und spielt auf einem zufällig entdeckten Klavier im Krankenhaus das Larghetto aus Chopins Klavierkonzert Nr. 2. 

Er nimmt weiter Unterricht, doch zu diesen Höhen gelangt er nie wieder. Eines Tages kehrt Madame Pylinska in ihr Heimatland zurück, wo Eric, der Schriftsteller geworden ist, sie bei einer Lesung 30 Jahre später wiedertrifft. 

Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin ist autobiografisch konturiert, von Schmitt hochstilisiert als „monologue autobiografique“, mit dem er sehr humorvoll, vielleicht gar ein bisschen zu launig, durch französische Theater tourt. Die beiden chopinbegeisterten Klavierspielerinnen Madame Pylinska und Tante Aimée führen den jungen Eric hin zu den Quellen der reproduzierenden Kunst bei Chopin. Letztendlich initiieren sie nicht nur die Musikbegeisterung, sondern leisten auch ihren Beitrag zur Genese eines Schriftstellers, der gut und gern über Musik schreibt, insbesondere in Ma vie avec Mozart (2005).

Die besondere Klavierdidaktik beginnt damit, dass sich der Schüler in der ersten Stunde, die, so Madame Pylinska, vor allem Entmutigung bezwecke, unter den Flügel legen soll, um Schwingungen zu erspüren. Danach sei es unabdingbar, sich vom Instrument fernzuhalten und von einer Stunde zur nächsten spezifische Wahrnehmungsaufgaben zu erfüllen. Von Mal zu Mal steigern sich diese. Gilt es anfänglich, morgens im Jardin du Luxembourg Blumen zu pflücken, ohne den Tau darauf fallen zu lassen oder Kreise im Wasser zu beobachten, so fordert die Lehrerin ihren Eleven einige Wochen später dazu auf, vor der Klavierstunde Sex mit seiner Freundin zu haben und dieser dabei in die Augen zu sehen. Alle Übungen fördern Erics ästhetische Sensibilität und hypostasieren Chopin. Er habe das Klavier erfunden und seine Musik könne nur dann reaktualisiert werden, wenn man sich ihr tiefenentspannt und unverkrampft hingeben könne. 

Jedwede kalkulierbare pianistische Technik ist Madame Pylinska genauso zuwider wie alles, was darüber hinaus mit Virtuosität zu tun hat. Diese diene allein der Hybris des Künstlers, nicht jedoch dem Publikum. Das Geheimnis der Paradoxie einer ausgeklügelten Technik, die sich dennoch jeder Technik entzieht, besteht darin, „flüssig zu werden“, sich in einem kaum mit Worten zu fassenden Rubato dem Strom der Klänge auszuliefern, um auf diese Weise Chopins Geheimnis, das unsagbare und nicht vermittelbare Geheimnis des Schaffens zu ergründen. 

Toleranz und Diversität sind Fremdwörter für Madame Pylinska. Mit der bedingungslosen Zelebration Chopins geht die maximenartige Degradierung anderer Komponisten einher. So etwa biete Bach lediglich „musikalische Mathematik“ und „herrschte über eine Klangwüste“. Nur von „Verstandesmenschen“ könne er gut gespielt werden. Sie sei „Monotheist“ (hier hätte man schon „Monotheistin“ übersetzen sollen) und „überzeugt davon, nur auf die Erde gekommen zu sein, um Chopin zu spielen und zu hören“.

Madame Pylinska avanciert des Weiteren zum Sprachrohr der inzwischen literarisch stereotypisierten Differenz zwischen verbaler Sprache und allem, was diese transzendiert. Es verwundert nicht, dass sie in diesem Zusammenhang George Sand und Chopin fokussiert:

Sie führt alles auf das zurück, was sie kennt, die Realität, die dürftige Realität, die sie in ihren Büchern niederschreibt. Sie ist nur eine Schriftstellerin, die Arme, eine Romanautorin, kurz eine Sklavin der Realität. Chopin dagegen ist Musiker; er benutzt keine Worte, weil er etwas anderes zu sagen hat als das, was die Worte sagen. 

Im Übrigen habe Sand besser zu Liszt gepasst, weil dieser Programmmusik komponiert und sich somit auch der Realität untergeordnet habe.

