Jongleur mit dem Eigentum anderer

Rudi Schweikert würdigt den genialen Kompilator Karl May

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die blühende Phantasie Karl Mays wird erklärlich, wenn man die Quellen seiner (nach-)schöpferischen Produktivität kennt. Denn vieles von dem, was uns in seinem Werk farbig gestaltet gegenübertritt, ist Lesefrucht – angeeignetes Wissen aus zweiter (dritter) Hand, freilich mit sicherem Auge für die furiose Werkstiftung nutzbar gemacht. Zur Arbeitsökonomie des Vielschreibers gehört es dabei, dass er mit „wiederkehrenden Textbausteinen“, genauer: mit toposhaft verfügbaren Versatzstücken gearbeitet hat. Dazu zählt beispielsweise das „Geheimnis“ seiner orientalischen Reittiere, die darauf getrimmt sind, in Ausnahmesituationen wie der „allergrößten Todesgefahr“ höchste „Schnelligkeit“ zu entwickeln: „Wenn der Rappe fliegen soll wie der Falke in den Lüften, so lege ihm die Hand leicht zwischen die Ohren und rufe laut das Wort ,Rih‘!“

May hat das sagenumwobene „Geheimnis“ einem „Pfennig-Magazin“ von 1849 entnommen, vielleicht hat er sich aber auch bei dem Kompilator August Wilhelm Grube (1816–1884) bedient, der für seine „Biographieen aus der Naturkunde“ (1864) seinerseits das „Pfennig-Magazin“ ausgeschlachtet hat. Ursprünglich geht die Fama des orientalischen „Geheimnisses“ auf Alphonse de Lamartine (1790–1869) zurück, der in seinen Reiseerinnerungen an den Orient (1832/33) dergleichen „in Umlauf brachte“: „Chaque Bédouin accoutume son cheval à un signe qui lui fait déployer toute sa vitesse. Il ne s’en sert que dans un pressant besoin, et n’en confierait pas
le secret, même à son fils.“ Die Spur lässt sich bis zu Mays Handexemplar von August Lewalds „Atlas zur Kunde fremder Welttheile“ (1836) nachverfolgen. Dort hat May den entsprechenden Passus am Seitenrand angestrichen.

Der doppeldeutige Titel („Durch eegenes Ingenium zusammengesetzt“), der sich auch auf den Verfasser beziehen kann, der hier ein Kompilat seiner 50jährigen Beschäftigung mit Karl May vorgelegt hat, von denen 25 Jahre Erträge für die Schublade zeitigten, dieser Titel benennt ein kompositorisches Moment in Mays Schaffen, nämlich das „Zusammensetzen“ von Unterschiedlichem zu einer – mehr oder weniger geglückten – Einheit. So sei Mays Erzählung „Deadly Dust“ (1879/80) aus einem „Hauptmotiv“ und mehreren „Kapitelmotiven“ zusammengesetzt. Wo aber etwas zusammengesetzt und also montiert werden soll, da muss es einzelne „Bausteine“ (hier „Motive“ genannt) geben, die als solche isolierbar oder identifizierbar sind. Dazu gehören etwa Mays Textreferenzen (hier „Quellen“ genannt), also die Bezugnahmen (Zitierungen, Paraphrasen) auf Fremdtexte: auf Lexika, Reiseberichte, Belletristik und so weiter. Eine solche Quelle wäre W. F. A. Zimmermanns (das ist Carl Gottfried Wilhelm Vollmer) Roman „Californien und das Goldfieber“ (1863), der seinerseits ein Kompilat aus einer „Vielzahl von Quellenwerken“ darstellt. Stärker als May freilich formulierte Vollmer/Zimmermann seine Prätexte um.

