Die Ästhetik des Diversen

In seinen 1909/10 entstandenen Aufzeichnungen „Ziegel & Schindeln“ versucht Victor Segalen, sich China und Japan mit einem nicht-kolonialen Blick zu nähern

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Opiumkriege Mitte des 19. Jahrhunderts, der Japanisch-Chinesische Krieg 1894/95 und der sogenannte Boxerkrieg 1899/1901 – in der Hochzeit des Imperialismus und Kolonialismus wird China wie andere orientalisch-asiatische Länder massiv bedrängt. Die europäischen Großmächte inklusive Russland, die USA und Japan arbeiten mittels Handel, Diplomatie und Krieg daran, das Wirtschaftsleben im „Reich der Mitte“ zum Erliegen zu bringen und diesen riesigen Markt für die eigene Industrie zu erobern. Sie besetzen Teile des chinesischen Territoriums wie Hongkong, Taiwan und die Mandschurei und beuten Menschenkraft und Rohstoffe im Land aus.

In dieser Epoche der beschleunigten Modernisierung und Globalisierung, im Jahr 1908, bemüht sich Victor Segalen um einen Posten bei der französischen Marine in China. Segalen hat bis dahin schon Einiges erlebt: 1878 in der Hafenstadt Brest geboren und von Beruf Marinearzt, reist er 1902/03 über die USA nach Polynesien, um seinen Dienst in den französischen Kolonien zu leisten. Dort sichtet er den Nachlass des auf Hiva Oa verstorbenen Malers Paul Gauguin, arbeitet nach seiner Rückkehr auf einem Schulschiff und im Marinekrankenhaus von Brest, ist Autor von Essays und des Tahiti-Romans Les Immémoriaux (Die Unvordenklichen, 1907) und steht in Kontakt mit Künstlern wie Joris Karl Huysmans, Saint-Pol-Roux und Claude Debussy.

Einen ersten eigenen Eindruck von China gewinnt Segalen Ende 1902 auf der erwähnten Reise über Nordamerika nach Tahiti: In San Francisco streift er durch China-Town und besucht ein chinesisches Theater, wo er Zuschauer eines von einem Orchester begleiteten Stücks wird. Sein Resümee: „Ich habe das Gefühl – trotz meines guten Willens –, die chinesische Bühnenkunst noch ein bißchen weniger verstanden zu haben, als Herr Loti sein Japan ergründet hat.“

Trotz oder gerade wegen seines „Unverständnisses“ und seiner „Unwissenheit“, von denen er auch spricht, lässt ihn die Faszination für China nicht mehr los. 1908 nimmt er ein Studium der chinesischen Sprache in Paris auf und besucht Vorlesungen in Sinologie. Im März 1909 wird er mit der Verpflichtung in das „Reich der Mitte“ geschickt, um sein Chinesisch zu perfektionieren. Im Juni desselben Jahres trifft er nach Zwischenstationen in Hongkong und Shanghai in Peking ein. Zwei Monate später tritt er mit seinem Freund, dem Schriftsteller Gilbert de Voisins (18771939), eine Reise nach Zentralchina an: Von der Hauptstadt geht es in Richtung Südwesten bis Chengdu und von dort Richtung Osten bis zur Mündung des Jangtse bei Shanghai. Im Februar 1910 reisen beide für zehn Tage nach Japan.

Ziegel & Schindeln – diesen Titel gibt Segalen seinen während der Reise zwischen Mai 1909 und Februar 1910 entstandenen Aufzeichnungen. Nun liegen diese erstmals auf Deutsch vor. Übersetzt von Maria Zinfert, die über Segalens Romane promoviert, unter dem Titel New York – San Francisco – Tahiti (Berlin 2005) einen Auszug aus dem Tagebuch des Marinearztes über die Reise nach Polynesien vorgelegt und mit Expedition ins Reich der Mitte (2014) eine TV-Dokumentation über Segalens China-Expedition im Jahr 1914 mit realisiert hat.

