Woran Schriftsteller glauben

Christian Sieg zeigt gekonnt die Beziehungen politischer Autorschaft zur Religion und nebenbei die Überlegenheit von Pierre Bourdieus Literatursoziologie

Von Markus JochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Joch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass „sich politische Autorschaft im deutschsprachigen literarischen Feld zwischen 1945 und 1990 auf religiöse Motive, Narrative und Diskurse“ beziehe, ist zwar zu allgemein gesprochen. Die Gegenbeispiele eines politischen und an Glaubensfragen desinteressierten Schreibens sind zu stark; man denke an Hans Magnus Enzensberger und Volker Braun. Aber wenn Christian Sieg seine Eingangsthese nur ein wenig abschwächt, wie im Klappentext, überzeugt sie. „Erst die Analyse der bisher von der Forschung vernachlässigten Funktion der Religion für die Inszenierung politischer Autorschaft erlaubt es, den politischen Gehalt der Nachkriegsliteratur ganz zu erschließen“ ‒ dieser Satz wird von seiner Habilitationsschrift beeindruckend plausibilisiert. Es war an der Zeit, dieses Desiderat zu füllen, schließlich denkt alle Welt bei politischer Autorschaft mit religiösen Bezügen zumindest in Deutschland nur an Heinrich Böll oder an ein aversives Verhältnis. Warum es sich komplexer verhält, verdeutlicht Sieg in seiner Studie Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990, die einen ganzen Strang der Nachkriegsliteratur freilegt, in dem der christliche Glaube als spirituelle Basis, als Zielscheibe oder rein semantisch eine prominente Rolle spielt.

Das traditionsreiche Gerücht, politische Literatur habe mit Unterschriftstellerei zu tun oder mit der Unfähigkeit von Autoren, am Mikro vorbeizugehen, machte erst kürzlich wieder die Runde, beim 100. Geburtstag von Böll, als man im Feuilleton wie selbstverständlich Werk und engagierte Intervention trennte. Von der Denkgewohnheit grenzt sich Sieg ab, indem er das Politische im jeweiligen literarischen Werk verortet und den Begriff der intentio operis stark macht. Da er zugleich das agonale Potenzial von Autorschaftsmodellen sieht, greift er auf die Feldtheorie zurück, die auf den Kampf um soziale Anerkennung in der literarischen Welt abhebt.

Überdies haben Die Regeln der Kunst (1999) mit dem Begriff illusio daran erinnert, dass der Glaube an den Sinn des literarischen Spiels dasselbe in Gang hält. Eine in der Germanistik bislang viel seltener als Feld, Habitus und Distinktion wahrgenommene, für Bourdieus Literatursoziologie jedoch ebenso zentrale Figur, die Sieg fruchtbar macht. Durchgehend zeigt er, wie der Einsatz religiöser Narrative und Motive Autoren dazu dient, die Leser und sich selbst von einer literarischen Mission zu überzeugen. Die Studie unterscheidet vier Typen von Sinnstiftungen beziehungsweise Autorschaftsmodellen, denen je ein größeres Kapitel gilt: a) Schreiben, um zu mahnen, b) um zu lästern, c) um sich zu opfern und d) um die Zukunft zu offenbaren.

Nicht ganz nachvollziehbar ist es, den Mahnern der 1950er und frühen 60er Jahre, neben Böll dessen Kölner Kollege Paul Schallück, nachzusagen, sie hätten sich als Gewissen der Nation inszeniert. So wichtig für beide die Kategorie Gewissen war, mit dem Zusatz „der Nation“ wird ihnen ein Reichweitenanspruch zugeschrieben, den sie selbst nicht erhoben haben und den Böll in einem „Aspekte“-Interview von 1975 ausdrücklich von sich wies. Dass man diesem Autor das überhöhende Etikett nachgeworfen hat, sagt weniger über ihn aus als über eine idolbedürftige Öffentlichkeit.

