Spiegelungen im Handlungslabyrinth

Zum 60. Geburtstag am 18. Januar erscheint Peter Stamms Roman „In einer dunkelblauen Stunde“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was wäre, wenn ich das Ich im Roman wäre? Würde es das Buch besser oder schlechter machen?“, fragte der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm kürzlich im Gespräch mit der Schweizer Zeitung „Blick“. In seinem neuen Roman In einer dunkelblauen Stunde geht es um einen in Paris lebenden Schweizer Schriftsteller, der sich bei der Entstehung eines neuen Romans von einem Filmteam begleiten lässt. Tatsächlich ist auch zu Peter Stamms 60. Geburtstag am 18. Januar ein Filmportrait mit dem Titel Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt über ihn entstanden. Es liegt hier aber alles andere als eine faktenbasierte Dokumentation dieser unkonventionellen künstlerischen Annäherung vor. Im Gegenteil: Mehr Spiegelungen, mehr jonglieren mit Meta-Ebenen, mehr Reflexionen über das Gegenüber und mehr zerfleischende Selbstreflexionen geht kaum.

Peter Stamm spielt gekonnt mit den Fragen: Was ist Realität? Was ist Imagination? „Schreib eine Geschichte über mich“, lautete schon einer der zentralen Sätze in Stamms 1998 erschienenem und später verfilmten Debütroman Agnes (1998). Nun schickt er das Filmteam Andrea und Tom, das privat wie beruflich in einer komplizierten Beziehung steckt, auf die Spuren des in Paris lebenden Schriftstellers Richard Wechsler. In der Seine-Metropole begleiten sie ihn mit Kamera und Mikro, dann begeben sich die „Filmer“ in Wechslers kleinen Geburtsort in der Schweiz, recherchieren, stoßen aber auf mehr Fragen als Antworten. „Ich weiß manchmal nicht mehr, was mir wirklich passiert ist und was ich erfunden habe“, erklärt der Schriftsteller vor laufender Kamera. Ein zentrales Sujet in diesem kunstvoll arrangierten Roman ist die Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.

Stamm lässt seinen Protagonisten bewusst falsche Fährten legen. „Ich glaube, sagte Wechsler, ich habe mir von diesem Film versprochen, etwas über mich selbst zu erfahren durch ihren Blick auf mich.“ In diesen Kontext passt auch das kunstvoll verfremdete Portrait von Peter Stamm, das das Cover des Buches ziert – angefertigt von Anke Doberauer, Professorin für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste München.

Nicht nur Schriftsteller Wechsler befindet sich auf einer inneren Selbsterkundungstour, auch die beiden Filmer Andrea und Tom geraten bei ihrer Arbeit auf emotionale Abwege, und dann taucht auch noch die wankelmütige Judith auf, die Pfarrerin aus dem Schweizer Heimatort. War sie Wechslers unerfüllte Jugendliebe? Oder haben wir es auch hier wieder mit einem komplizierten Verwirrspiel zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu tun? Der konjunktivische (filmische) Rückblick auf Wechslers Leben in Form einer Art Ich-Verdoppelung bleibt Fragment: „Wir können keinen Film aus lauter angefangenen Sätzen machen.“ Der Name Wechsler hat programmatischen Charakter – chamäleonartig pendelt er zwischen Jovialität und Arroganz, zwischen Selbstmitleid und Größenwahn: „Vergessen Sie alles, was ich gestern gesagt habe.“

Die arrangierte Künstlerexistenz erinnert ein wenig an die gedankenschweren Flaneure von Peter Handke und Patrick Modiano. Wechsler schwadroniert über Musik ohne Töne und Filme ohne Bilder und behauptet über seine eigene künstlerische Arbeit: „Ich spüre, wie der Text mir nicht nur eine Leistung abverlangt, sondern ein Opfer.“ Der kreative künstlerische Prozess, der komplizierte Versuch einer Annäherung an einen Künstler, der sein Künstlertum beinahe exzessiv auslebt, und die effektvolle Selbstinszenierung des Schriftstellers stehen hier nebeneinander und werden erzählerisch überblendet. Peter Stamm schickt den Leser durch ein von Selbstironie, Spiegelungen und Selbstreflexionen geprägtes anspielungsreiches Handlungslabyrinth.

Mein Ziel ist es, mich immer mehr zurückzuziehen, immer stiller zu werden und schließlich ganz zu verstummen, mein letztes Werk wird das Schweigen sein, ein heiteres Schweigen wohlgemerkt

bekennt Wechsler am Ende des Romans. Die große Kunst besteht darin, dass Peter Stamm es schafft, dieses erzählerisch höchst ambitionierte Projekt, mit leichter Hand herunter zuschreiben: schwere Gedankenkost federleicht zubereitet. Noch nie hat Stamm gleichzeitig so tiefsinnig und humorvoll (man glaubt ein Augenzwinkern zu sehen) erzählt.

Titelbild

Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
256 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971286

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