Mit ihrer lockeren Zunge, oftmals eine Zigarette im Mundwinkel, lässt Madame Pylinska in ihrer Hymne auf Chopin Komponisten und Sänger*innen, u. a. Maria Callas und Luciano Pavarotti, Revue passieren. Immer dann, wenn ihre Urteile allzu diffamierend zu werden drohen, folgt ein Tacet bzw. ihr expliziter Verweis auf „christliche Nächstenliebe“, die eben dieses gebiete.

Während sich Madame Pylinska Grundfragen des Ästhetischen zuwendet, dabei mitunter monomane Züge entwickelt und ihr Leben nach ihrem Komponisten-Idol ausrichtet, beweist Tante Aimée, die im Kreis der Familie als männerverschleißende „femme fatale“ gilt, wie Chopins Musik in das Leben geholt wird und dort zum Kraftquell mutiert. Ihrem Neffen Eric gesteht sie, dass sie allen Unkenrufen zum Trotz nur einen Mann geliebt habe: den verheirateten Roger, den sie über sein ganzes Familienleben hindurch begleitet und der sie immer wieder mit leeren Versprechungen hingehalten habe. Nur das Klavierspiel und dabei Chopin allein habe ihr Trost spenden können. 

Das divergente Verhältnis der beiden Frauenfiguren zu Chopin manifestiert sich nicht zuletzt in der Wahl des Instruments: für Madame Pylinska kommt nur ein Flügel von Pleyel in Frage, für sie eine geschmeidige ästhetisch-musikalische Entität, die Autonomie des Klangs garantierend. Tante Aimée begnügt sich demgegenüber mit einem „Schiedmayer“, auf dem sie im Krankenhaus spielt. Ein anderes Exemplar aus dieser Instrumentenfamilie steht in der Lyoner Wohnung der Familie Schmitt und wird so lange als „Eindringling“, als „Parasit“ oder als „Raubkatze“ abgestempelt, bis Tante Aimée ebendiese bei ihrem Besuch zähmt. 

Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin würde man um eine wesentliche Dimension verkürzen, ließe man die Tiere außer Acht, die sich im Text tummeln: allen voran die drei Katzen der Madame Pylinska – Horowitz, Rubinstein und Alfred Cortot, der das Zeitliche segnet. Nach seinem Tod, so behauptet Madame Pylinska, sei er als Spinne aufgetaucht, die immer dann einen Faden von der Decke hinab zum Flügel webe, wenn ihr die Musik gefalle. 

Madame Pylinskas Glauben an die Metempsychose greift der reüssierte Schriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt am Ende seiner Erzählung auf: als er sich ans Klavier setzt und die ersten Akkorde von Chopins Barcarolle anschlägt, eilen nicht nur seine drei Hunde herbei, die sich unter dem Flügel platzieren, sondern im Fenster erblickt er eine Meise, die Madame Pylinska ähnelt. 

Die deutsche Ausgabe des Textes hat Daphne Patellis mit fünf ganzseitigen, doch gerade mit ihrem Minimalismus faszinierenden Illustrationen in schwarz, weiß, grau und grün versehen. Sie begleiten den Text und verleihen ihm einen zusätzlichen Twist, indem sie Schlüsselszenen akzentuieren 

Alles in allem hat Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin einen Text voller köstlicher und kurzweiliger „verbal music“ zu bieten: Musik als Thema im Allgemeinen und die hymnische Auseinandersetzung mit Chopins Kompositionen im Besonderen. „Ein Buch wie Musik“ indessen, eine Stellungnahme aus Le Figaro, die als Sticker auf der deutschen Ausgabe prangt, trifft nur sehr bedingt zu – eventuell dann, wenn man die ausgeprägten dialogischen Passagen als Duett klassifizieren und sehr vage eine Formparallele konstatieren könnte. Sprachmusik jedenfalls ist nicht auszumachen. 

Ergo: Kein Buch wie Musik, dafür aber ein rundum inspirierender Kurzroman, der zur Reflexion und Diskussion über Musik, den Erwerb musikalischer Kompetenzen und ebenso über Literatur einlädt.

Titelbild

Eric-Emmanuel Schmitt: Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin.
Mit Illustrationen von Daphne Patellis.
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
C. Bertelsmann Verlag, München 2021.
96 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783570104033

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