Die Einheit des Vielfältigen

Fabian Sietz’ Untersuchung zyklischer Erzählstrategien im Rappoltsteiner Parzifal

Von Julia KermerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Kermer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von der germanistischen Mediävistik lange stiefmütterlich behandelte Rappoltsteiner Parzifal findet gegenwärtig immer größere Aufmerksamkeit. Einen wertvollen Beitrag zur spätestens durch Yen-Chun Chens Monografie angestoßenen Forschungsdebatte liefert Fabian Sietz mit seiner Untersuchung Erzählstrategien im Rappoltsteiner Parzifal. Diese räumt nicht nur mit dem Vorurteil auf, bei dem Werk handle es sich um eine strukturlose Kompilation, indem sie die bereits von Robert Schöller festgestellte sorgfältige Gliederung des Textes detailliert herausarbeitet und für dessen Interpretation nutzbar macht. Sie begibt sich auch auf die Spur seiner poetischen Programmatik und richtet erstmals – in bewusster Abgrenzung von Chen – den analytischen Blick auf jene Teilerzählungen, die bisher als störendes Beiwerk zu Parzivals Gralssuche abgetan oder gänzlich vernachlässigt wurden.

Seine methodische Herangehensweise legt Sietz eingangs knapp, aber nachvollziehbar dar: Der Formulierung des Vorhabens, den Rappoltsteiner Parzifal auf zyklische Kohärenzstrategien zu untersuchen, geht eine Diskussion, inwiefern der Begriff der Zyklizität auf diesen Text überhaupt anwendbar ist, voraus. Auch die Begrifflichkeiten, mit denen er im Weiteren operiert, werden klar definiert. So unterscheidet er medial (durch die Zusammenfassung in einen Codex), paratextuell (durch Überschriften, Initialen etc.) und narrativ hergestellte Einheit und differenziert zwischen sequentiellen und parallelen Teilerzählungen, das heißt solchen Handlungssträngen, die en bloc erzählt, und solchen, die unterbrochen und wiederaufgenommen werden. Einzig dem Begriff des Konnex hätte eine etwas detailliertere Erklärung bereits an dieser Stelle nicht geschadet, denn das Gemeinte (durch wiederkehrende Elemente generierte Kohärenz) erschließt sich erst im entsprechenden Kapitel gegen Ende der Arbeit vollständig.

Im zweiten Kapitel werden – erstmals in dieser Ausführlichkeit – die beiden überlieferten Handschriften des Rappoltsteiner Parzifal verglichen. Dank des streng systematischen Vorgehens erschließt sich deutlich, wie die zuvor erläuterten Strategien der Strukturierung jeweils eingesetzt werden, um das Werk zugleich als Einheit erscheinen zu lassen und es zu gliedern. Hierbei überzeugt nicht zuletzt die akribische Genauigkeit, mit der die Befunde an den beiden Textzeugen belegt werden.

Das dritte Kapitel widmet sich der poetischen Programmatik und den erzählten Geschichten des Rappoltsteiner Parzifal. Sowohl für den Epilog als auch für den Prologus werden Lesarten angeboten, die das Vorurteil der älteren Forschung, bei dem Text handle es sich um literarisch anspruchslose Handwerksware, erfreulicherweise hinter sich lassen: Die Metaphorik des Epilogs ziele auf das Lob des Mäzens sowie eine vorteilhafte Selbstinszenierung, wobei sie der Kunstfertigkeit der großen Meister in nichts nachstehe; der Prologus hingegen nehme das Programm der nachfolgenden Erzählung vorweg, indem er anstatt des Weges eines einzelnen Protagonisten zum Gral wiederholte Erlösungstaten verschiedener Helden ankündige. Sietz’ kleinschrittige Argumentation ermöglicht es, seine – wiewohl unter anderem auf einer etwas gewagten Deutung der Figureninitiale fußende – Interpretation nachzuvollziehen.

Der Gedanke, dass im Rappoltsteiner Parzifal das Konzept des Doppelromans erweitert werde, bildet den Ausgangspunkt einer Untersuchung jener Geschichten, die eben nicht um Parzival, Gawan und den Gral kreisen, sondern die Taten anderer Ritter schildern. Den diesen gewidmeten sequentiellen Teilerzählungen schreibt Sietz aufgrund ihrer Anordnung als vom übrigen Text deutlich abgegrenzte Blöcke eine vergleichsweise (in Relation zu den parallelen Teilerzählungen um Gawan und seinen Sohn) hohe Autonomie zu, zeigt aber auch, auf welche Weise sie miteinander und mit der Gralsthematik verwoben sind. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass die Kohärenz des Werks nicht auf dem Motiv der Gralssuche fuße, sondern vielmehr durch drei wiederkehrende Aspekte – die etwas klarer nach ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Analyseebenen differenziert werden hätten können – gestiftet werde: die Präsentation unterschiedlicher mythisch begründeter Heldenentwürfe als gleichrangige Alternativen, die Verknüpfung kausaler und finaler Handlungsmotivation in Rachefabeln und die bemerkenswert vielfältig ausgestaltete Minnethematik.

Indem Sietz gerade den vormals vernachlässigten Geschichten und Helden des Rappoltsteiner Parzifal Aufmerksamkeit angedeihen lässt, füllt er zweifelsohne eine Lücke in der bisherigen Forschung zu diesem Werk, fällt aber gegenüber dieser ins andere Extrem: Sein aus der Fokussierung auf das zuvor stets Übergangene resultierendes Fazit, dass der Text die Sonderstellung Parzivals nivelliere und der Gral seine zentrale Stellung einbüße, muss in dieser Absolutheit in Zweifel gezogen werden, ist doch trotz allem Parzivals Weg zum Gralskönigtum als roter Faden des gesamten Romans auszumachen. Dieser Kritikpunkt schmälert den positiven Gesamteindruck der Untersuchung jedoch kaum: Die Analyse der poetischen Programmatik und verschiedener Handlungsstränge des Werks fördert interessante Perspektiven zutage; insbesondere das Herauspräparieren von Strukturen im Text aber ist als höchst verdienstvoll zu bewerten, denn es ebnet nicht zuletzt der weiteren Erforschung des Rappoltsteiner Parzifal den Weg.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Fabian Sietz: Erzählstrategien im Rappoltsteiner Parzifal. Zyklizität als Kohärenzprinzip.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
328 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367480

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