Umso präziser erläutert Sieg das tatsächliche und eine Nuance bescheidenere Schreibethos: im Vergleich zur Amtskirche moralische Autorität zu reklamieren. Als Erzähler wie auch publizistisch führt Böll die Nichtauseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland auf einen fehlenden Sinn für Schuld, Reue und Buße zurück und gibt damit den theologischen Konzepten eine politische Wendung. Sie primär gegen das Kirchenestablishment zu richten, drängt sich ihm auf: Vor 1945 hat der Klerus in weiten Teilen mit den Nazis paktiert, danach lässt er wie der Rest der Gesellschaft die Schuldanerkennung vermissen. Spricht der Linkskatholik den kirchlichen Würdenträgern ab, ihrem christlichen Auftrag nachzukommen, behauptet er nicht einfach einen Autoritätsverlust. Ständig ein moralisches Vakuum zu beklagen, bedeutet auch, sich selbst als Ersatzautorität ins Spiel zu bringen. Der Erfolg seiner Autorschaft beruht auf einem typisch häretischen Modell: Kirchenkritik aus dem Glauben an den unkorrumpierten Glauben.

Die eigentliche Entdeckung im Kapitel aber sind die Texte des heute nahezu unbekannten Schallück – ein Schriftsteller, der ursprünglich Missionar werden wollte und der unabhängig vom benachbarten Starautor zu ganz ähnlichen Positionierungen kommt. Der eine wie der andere stößt sich an der Verdrängung deutscher Verbrechen durch die Wirtschaftswunder-Mentalität, begreift das Verhältnis der Gegenwart zur NS-Vergangenheit analog zum Verhältnis von (fehlender) Beichte und (vorhandener) Sünde, zieht Romanfiguren und Leserschaft vor die letzte Instanz Gewissen und schärft den Wohlstandskatholiken ein, dass sich religiöse Gehalte im sozialen Verhalten konkretisieren  müssen ‒ ein Merkmalskatalog, den Böll also nur vermeintlich exklusiv hatte.

Und Schallücks eigene Akzente? Gemeinschaft, die er wie Böll konkurrenzzentrierter Gesellschaft vorzieht, gründet er auf den dialogischen Imperativ eines jüdischen Philosophen, Martin Bubers Gebot „Du sollst dich nicht vorenthalten“. Doch gibt es einen vielleicht noch interessanteren Unterschied. Wenn wir beiläufig erfahren, dass Schallück in Engelbert Reineke, seinem wichtigsten Werk, einen Pfarrer mal als eifernden Denunzianten von Nicht-Kirchgängern, mal als rechtschaffenen Geistlichen im NS porträtiert, mithin differenziert schildert, kontrastiert das scharf mit den Schwarz-Weiß-Zeichnungen Bölls, bei dem Figuren mit Amt und/oder Geld charakterschwach zu sein, die ,kleinen Leute‘ hingegen das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Fehlt bei Schallück das versimpelnde Moment, ist umso mehr das gnadenlos kurze Gedächtnis des Literaturbetriebs zu bedauern, in dem sich schon Mitte der 70er kaum noch einer dieses Erzählers und seines Erfolgsromans von 1959 erinnerte. Sieg hat einen Querkopf, der gegen das politische Vergessen womöglich sogar besser anschrieb als sein prominenter Kollege, dem literaturgeschichtlichen Vergessen entrissen.

Danach die Blasphemien der Danziger Trilogie zu verhandeln, heißt, eine Überbietung zu markieren. Während das Kölner Duo bei aller Kirchenkritik den christlichen Werten noch vertraut, richtet das Erzählen des frühen Grass die Kritik gegen Religion an sich ‒ eine Differenz, die gern ignoriert, wer Böll und Grass in einem Atemzug nennt. So stark die Prägung durch ein katholisches Milieu bei beiden ist, sie zeitigt Abstoßungsbewegungen unterschiedlichen Grades. Wie Sieg betont, bildet der Nationalsozialismus zwar auch bei Grass den historischen Referenzpunkt politischer Kritik, doch nun eben als Beweisstück gegen Glauben und Gläubige schlechthin. Wenn in der Blechtrommel eine Gruppe religiöser Frauen im antisemitischen Terror der Reichspogromnacht das Transparent „Glaube, Liebe, Hoffnung“ hochhält und damit unfreiwillig die groteske Wirkungslosigkeit ihrer Botschaft demonstriert, ist das nur ein Beispiel für die durchgehende Wertungssteuerung. Katholizismus steht „für die Ignoranz religiöser Heilsversprechen gegenüber den Leiden in der Welt“.

