Jenseits der Metaphern

Neige Sinno dekonstruiert in „Trauriger Tiger“ die allgemeinen Vorstellungen über sexuellen Missbrauch

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem als Roman bezeichneten Buch Traurige Tiger nähert sich Neige Sinno aus unterschiedlichsten Perspektiven dem sexuellen Missbrauch, den sie jahrelang erlitten hat.

An den Beginn ihrer Auseinandersetzung setzt sie ein Porträt des Täters: „Denn auch mich interessiert im Grunde vor allem das, was im Kopf des Täters vor sich geht.“

Und schon hier beginnen die Probleme des Rezensenten, beginnen meine Probleme. Nicht, weil es gute Gründe gibt, die Opferperspektive zu stärken oder andere Begriffe als „Opfer“ zu finden, um eine erneute Viktimisierung zu vermeiden. Nein, denn es steht mir nicht zu, irgendeinem Menschen vorzuschreiben, wie er sich mit seinen Gewalterfahrungen auseinandersetzt. Meine Probleme betreffen die Sprache, nicht Sinnos (ich rezensiere ohnehin die deutschsprachige Übersetzung), sondern unsere fehlende Sprache, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Kann man von „ihrem Missbrauch“ sprechen, als wäre es ein Besitz? Sollte man von Missbrauchserfahrungen sprechen? Aber ist denn das Wort „Erfahrung“ richtig? Sollte man von Opfern sprechen? Wie spricht man über den Täter bei einem emotional so aufgeladenen Thema? Nüchtern, wertend, empathisch? Ist das die viel beschworene Sprachlosigkeit? Ist es ‚unaussprechlich‘ was hier geschieht?

Was tut der Täter? „Die Worte aussprechen, die bewirken, dass das Kind sich ihm nähert, das erigierte Glied in den Mund des Kindes stecken, es dazu bringen, dass es ihn schön weit aufmacht.“ Ist es ‚schonungslos‘, dass Sinno den Vorgang der Tat gleich zu Beginn benennt? Ist diese Tat dann wirklich ‚unaussprechlich‘? Hier steht sie ja. Im Grunde ist es einfach. Ein zumeist männlicher Erwachsener zwingt ein Kind zu sexuellen Handlungen. „Das übersteigt jedes Verständnis“, konstatiert Sinno und gerade das macht den Täter so interessant. Wie kann er weitermachen, „als sei nichts passiert“? Den Missbrauch oft über Jahre wiederholen? Der Mensch als Monster, als das ganz Andere ‒ das fasziniert. Aber die schockierenden Zahlen machen skeptisch. Die WHO geht davon aus, dass in Deutschland bis zu eine Million Kinder Erfahrungen sexualisierter Gewalt gemacht haben – ein bis zwei Kinder pro Schulklasse. Es geht hier nicht um das Monströse, um das ganz Andere, um den faszinierenden Bereich weit jenseits unserer zivilisierten Gesellschaft; es geht um ein, wenn man wiederum ‚schonungslos‘ sein will, alltägliches Verbrechen. Aber was meint eigentlich ‚schonungslos‘? Dass man einen Hergang gänzlich ohne abmildernde Begriffe ausdrückt? Eine Schilderung jenseits der Metaphern. Wer aber bedarf der Schonung? ‚Die‘ Gesellschaft? Dieselbe Gesellschaft, die in familiären Strukturen, Institutionen und Ermittlungen die Täter wesentlich häufiger deckt als ‚schonungslos‘ bloßstellt? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Es gibt zwei Auswege aus dem Dilemma, die den Missbrauch erzählbar und sogar ‚massentauglich‘ machen. Da wäre einmal der Missbrauch als Geschichte des Leidens. Diese Version folgt der kathartischen Vorstellung, missbrauchte Menschen könnten sich die Traumatisierung ‚von der Seele schreiben‘. Die Leser*innen können in einer erlernten Rezeptionshaltung verbleiben und das fremde Leid im distanzierten Reich der inneren Annäherung nacherleben. Der andere Ausweg ist das Psychogramm des Täters (ich werde hier bei der männlichen Form bleiben, nicht, um zu suggerieren, es gäbe keine Täterinnen, aber um der statistisch deutlichen Überzahl männlicher Täter Rechnung zu tragen). Sinnos Eröffnung legt eher dieses Psychogramm nahe. Wie kommt ein Mensch zu solchen Taten, was hat er erfahren, wie wurde er sozialisiert, ist er womöglich selbst Opfer sexuellen Missbrauchs geworden, wie es erschütternd häufig der Fall ist? Eine Geschichte der Fortschreibung von Gewalterfahrungen. Wenn er sich auch nie ganz verstehen lässt, könnten sich die Leser*innen so dieser faszinierenden Abweichung der Psyche annähern. Beide Erzählstrategien sind gesellschaftlich akzeptiert. Die erste suggeriert Heilung, die zweite verbannt den Täter in die Monstrosität.

