Eine Gesellschaftskritik mit Elementen von Coming-of-Age
„Weiße Wolken“ von Yandé Seck thematisiert gesellschaftliche Rollen, Rassismus und das Leben von BPoC in Deutschland
Von Bozena Badura
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDieo und Zazie sind Schwestern, beide entstammen einer deutschen Mutter und einem senegalischen Vater. Doch während die viel ältere Dieo, eine Mutter von drei Kindern, versucht, das Ideal der bürgerlichen Familie zu leben und gleichzeitig ihre Ausbildung als Psychotherapeutin voranzutreiben, steht Zazie, eine junge Rebellin und Antirassismusaktivistin, kurz vor ihrem Hochschulabschluss und sucht nach dem eigenen Lebensentwurf.
Die Handlung ist in drei Kapitel unterteilt, die jeweils wichtige Lebensabschnitte der Familie flankieren. Im ersten Kapitel werden zunächst die familiäre Vorgeschichte vorgestellt und die schwierigen Beziehungen der Figuren untereinander thematisiert. Der zweite Teil wird vom unerwarteten Tod des Vaters bestimmt, der eine Zäsur im Leben aller Figuren darstellt. Im dritten Teil wird der Neuanfang durch den Familienzuwachs und Zazies Berufswechsel markiert.
Erzählt wird die Geschichte aus drei Perspektiven, die auf ihre Weise zur Entwicklung der Geschichte beitragen: Dieo reflektiert analytisch über ihre familiäre Situation und ihre Beziehung zu ihren Eltern, während Simon, ihr Ehemann, sich auf den privaten und beruflichen Alltag der Familie konzentriert. Zazie hingegen thematisiert in ihren Passagen verschiedene Formen von Diskriminierung. Während sich die Unterkapitel aus Dieos und Simons Perspektive sprachlich kaum voneinander abheben, setzt Zazie häufig auf eine jugendliche Sprache und zahlreiche Anglizismen, die den Text lebendig machen.
„Weiße Wolken“, was sich auf die weißen Flecken auf den Fingernägeln bezieht, „sind die Überbleibsel von kleinen Verletzungen der Nagelstruktur.“ So hinterlassen auch täglich erfahrene Akte von Diskriminierung ihre Narben. Der Roman thematisiert dabei nicht nur den offenen und versteckten Rassismus, sondern auch Machtstrukturen, die Rollenverteilung innerhalb der Gesellschaft, die Projektionen, die gesellschaftlich weitergereicht und verbreitet werden, sowie das Zusammenwirken von Unterdrückungsmechanismen aller Art.
Es ist nur – weißt du, jeder hat seine Rolle. Und ich frage mich, wer diese Rollen zuweist. […] Ich weiß nicht, es ist, als wären wir alle Figuren in einem Theaterstück, für das jemand anders das Drehbuch geschrieben hat. Du und Dieo sind das strahlende Paar in der Mitte und für den Rest…
Ein wiederkehrendes Thema dieses Romans ist zudem die Familienstruktur. Dieo und Zazie werden von der Mutter großgezogen, während der Vater nur für kurze Augenblicke in ihre Leben eintritt und wieder verschwindet. Dagegen werden sie bei jedem Besuch in Kamerun mit einer unüberschaubaren Anzahl an Verwandten konfrontiert, mit einer Großfamilie unbekannten Ausmaßes. Vor allem Zazie scheint sich nach einem auf Gemeinschaft aufgebauten Familienkonzept zu sehnen und findet dieses gegen Ende des Romans einerseits in der eigenen Schwangerschaft und andererseits im gemeinsamen Haushalt mit Dieo und ihrer Familie.
Es ist nicht immer einfach, den Standpunkt der Gegenüber zu verstehen, wenn uns entsprechende Referenzerfahrungen fehlen. Weiße Wolken von Yandé Seck ist jedoch ein gutes Beispiel dafür, dass gute Literatur es den Leser*innen ermöglichen kann, sich in unbekannte Schicksale hineinzuversetzen und diese gar nachzuerleben, obwohl sie von den eigenen Lebensumständen manchmal weitgehend divergieren. Seck gelingt es nämlich, auch schwierige Themen auf eine ästhetisch ansprechende und bildhafte Weise zu präsentieren, ohne in bloße Anklagen zu verfallen. Den in ihrem Debütroman behandelten Problemen begegnet sie mit Nüchternheit und Sachlichkeit, verpackt in fesselnde fiktionale Literatur. So wird dieser Roman zu einem gelungenen Beispiel dafür, wie Literatur Brücken bauen und das Verständnis zwischen verschiedenen Lebenswelten fördern kann.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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