Was Segalen mit seinem Schreiben beabsichtigt, erklärt er indes in einer weiteren, bedeutenden Sammlung von 1904 bis 1918 entstandenen Aufzeichnungen, die erst 1978 erschienen ist und die den programmatischen Titel Die Ästhetik des Diversen trägt. Ihm missfällt der Exotismus und Orientalismus zeitgenössischer Autoren wie des um die Jahrhundertwende populären Pierre Loti:

Sie [Loti, Saint-Pol-Roux und Paul Claudel] haben gesagt, was sie in Gegenwart der unerwarteten Dinge und Menschen gefühlt haben, mit denen sie zusammenzutreffen suchten. Aber haben sie auch aufgedeckt, was diese Dinge und Menschen in ihrem Innern und von ihnen dachten? Denn es gibt vielleicht vom Reisenden zu dem hin, was er sieht, einen Rückstoß, der das Gesehene erschüttert. […] Hier aber handelt es sich um den eigensinnigen, zunächst noch etwas unklaren und unbewußten Versuch, einen Exotismusbegriff zu schaffen, der die ,Dinge selbstʻ, die Außenwelt bis hin zum Gegenstand in seiner Gesamtheit in Betracht zieht.

Folgerichtig setzt Segalen ein eigenes Zitat über diesen Abschnitt, das als zentrale Absicht auch von Ziegel & Schindeln gelten kann: „Ich habe getan, als sprächen die Dinge.“ In den Aufzeichnungen über China und Japan ergänzt er diese Aussage: „Es geht darum, sehen zu lassen. Es geht nicht darum zu sagen, was ich von den Chinesen denke – (ich denke von ihnen, ehrlich gesagt, gar nichts) –, sondern was ich mir von ihnen ausmale; nicht mit der falschen Funzel eines ,dokumentarischenʻ Buches, sondern in der, jenseits der Realität, starken & realen Form eines Kunstwerks.“

Ziegel & Schindeln ist in doppelter Hinsicht – in Form und Inhalt – ein ungewöhnliches Reisebuch: Segalen konzentriert und skizziert, was ihn beschäftigt und fasziniert: die Figur des Kaisers, seine Hauptstadt Peking und ihre Architektur, die Schönheit und Hässlichkeit von Gebäuden, besonders von Tempeln, die Verwendung von Holz als endlichem Baumaterial, die von den Chinesen beäugte Christianisierungspolitik durch westliche Missionare und das undurchsichtige Treiben westlicher Kaufleute, das anstrengende Reisen über Gebirge und das Erlebnis der Flüsse und Stromschnellen, den für Segalen fremdartigen Gesang von Ruderern, die Besuche klassischer Theateraufführungen in China und Japan und den von ihm verabscheuten Tourismus. In nuce: das Zusammenprallen, aber auch das Ineinandergehen von westlicher Moderne, der Standardisierung und Nivellierung mit der „Eigentümlichkeit“, der Langsamkeit und Stille und der traditionellen Lebensweisen in Ostasien.

Zwei Passagen, die die Essenz von Segalens Eindruck von China enthalten und zugleich die Ambivalenz aufzeigen, mit der der Reisende das Land in Ziegel & Schindeln wahrnimmt, versuchen sich an einer Art Zusammenfassung des Gesehenen und Erlebten:

China ist das Reich, das Reich ist der Himmel, & alles ist wiederum eingehüllt in dieselbe Beschaffenheit & dieselbe Herrlichkeit: Alles hier ist entweder Abschaum oder Höchste Macht, Oberster von Millionen Menschen oder diese zu Millionen verstreuten Menschen: Alles hier ist entweder arm & zerlumpt oder aber Kaiserlich: Der Kaiser ist überall: Er gibt seiner Epoche einen Namen nach seinem Wunsch, er benennt seine Zeit: & aus der Tiefe der Provinzen gelangen die feinsten Viktualien bis zu ihm.

Das Angsterregende der Hinterwelt & des wirklich gewordenen Traums. Das ist China.

Thematisch finden sich spannende Parallelen zu Hermann Hesses Reisebuch Aus Indien (1913). Auch der deutsche Schriftsteller ist nicht sehr angetan, was die Folgen der Globalisierung – in seinem Fall in Niederländisch-Indien und im britisch beherrschten Ceylon – betrifft. Einerseits ist Hesse fasziniert von den Völkern Asiens, vor allem den Chinesen, und ihrer für ihn fremden Art zu leben, zu denken und zu glauben. Andererseits blickt Hesse skeptisch auf die teilweise unkritische Übernahme westlicher (Kultur-)Techniken durch die östlichen Ethnien und lehnt den Rassismus, die Missionierung und den oft mangelnden Respekt der Westler vor den Sitten der Einheimischen ab.