Deutlich macht die Relektüre auch, dass die Religionsverachtung die Funktion politischer Kritik mitunter überbordet. Zum Beispiel, wenn von lustvoller Zweckentfremdung eines Sakraments erzählt wird. Die „Instrumentalisierung der Beichte, die  im Fall von Oskars Mutter dazu dient, der Affäre mit ihrem Cousin weiter nachzugehen“ (Sieg), hat mit Nazi-Bezügen nichts zu tun, dafür umso mehr mit der Spottlust des Autors, einem ganz anderen Ton als der Böll’schen Anklage im Namen des wahren Glaubens. So groß wie die Zahl biblischer Bezüge in der Trilogie ‒ von Mahlkes Adamsapfel als Anspielung auf den Sündenfall bis zur Kain-und-Abel-Geschichte in Hundejahre ‒, ist die Freude an der blasphemischen Geste. Erwähnt seien hier nur das Motiv eines sexuell konnotierten Marienkults und die Rede von Jesus als „Sportler aller Sportler, Sieger im Hängen am Kreuz“.

Weil der junge Grass merklich auf die Führung im Katholikenbrüskieren aus war, ist die Pointe, dass er in dem Rennen nur zweiter Sieger bleibt. Auch im Lästerer-Kapitel bewährt sich das Prinzip der Paarbildung; verglichen mit Arno Schmidt wirkt der Schnauzbart so satanisch wie die Schöneberger Sängerknaben.

Schmidts Angriff aufs vegetative Nervensystem christlicher Leser reicht von drastischen Vergleichen („Blutfresserei“ Abendmahl) und Wortspielen (ein verregneter Tag als „Anus Dei“) über die prinzipielle Rechtfertigung von Sex in außerehelichen Lebensgemeinschaften bis zur Beschreibung der christlichen Höllenvorstellung als Super-KZ. Besonders letztere Invektive bestätigt Siegs Differenzbestimmung: Wo die Religionskritik eines Grass dem Christentum ein Versagen im NS vorhält und sich so politisch legitimiert, kappt Schmidts Polemik derlei Bindung und verselbständigt sich. Beim großen Solipsisten ist zuerst die heftige Abneigung gegen das Kreuz da, die keiner Rechtfertigung zu bedürfen glaubt und der die jüngste deutsche Vergangenheit weniger als Beweggrund denn als Bildspender dient. Aber was ist von derlei Gewichtung und Verfahren zu halten? Unverständlich, dass Sieg sich nicht mit Jan Süselbecks Dissertation Das Gelächter der Atheisten (2006) auseinandersetzt, die die Reduktion des Holocaust auf die christliche Höllenvision kritisiert, unter anderem, „da ein historisches Ereignis von nie dagewesenen Dimensionen auch nach neuen sprachlichen Bildern der Deskription verlangt“.

Deutlicher herausmeißeln können hätte Sieg eine Distinktion, die das von ihm zitierte Material etwa dann erkennen lässt, wenn Schmidt(s Erzähler) Jesus schwache Mathematikkenntnisse ankreidet. Die Sottisen dieses Autors waren witziger als die von Grass. Sehr überzeugend dagegen wird dargelegt, wie bei Schmidt die Kunst an die Stelle der Religion tritt, wofür Aus dem Leben eines Fauns das beste Beispiel liefert. Die Bekehrung des Erzählers zu Christoph Martin Wieland erweist sich als Parodie auf die Konversion des Augustinus und weist ins Herz der Schmidt’schen illusio. Wo für den christlichen Gott nur Hohn und Spott übrig bleiben, müssen literarische Hausgötter her, wie ja auch die immer schon etwas steil anmutende Verehrung für Friedrich de la Motte Fouqué beweist.

Manche Schmidt-Interessenten sprechen dem Meister politische Autorschaft ab, weil doch zu bezweifeln sei, dass (so hieß es 1999) „seine Bücher auf Durchsetzung bestimmter Ziele im staatlichen Bereich oder auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens“ zielten. Das ist ein Politikverständnis in den Grenzen der Vorstellungskraft von Andrea Nahles. Siegs plausible Gegenargumente: Auch ein Schreiben, das keiner politischen Partei zurechenbar ist und die eigene Marginalität ausstellt, kann politische Wirkungen entfalten. Abgesehen davon, dass radikaler Anti-Katholizismus (und -Militarismus) zwangsläufig oppositionelle Züge annimmt, wenn, wie in der Adenauer-Republik, Politik und Kirche verbandelt sind, spricht für Schmidts Politizität die gegen ihn erstattete Anzeige wegen Gotteslästerung und Pornografie. Die Grenzen der im Grundgesetz geschützten Kunstfreiheit testete der Einsiedler objektiv aus, so gern er auf die Strafandrohung von 1956 verzichtet hätte.