Sinno verweigert beide Narrative – oder überhaupt ein Narrativ. Vielmehr nähert sie sich dem Missbrauch von immer neuen Seiten. Aus der kindlichen Perspektive, über die mediale Berichterstattung, als juristisches Problem, als Sprachproblem, aus der Perspektive der Mutter, der Gesellschaft oder durch andere künstlerische ‒ zumeist literarische ‒ Gestaltungen. Und Kunst ist es, was Sinno erschaffen hat, ein auf großartige Weise schmerzhaftes Buch. Man spürt den Kampf mit der Sprache in jedem Satz, den Kampf mit dem Verstehen, dem Deuten, dem Fühlen. Als künstlerisches Werk verweigert es sich der Authentizität, trotz dem biographischen Anspruch. So spricht Sinno unvermittelt die Leser*innen an: „Betrachte diesen Text im Ganzen nicht als eine Beichte. Es gibt kein Tagebuch, keine Aufrichtigkeit, auch keine Lügen. Mein ureigener Raum ist nicht in diesen Zeilen, er existiert nur im Inneren.“ Dabei versteht sie ihr Schreiben nicht als Therapie, denn anders als das erste Narrativ es suggeriert, gibt es kein „Danach“, keine Verarbeitung, kein Ende des Missbrauchs. Sinno schreibt konsequent von Opfern sexuellen Missbrauchs und vielleicht ist es richtig so und keine zweite Viktimisierung. Denn tatsächlich sind Kinder in einem ganz umfassenden Sinn Opfer, weil sie schutzlos der Macht der Erwachsenen ausgeliefert sind.

Beeindruckend ist auch die immer wieder neue Suche nach passenden Sprachbildern. So erscheint der Täter, ihr Stiefvater, als Minotaurus, der die gesamte Familie tyrannisiert und ruhiggestellt werden muss. Gerade die Tiefenschicht mythischer Bilder, die uns als populäre Vorstellungen begleiten, deckt Sinno auf; erstaunlich oft berichten sie von Missbrauch und Vergewaltigung. Die Gorgone Medusa, deren Anblick mit den Schlangenhaaren die Menschen zu Stein verwandelt, ist nach einem Mythos das Opfer der Vergewaltigung durch Poseidon und Pallas Athene bestraft die einst schöne Frau mit ihrem monströsen Äußerem. Während feministische Kunst Medusa oft als Figur von Widerstand und Ermächtigung deutet, führt Sinno die mythische Gestalt mit ihren eigenen Erfahrungen eng. Als Opfer sexualisierter Gewalt geht ihr die gesamte Dorfgemeinschaft aus dem Weg, sie wird gemieden, ihr Anblick versteinert die Menschen. In ihr ist die Schande personifiziert. Von Medusa weiß man eher, dass Perseus sie enthauptet hat, als dass sie das Opfer einer Vergewaltigung war. Hier wird das Opfer erneut zum Opfer, weil die Tat zu schrecklich ist, um sie zu akzeptieren. Während die Täter im Gefängnis sitzen (in den eher seltenen Fällen, in denen es zur Verurteilung kommt) und beklagen, dass niemand sie verstehe, müssen die Opfer nicht nur mit der Traumatisierung leben, sondern auch mit sozialer Exklusion.

Aber ich möchte nicht den falschen Eindruck erzeugen, Neige Sinno wäre es um eindeutige Botschaften gegangen oder darum, dass die Leser*innen etwas über sexuellen Missbrauch verstehen. Wie bei aller guten Kunst ist es überhaupt nicht klar zu sagen, was das Buch eigentlich leistet. Aber auch wie bei aller guten Kunst fühlt man sich trotz des Themas am Ende bereichert. Ohne damit eine Deutung oder eine ästhetische Lesart vorgeben zu wollen, finde ich, dass hier der Beginn der ersten Duineser Elegie Rilkes sehr gut passt, um die Rezension zu beschließen:

Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören.

Titelbild

Neige Sinno: Trauriger Tiger. Roman.
Aus dem Französischen von Michaela Meßner.
dtv Verlag, München 2024.
304 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783423284226

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