Ein beliebtes Genre der Zeit, das auch May gern konsultierte, war der „naturwissenschaftliche Roman“ als Versuch, die Lehren der Naturkunde im Gewande der Unterhaltungslektüre zu verbreiten. Bei Zimmermann/Vollmer beispielsweise hat sich May ausgiebig bedient. Das prominente Beispiel des Romans „Californien und das Goldfieber“, Mays Vorlage für seine Erzählung „Deadly Dust“, liefert etliche Motivvorgaben und ist auch ,ideologisch‘ ganz auf Mays Linie: Der brave Deutsche beispielsweise, der „vernunftgemäße Arbeit“ leistet, findet sich schon bei Zimmermann/Vollmer vorgebildet. Ein Beispiel von vielen: Das aufschlussreiche „Goldfieber“-Kapitel in Schweikerts Studienbuch umfasst rund siebzig Seiten mit ausführlichen Synopsen von ,Original‘ und ,Fälschung‘. Plagiatoren gelten ihm als „Jongleure mit dem Eigentum anderer“ und schließen sich quasi zu Erzählfamilien zusammen, wo der eine vom anderen profitiert, indem er sich „Fremdes, aber doch eigentlich einem selbst Zugehöriges“ einverleibt und es dadurch tradiert. Man könnte hier auch von einer „Gesellschaft der Autoren“ (im Sinne einer Interauktorialität) sprechen, die einen Erzählverbund stiftet, an dem Lexikographen ebenso beteiligt sind wie Märchenerzähler, Reiseschriftsteller ebenso wie Journalisten, Realisten ebenso wie Phantasten.

Man kann es Plagiat oder Palimpsest nennen, was diese Familienbande zwischen ganz unterschiedlichen Erzählertypen stiften, und es lässt sich trefflich zur Motivgeschichte ausfabulieren. Eine Stärke des kenntnisreichen May-Forschers Rudi Schweikert ist es, dass er Mays Texte in Synopse mit ihren jeweiligen Referenztexten zusammenstellt, und zwar so, dass der Leser erkennt, wo wortwörtliche Übernahmen erfolgten, wo May paraphrasierte, kürzte oder umformulierte.

Schweikert verfällt jedoch nicht der Versuchung vieler Motivforscher, die Leistung des literarischen Taschenspielers, der sich großzügig bei den Quellen bedient hat, zu marginalisieren oder ihn in Bausch und Bogen als Plagiator zu denunzieren. Karl May erzählt einfach besser, spannender, witziger, kurzweiliger als seine Vorlagen. Das macht seinen Erfolg aus. Auch stellt Schweikert als guter Fährtensucher die kleinen diskreten Hinweise in Rechnung, die May seinen Lesern mit auf den Weg gibt, wenn sie seinen Spuren folgen wollen. Diese Hinweise mögen irreführend sein, doch auch sie gehören dann zur Camouflage.

Am Beispiel des „Schwarzen Gérard“ (aus dem Lieferungsroman „Waldröschen“) demonstriert der Verfasser, wie eine Figur mit zunächst schwach ausgebildeter Merkmalscharakteristik (der ehemalige Garotteur trägt als ,besonderes Kennzeichen‘ bloß einen schwarzen Bart) im Zuge ihrer Ausgestaltung attribuiert wird. Attribute sind, wie wir, aus der christlichen Ikonographie beispielsweise, wissen, Erkennungszeichen: Charakteristische Beigaben wie das Winkelmaß beim Apostel Thomas oder der vieldeutige Schlüssel bei Petrus sind symbolisch aufgeladen. Der Schwarze Gérard nun bekommt von May einen Schießprügel zugewiesen, dessen Kolben ein geheimes Goldlager darstellt. Schabt ihr Besitzer den dünnen Bleifirnis herunter, so kommt das Goldlager zum Vorschein und kann ,angebrochen‘, das heißt als Zahlungsmittel eingesetzt werden. Ein anfangs unscheinbares Gewehr wird damit Erkennungszeichen seines Besitzers, etwa so (wenngleich nicht so prominent), wie Winnetou an seiner „Silberbüchse“ erkannt werden kann.