Die mituntersuchte Rezeptionsgeschichte der vier Autorschaften bis 1963 ergibt das Bild einer für viele wohl verblüffend liberalen Literaturkritik. Auch wenn man den Lästerern da und dort Blasphemie vorwirft, die sich abgeklärt gebenden Stimmen überwiegen bei Weitem. Es sind Politik oder privatrechtliche Kläger, die skandalisieren, nicht das Feuilleton. Auch rezeptionsseitig belegt die Studie den hohen Autonomiegrad des westdeutschen literarischen Feldes spätestens ab Mitte der 50er Jahre, eine weitgehende Unabhängigkeit von externen Mächten wie der Kirche, was davor warnen sollte, das restaurative Klima im politischen Feld mit einem im literarischen zu verwechseln.

Überraschen wird fast alle literaturwissenschaftliche Rezipienten, dass die gemeinhin unter Neuer Innerlichkeit firmierende Literatur der 70er Jahre von Autorschaft als inszeniertem Selbstopfer geprägt war und dabei christliche Motive aufgriff. Im Abschnitt zum „Leiden an der Gesellschaft“ ist der Neuigkeitswert besonders hoch, obwohl zwei der fünf Beispiele weniger zwingend anmuten.

Klassenliebe, der feministische Bestseller von 1973, ist fraglos ein gutes Exempel für authentisch auftretende Autorschaft, die schwach fiktionalisierte Darstellungen persönlicher Sorgen und Nöte als politischen Akt verstanden wissen will. Die Schwierigkeiten von Karin Strucks Erzählerin mit der theorielastigen DKP und das Minderwertigkeitsgefühl des Arbeiterkinds unter Akademikern mögen als „in Szene gesetztes Leiden an der Gesellschaft“ hingehen. Allein, bis auf eine einzige Stelle, wo die Erzählerin ihre Schreibpraxis als „monotones Rosenkranzgebet“ bezeichnet, sind weit und breit keine religiösen Bezüge auszumachen. Und worin sollte das Selbstopfer bestehen?

Ähnlich steht es um Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Die dargestellten Schwierigkeiten beim Schreiben des Selbst wie auch dessen Einwand gegen andere 68er, mit dem rituellen Aktivismus die Empfindsamkeit fürs Ich stillzulegen, veranschaulichen eine authentisierende posture (Jérôme Meizoz) bestens. Nur fällt die Referenz auf Religion erneut dünn aus. Hier beschränkt sie sich auf eine Stelle, wo das Ich den Augenblick des Todes kurz als Moment der Selbsterkenntnis imaginiert und dadurch einmal die Gattung christlicher Todesmeditation berührt. Ansonsten: Fehlanzeige. Auch fragt man sich, zumal Born 1976 noch nicht erkrankt war, ob das für die Befindlichkeiten seines Alter Ego gewählte „Leiden an der Gesellschaft“ nicht durch ein entdramatisierendes „Probleme mit“ ersetzbar wäre.

Doch bleiben dann immer noch drei extrem starke Posten im Beweisaufgebot. „Ich sah mich am Kreuz wie Jesus Christus“ ‒ in Der Hunger nach Wahnsinn (1977) erscheint Autorschaft fürwahr als religiös gefärbte Selbstopferung. Maria Erlenberger beschreibt ihren Versuch, sich durch Verhungern zu töten, nicht nur als Projekt der Selbstfindung durch Schmerz. Sie bedeutet ihre Magersucht, eine Verweigerung von Weiblichkeitsidealen durch Übererfüllung, als repräsentativen Protest gegen eine Gesellschaft, die krank mache. In einer Formulierung wie  „bereit für alles Grauen und Leid der Welt“ steckt unübersehbar ein Moment von stellvertretendem Leiden, der imitatio christi.

„Einspruchsinstanz gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen“ ‒ Siegs Definition des Politischen in der Literatur ‒ ist der Text durch die vor allem an der Psychiatriekritik ablesbare Überzeugung, die Krankheit des Einzelnen verweise nur aufs Pathologische der vermeintlich gesunden Normalität. Auf die Spitze treibt diese für die 70er so typische Vorstellung Fritz Zorn, der in Mars (1977) seine Krebserkrankung einer lieblosen Erziehung und einem puritanisch-emotionsarmen Umfeld zuschreibt. Todesursache: Züricher Bürgertum. Erst die Konfrontation mit dem Tod, so stellt er wie schon Erlenberger es dar, ermöglicht Selbsterkenntnis. Für die Überwindung der eigenen Entfremdung muss das alte Ich geopfert werden.