Ähnlich wie Hesses Sammlung Aus Indien ist Segalens Ziegel & Schindeln stilistisch wechselhaft: mal nüchtern und präzise beschreibend, mal pathetisch gehalten. Doch im Gegensatz zu Hesses ist Segalens Reisebuch teilweise sperrig, was auch an den wenig bekannten Personen- und Ortsnamen sowie Begriffen liegt. Der Leser muss sich erst langsam in den Text hineinarbeiten – und zusätzlich um die Absicht des Autors wissen. Insofern sind die umfangreichen Anmerkungen, das Nachwort, die biografischen und bibliografischen Notizen, die dem Haupttext folgen, eine große Hilfe. Der Abschnitt „Den Jahren – Der gefräßigen Zeit“, aus dem im Folgenden zitiert wird, soll Segalens Absicht und Stil beispielhaft wiedergeben. Darin hat nicht der aus dem Westen stammende Ich-Erzähler das Wort, sondern der chinesische Herrscher:

Du, der du aus fremden okzidentalen Gegenden kommst, zu Fuß, damit deine Reise dich edel genug macht, mit mir von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, – was wagst du zu behaupten, wahrlich? – dass man im Reiche Fa [= Frankreich; B.S.] & den angrenzenden kleinen Ländern das leichte, duftende & linde Holz verachtet, & dass man in Stein baut, um für die Ewigkeit zu bauen?

Du behauptest, dass Brücken & Gewölbe existieren, & gut umschlossene Festungen noch bestehen, die unsere erlauchten Dynastien der Zhou & der Han schon hätten betrachten können? Deren Zement härtet Tag für Tag, die aufeinanderfolgenden Monde glätten den Stein, & die Jahre werden selbst in Myriaden die Verbindungen nicht lockern können, deren sich die Erbauer rühmen?

Welche Narrheit! Wissen sie denn nicht? Nichts widersteht dem scharfen Zahn der Zeitalter! Sollten sie es nicht wissen? Und sie verzehren sich in ihren Mühen & ihrem Unwissen…

Aber ihr, Söhne der Han, & ich, Sohn des Himmels, dessen Leben zehntausend Jahre währt & zehntausend Zehn mal Tausende von Jahren, hüten wir uns, so zu denken! Ehren wir die zerstörerische Zeit aufs Höchste, ohne uns auch nur träumen zu lassen, ihr zu widerstehen.

Das Sperrige und Ungewohnte in Ziegel & Schindeln erschwert und verlangsamt die Lektüre. Doch das scheint zu Segalens Intention zu gehören, so den Blick auf „das Andere“ zu verschieben beziehungsweise im obigen Fall seine Perspektive einzunehmen und den westlichen Leser zu zwingen, sich auch die nötige Zeit für den Perspektivwechsel und das „Sich-Hinein-Lesen“ in das Andere zu nehmen.

Segalens Versuch, aus einem nicht-kolonialen Blickwinkel über China und Japan an der Schwelle zur Moderne, in einer Epoche des raschen und radikalen Umbruchs, zu erzählen, kann die Leser in den Bann ziehen. Während der Lektüre baut sich vor den Lesern eine „exotische“ Welt im positiven Sinne auf – positiv, weil der Erzähler dem Eigenen und Eigentümlichen in beiden besuchten Ländern trotz Kritik an bestimmten Erscheinungen und Entwicklungen respektvoll begegnet.

Wenn man sich bewusst macht, dass der Autor diese Haltung in einer Epoche einnimmt, in der im Westen mehrheitlich das Gegenteil – die eigene Höherwertigkeit gegenüber Nicht-Abendländern – politisch und publizistisch propagiert wurde, kann man es als Glück bezeichnen, dass Ziegel & Schindeln nun auch den deutschsprachigen Lesern zugänglich und ein hierzulande wenig bekannter Autor (neu) zu entdecken ist. Die Hoffnung ist, dass Segalens (Haupt-)Werke, von denen in den 1980er-Jahren schon eine Reihe auf Deutsch erhältlich war, auf dem hiesigen Buchmarkt wieder zugänglich werden. Im Mai 2019 steht Segalens 100. Todestag an – ein möglicher Anlass.

Titelbild

Victor Segalen: Ziegel & Schindeln. Eine Reise durch China und Japan 1909/10.
Übersetzt aus dem Französischen von Maria Zinfert.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
328 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574855

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