Die Attribuierung von Waffen gehört zur reich entfalteten Topologie, die sich May für seine Superhelden ausgedacht hat. Auch Old Shatterhand besitzt bekanntlich zwei berühmte Gewehre, mit denen er sich abschleppt, den unfehlbaren Bärentöter und den ,tausendschüssigen‘ Henry-Stutzen. Damit bedient May „den Topos des einschüchternden Zielschießens“, das kein anderer jemals gewinnt als – Old Shatterhand. Ist es da nicht naheliegend, auf den „Freischütz“ als möglichen Subtext zu schließen? Oder auch auf Wilhelm Tell und den Mythos vom zwar gewagten, aber doch „sicheren Schuss“? Mays „gehäufte Rühmung der nie fehlenden Kugel“, die in den „Bereich der Sage“ weist, wird gleichwohl naturwissenschaftlich plausibilisiert: Überlegene Waffentechnik paart sich hier mit ruhiger Hand und sicherem Auge. Die „Doppelstrategie“ lautet: Der Oberflächenbefund ist rationalisierbar, die unschlagbare Schießkunst Old Shatterhands beruht auf Erfahrung und Begabung. Darunter freilich vermutet Schweikert eine mystisch-mythische Dimension, wie sie im Volksaberglauben existiert. Auch der Freischütz leistet nichts Unmögliches – und steht doch als Magier und Teufelsbündler da. Sein Glaube verleiht ihm Sicherheit, und die „ingeniös-ausgefeilte Technik“ unterwirft sich seinem Willen. Das gemeinhin angesetzte Wettschießen demonstriert die Unfehlbarkeit des Schützen und verschafft ihm quasi ein Anrecht auf Ruhm, der ihm vorauseilt, der sich verbreitet, der ihm künftiger Siege Verkünder ist. May-Leser können da innerlich abwinken: „Geschenkt! Der Sieger steht von vornherein fest.“ Was die Sache erträglich macht, ist die Komik, mittels derer der Dichter die Überlegenheit seines Helden spannungsvoll inszeniert. Diese Komik ist sein Markenzeichen – und verbleibt hier, einmal mehr, im Windschatten der Reflexion. Sie paart und veredelt sich mit der Aufschneiderei der Protagonisten zur Wahrscheinlichkeit der dargestellten Handlungsfolge. Das immer wieder bemühte Sujet gewinnt aus der erzählerischen Komik seine Frische zurück – und dies gilt so auch für die zahlreichen anderen Bausteine der Sujetentwicklung, die May mit großer Routine und Konsequenz abruft und einsetzt: das Anschleichen und Belauschen, die Gefangennahme und Befreiung, der sieghafte Diskurs über Quellenstudien.

Schweikert kann durch ausführliche Synopsen zeigen, wie sich Karl May seiner Quellen bedient, nämlich großzügig, und welchen poetischen Funken er daraus schlägt. So wird aus der Begegnung mit einem Taifun (Mays Quelle ist Wilhelm Heines „Reise um die Erde nach Japan“) ein homerisches Abenteuer: Sein Erzähler Charley lässt sich von Kapitän Turnerstick an den Mast binden, um auf diese Weise die „fürchterlichste Lufterscheinung kennen zu lernen“ und ihr trotzig in ihr „Sirenengesicht“ zu lachen. Der Taifun dröhnt wie eine „Baßposaune“ vor Jericho und droht mit der Wucht seiner Wogen, „das Schiff zu zermalmen“: „Jetzt aber durchbebte mich die ganze Erkenntnis menschlicher Schwäche, die uns zu den Füßen des Allmächtigen in den Staub darniederwirft.“

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Rudi Schweikert: „Durch eegenes Ingenium zusammengesetzt“. Studien zur Arbeitsweise Karl Mays aus fünfundzwanzig Jahren.
Hansa Verlag, Husum 2017.
399 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783941629202

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