Sieg arbeitet zudem heraus, wie Zorns erste Sinngebung ‒ gesellschaftlich bedingte und damit notwendige Erkrankung ‒ religiöse Sinnstiftungen gegenläufiger Art nach sich zieht. Einerseits eröffnet sich wiederholt eine christologische Dimension, etwa wenn der Autor seinen Tod als Endpunkt einer pathologische Familiengeschichte versteht und erklärt, den Becher nur bis zur Neige zu leeren. Andererseits soll sein Sterben der Anklage Gottes dienen, dem Allmächtigen das Leiden gerade nicht verziehen werden, ganz anders als bei Jesus und in erklärter Kontrafaktur zur Hiob-Geschichte.

Dass erst handfester Leidensdruck die Autoren der 70er in nennenswerter Weise zu christlichen Subtexten lenkt, bestätigen auch die Beobachtungen zu Die Reise (1971/77). Bernward Vespers Elend bestand bekanntlich in der Prägung durch die Nazi-Eltern. Sie abschütteln zu müssen, beschreibt er als Opfern eines Teils der eigenen Identität, und den endgültigen Bruch mit Will Vesper, dem faschistischen Dichtervater, als Epiphanie. Beides war dem Rezensenten vorher nur halb bewusst. Auch die zitierte Apologie der Gewalt als Weg „unserer Erlösung“ scheint mir übrigens dem Leiden am Elternhaus geschuldet oder zumindest mitgeschuldet, nämlich Zeichen der Mentalität, den eigenen Hass aufs schlechte Alte zum Problem einer ganzen Generation („unserer“) zu stilisieren.

Die Kapitel zu den 1950er bis 70er Jahren machen auf eine Doppelwertigkeit des Christentums aufmerksam, mit der sich erklären lässt, warum Religion auch für nichtchristliche Schriftsteller eine Bezugsgröße bleibt. Gegen die Güte von Gottvater spricht und also skandalisieren lässt sich das Leid der Welt (Grass, Schmidt) oder das der eigenen Person (Zorn). Attraktiv am Rollenmodell von Gottes Sohn ist die aktive Variante des Leidens, der Opfergangsacrificium, nicht victima. In diesem Zusammenhang hätte man sich zumindest eine kurze Diskussion gewünscht, wie die Selbstbilder von Zorn und Vesper sich zur christusartigen Selbsterhöhung bei Walter Kempowski verhalten, der Kai Sina in seiner lesenswerten Studie Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski (2012) nachspürte.

Auf die Kehrseite religiöser Codierung kommt Sieg mit der abschließenden Beschreibung von apokalyptischer Autorschaft zu sprechen. Wenn er bilanziert, wie Christa Wolf in Kassandra und Günter Grass in Die Rättin die Offenbarung des Johannes säkularisieren, erhellt er indirekt, dass ein biblischer Tonfall in den Warnungen vorm Weltuntergang ein Risiko birgt. Er kann politische Autorschaft in Verruf bringen.

Apokalyptik nämlich, lernen wir, behauptet nicht nur Wahrheit, sondern inszeniert sich auch als Medium der Wahrheit: „Begreift man diese Immunisierungsstrategien gegenüber konkurrierenden Wahrheitsansprüchen […] als das Charakteristikum apokalyptischer Autorschaft, dann zeigt sich die Kontinuität zwischen der Autorschaft des Johannes und den Inszenierungen von Autorschaft, wie sie Grass und Wolf in den 1980er Jahren betreiben.“

„Die Vision des Weltuntergangs fungiert […] als Drohkulisse, vor der die Forderung an die Leserinnen und Leser ergeht, sich dem Medium der Wahrheit anzuvertrauen.“ „Verlangt wird nicht weniger als mit den Augen des Autors oder der Autorin zu sehen beziehungsweise mit seinen oder ihren Ohren zu hören.“ Selten wurde Penetranz treffender umschrieben.

Auch im Fall der Zukunftsoffenbarer ist das Einblenden von Rezeptionsgeschichte und diskursivem Umfeld aufschlussreich. 1983, auf dem Scheitelpunkt einer auch das Feuilleton erfassenden Furcht vorm Nuklearkrieg, kommt der Seherinnen-Ton von Wolf gut an. Grass dagegen erntet nur drei Jahre später für seine säkulare Prophetie Gegenwind. Mit der handwerklichen Schwäche, den Roman mit fast allen Problemen der Welt überladen zu haben, sind die teils heftigen Verrisse der Rättin nicht hinreichend erklärbar. Der Rückblick macht weitere Faktoren kenntlich: Entgeht den Rezensenten auch die Ähnlichkeit mit dem Johannesevangelium, so registrieren doch viele genervt einen religiösen Ton. Zudem fragen sich Mitte der 80er Jahre immer mehr Schriftsteller und Kritiker, warum sich auch noch die Literatur um die Apokalypse kümmern muss ‒ in der Tat „eine Fürsprache für die Autonomie der Kunst“.

Der letzte Grund für die Grass-Schelte erschließt sich aus der Gesamtanlage von Siegs Buch. Angenehm jargonfrei, das heißt ohne ständig Distinktion sagen zu müssen, macht es sich doch eine bestimmte feldtheoretische Perspektive zu eigen: Wenn regelmäßig die häretischen (neuen, jungen) Definitionen des Schriftstellers die orthodoxen (etablierten, alten) herausfordern, ist bei jedem Autorschaftsmodell zu beachten, von welchem vorausgegangenen es sich absetzt. So auch beim frühen Grass. Mit seinem ein Versagen der Religion im NS evozierenden Schreiben gehört er zur zweiten Generation jener Jungautoren, die sich, wie eingangs herausgestellt wird, von der Orthodoxie der 1950er Jahre distanzieren. Man attackiert das die Religion affirmierende wie sich selbst sakralisierende Dichtungsverständnis der Inneren Emigration, das Politik aus der Literatur verbannt sehen will.

Zweieinhalb Jahrzehnte später freilich stellt politische Autorschaft  die neue Orthodoxie dar. Lädt der arrivierte Grass sie nun seinerseits religiös auf, dann ist der politische Autor kaum mehr von einem „Priester-Schriftsteller“ (Karl Heinz Bohrer) zu unterscheiden. Wenig verwunderlich, dass er nun die symbolische Aggression auf sich zieht, die er selbst einst die Altvorderen spüren ließ. Kein kleines Verdienst dieser Studie liegt darin, einen Zyklus im literarischen Feld nachzuzeichnen: Ein und derselbe Erzähler stärkt anfänglich durch Katholizismuskritik den Glauben an politische Autorschaft, um ihn am Ende mit einem Über-Einsatz religiöser Semantik (selbst die Sintflut kommt in Die Rättin vor) unfreiwillig zu zersetzen. Sieg selbst formuliert das natürlich viel sachlicher. Seine Wissenschaftsprosa ist von nüchterner Eleganz, bis auf eine übermäßige Vorliebe fürs Verb „generieren“ musterhaft.

Auch theoretisch avanciert, erfasst die Untersuchung, dass die entscheidende Differenz in der Literatursoziologie zwischen System- und Feldtheorie verläuft. Die Einsicht ist gar nicht so selbstverständlich. Noch 2014 war in einer Einführung in die Literaturtheorie von Oliver Simons zu lesen, es konkurrierten, was das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft betrifft, die Konzepte von Adorno und Luhmann: Verselbständigung gegenüber vs. Verselbständigung in der Gesellschaft. Literatursoziologie auf dem Stand von 1986 übernimmt einfach die damals von Luhmann selbst aufgemachte Opposition.

Weniger folgsam zeigt sich Die ,engagierte Literatur‘ und die Religion. Dabei bestreitet Sieg nicht, dass Kunst sich in der Gesellschaft autonomisiert, wie alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme eigene Leitdifferenzen ausbildet, in ihrem Fall Codierungen wie schön/hässlich, stimmig/unstimmig und neu/alt. Doch setzt die Systemtheorie voraus, dass literaturinterne Prozesse (wie jene in der Kunst generell) nur an vorherige interne Operationen anschließen, womit sie Verselbständigung mit Geschlossenheit gleichsetzt. Eine Vorstellung, der hier mit Bourdieu zwei empirische Sachverhalte entgegengehalten werden: Die Grenzen des Literarischen sind instabil und Gegenstand einer permanenten Auseinandersetzung unter den Autoren, Autonomie erweist sich als relativ. Feldexterne Ereignisse können sich auf die internen Definitionen des Schriftstellers durchaus auswirken und diese umgekehrt andere Felder beeinflussen.

Umstrittenheit und Durchlässigkeit belegt die Studie glänzend. Normalerweise als Gegensätze verstanden, teilen Dokumentarliteratur und ,Neue Subjektivität‘ um 1970 das egalitäre Autorschaftsmodell, die Aufwertung nicht-künstlerischer Sprache als Authentizitätsnachweis, kurz: eine radikale Erweiterung des Literaturbegriffs. In den 50er Jahren erzielen insbesondere Bölls Texte (absichtlich) externe Effekte, sie stärken im politischen Feld die Adenauer-Gegner und ermutigen im religiösen den Reformkatholizismus. Die Literaturkritik zeigt sich oft genug bereit, Böll der moralischen Redlichkeit wegen stilistische Schlampereien nachzusehen ‒ ein erklärtes Lob nach nichtästhetischen, also feldfremden Kriterien (es gleicht freundlicher Demütigung). Historische Zäsuren wie der Holocaust und der Zweite Weltkrieg haben natürlich massive Folgen im literarischen Feld. Sie bilden den Horizont, in dem jüngere Autoren alle traditionellen Werte zu überprüfen fordern, in dem sie ihr Erzählen zumindest deklamatorisch auf politische Aufklärung verpflichten und in dem es ihnen rasch gelingt, die Innere Emigration zu delegitimieren.

Bei aller Orientierung an der Feldtheorie entgeht die Untersuchung jedoch dem Todeskuss der Orthodoxie. Bietet Systemtheorie gerade die passenderen Kategorien, greift Sieg auch mal auf sie zurück, etwa wenn es zusammenzufassen gilt, wie die Mahner Religion und Politik aufeinander beziehen. „Bei Böll und Schallück geht es nicht um eine Kommunikation des Codes Transzendenz/Immanenz, sondern vollzieht sich die Zweitcodierung religiöser Kommunikation im moralischen Code gut/schlecht.“ Prägnant formuliert. Vor allem aber legt er dar, warum sich Bourdieus Intellektuellenverständnis nicht umstandslos auf politische Autorschaft im Deutschland der 1950er Jahre übertragen lässt.

Das Modell Zola („J’accuse“) vor Augen, begreift Bourdieu die politische Intervention von Schriftstellern als einen Akt, der die Entwicklung des literarischen Feldes zur Autonomie vollendet. Wer in der Literatur Unabhängigkeit von externen Normen, und das heißt auch: von politischen Imperativen, nachgewiesen hat, kann als Intellektueller agieren. Er oder sie vermag mit einer besonderen Autorität, spezifischem symbolischen Kapital in das politische Feld einzugreifen. Die Autorität des politischen Engagements deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach 1945 aus der Autonomie des literarischen Feldes herzuleiten zu wollen, wäre jedoch verfehlt, „eroberte die Gruppe 47 ihre Position im literarischen Feld doch gerade gegen Vertreter der ,reinen Kunst‘ wie Gottfried Benn“. Auch so eine Sache ist es mit Bourdieus temporalisierender Sicht, man müsse zunächst eine sich von anderen Feldern scharf abgrenzende und primär auf interne Innovation zielende Literatur produziert haben, bevor man mit Gewicht politisch intervenieren könne. Da leuchtet Siegs Skepsis zumindest bei den frühen literarischen Werken von Böll oder Alfred Andersch ein. Sie zielten weniger auf avantgardistischen Mehrwert als auf politische Wirkung und waren von vornherein auf Überschreitung der Feldgrenze angelegt, selbst schon der politische Eingriff und das effektiv.

Die Inkongruenz von Bourdieus Modell und der Praxis dieser frühen 47er spricht weder gegen das eine noch gegen die anderen. Sie beweist nur, dass die sogenannte junge Autorengeneration sich unter hohem politischen Handlungsdruck befand und der Begriff Autonomie für sie schon deshalb kontaminiert war, weil ihn mit Benn ein kompromittierter Dichter besetzte. Schade fürs A-Wort. Die Inkongruenz als Erster erkannt zu haben, spricht allerdings sehr für Christian Sieg. Gelingen konnte es ihm, weil er als genauer Beobachter und souveräner Nutzer von Theorien unterwegs ist, nie als ihr Ministrant.

Titelbild

Christian Sieg: Die ‚engagierte Literatur‘ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld zwischen 1945 und 1990.
De Gruyter, Berlin 2017.
649 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110521603

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