Decolonize Reiseliteratur!

Sören Siegs Buch über seine Couchsurfing-Erfahrungen in Afrika reiht sich ein in eine stereotype Tradition des Erzählens über den globalen Süden

Von Lisa Pychlau-EzliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Pychlau-Ezli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem inzwischen legendären TED Talk The danger of a single story führt Chimamanda Ngozi Adichie das einseitige und stereotype Afrikabild des globalen Nordens auf die weiße Reiseliteratur zurück. Sie zitiert in diesem Kontext den Afrikareisenden John Lok, der 1561 zu berichten wusste, dass Afrikaner*innen Menschen ohne Köpfe seien, die Mund und Augen auf der Brust haben.

Einem derartigen Bericht würde heute natürlich niemand mehr Glauben schenken. Und dennoch sind es immer noch die „exotischen“, ungewöhnlichen und unglaublichen Dinge, die weiße Reisende über Afrika erzählen. Berichtet wird, was anders ist. Adichie zufolge geht es dabei um: „beautiful landscapes, beautiful animals and incomprehensible people, fighting senseless wars and dying of poverty and AIDS.“ Derartige Stereotype seien nicht deswegen gefährlich, weil sie falsch seien, erklärt Adichie, sondern weil sie unvollständig seien. Auf diese Weise werde die eine Geschichte über Afrika zur einzigen Geschichte über Afrika.

Wenn Menschen aus dem globalen Norden in den globalen Süden reisen, sollten sie sich bewusst sein, dass ihre Perspektive mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit durch solche „single stories“ vorbelastet ist. Sie sollten sich zudem vor Augen führen, dass die Entstehungsgeschichte des modernen Tourismus eng mit den kolonialen Aneignungen verzahnt ist. Das Verhältnis zwischen Europa und Afrika ist historisch durch die Sklaverei und den Kolonialismus extrem vorbelastet. Die Dekolonisation einiger afrikanischer Länder liegt noch keine fünfzig Jahre zurück; die Apartheit gerade einmal dreißig Jahre. Die heutigen Verhältnisse in vielen afrikanischen Ländern stellen das unmittelbare Resultat ihrer kolonialen Vergangenheit dar und koloniale Strukturen wie wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse wirken teilweise fort.

Angesichts der aktuellen Diskussionen um die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands werden auch die stereotypen Reiseberichte zunehmend kritisiert. Im Zentrum der Kritik steht dabei der eurozentrische weiße Blickwinkel (white gaze), der Zustände des globalen Südens am globalen Norden misst. Aufgrund dieser Opposition neigt die Berichterstattung vieler weißer Reisender aus dem globalen Norden dazu, defizitorientiert zu sein und sich auf „Exotisches“ zu fokussieren. Antirassistisch schreibende Aktivist*innen und Journalist*innen wie Tupoka Ogette und Mohamed Amjahid warnen vor klischeehaften und einseitigen Berichterstattungen, da diese bestehende Vorurteile verstärken können. Der Berliner Verein für machtkritische Bildungsarbeit glokal e.V. hat eine 52-seitige Broschüre zur Vorbereitung von Reisen in den globalen Süden herausgegeben, die zum Ziel hat, respektvolle Begegnungen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt ebenfalls Material bereit.

Das Erscheinen des Titels Oh wie schön ist Afrika … von Sören Sieg war 2022 geprägt durch die kritische Diskussion um ein sensibilitätsbewusstes Lektorat („sensitivity reading“). Diese besondere Form des Lektorats soll sicherstellen, dass (unbewusste) Diskriminierungen vermieden werden. Im Fall von Siegs Text hatte die Sensitivity-Gutachterin einiges zu beanstanden; Herr Sieg konnte seine Fassung des Textes jedoch beim publizierenden Verlag im Großen und Ganzen durchsetzen und berichtete darüber in der FAZ. Ein Jahr später, im Mai 2023, diskutierte ich diesen Fall kontrovers mit Herrn Sieg im Rahmen eines Streitgesprächs im Deutschlandfunk. Während Herr Sieg die Auffassung vertrat, seine geschilderten Erfahrungen seien authentisch und müssten daher genauso wiedergegeben werden, wies ich immer wieder auf die grundsätzliche Problematik des stereotypen Erzählens über Afrika aus einem unreflektierten weißen Blickwinkel hin.

Vor diesem Hintergrund möchte ich hier Herrn Siegs Reisebericht aus einer postkolonialen Perspektive kritisch analysieren. Dieser Text soll daher keine „normale“ Rezension werden. Der Fokus der folgenden Analyse richtet sich nicht, wie üblich, auf die sogenannte literarische Qualität des Textes, sondern wendet sich stattdessen exemplarisch dem Genre als solches zu und stellt dieses infrage.

Ganz in der Tradition des Erzählens über den „schwarzen Kontinent“ richtet sich auch in Oh wie schön ist Afrika … der Fokus stets auf das „Andere“, das „Exotische“ und das Defizitäre. Das literarische Verfahren in Herrn Siegs Text folgt dabei immer dem gleichen Muster: Zunächst wird polarisiert (wir Deutsche versus die Afrikaner*innen). Dann erfolgen verallgemeinernde Zuschreibungen, aus denen sich zwangsläufig Hierarchien ergeben. Auf diese Weise entstehen „single stories“ über Afrika, welche nicht grundsätzlich falsch sind, aber eben auch nicht die ganze Geschichte erzählen.  

Dieses Verfahren ist gleich zu Beginn des Textes im Kleinen zu beobachten, als Herr Sieg kataloghaft Unterschiede zwischen Deutschland und Afrika auflistet. Er stellt das europäische Einzelkind der afrikanischen Großfamilie gegenüber, die hochmodernen ICEs den zerbeulten Matatus, die vielfältigen Bildungsmöglichkeiten und die gute Abfallwirtschaft in Deutschland kaum vorhandenen Bildungsmöglichkeiten und einer scheinbar gar nicht vorhandenen Abfallwirtschaft. Afrika wird hier zum „anderen Planeten“, den er mit den Begriffen Gefahr, Armut, Krankheit, Korruption, Party, Sex, Musik, Tanz, Religion und Kindern assoziiert. Deutschland hingegen ordnet er Begriffe wie Geld, Karriere, Effizienz, Kompetenz und Zuverlässigkeit zu.

Er kommt abschließend zu der Konklusion: „Unsere Lieder sind traurig; ihre fröhlich; wir leiden unter Depressionen und schlechter Laune, sie sprühen vor Energie und Selbstironie; wir sehen das Ende der Welt nahen, sie bersten vor Optimismus“. Sicherlich ist an den Beobachtungen von Herrn Sieg nicht alles falsch. Die Geburtenraten sind in vielen afrikanischen Ländern höher als in Deutschland und die Abfallwirtschaft teils nicht professionalisiert. Aber es gibt auch in Deutschland Großfamilien, fröhliche Musik, eine ausgeprägte Partykultur und alte Fahrzeuge. Auf der anderen Seite gibt es auch in Afrika depressive Menschen, deren Leid nicht unsichtbar gemacht werden darf, indem pauschal davon ausgegangen wird, dass alle Afrikaner*innen fröhlich seien. Weder Deutschland noch irgendein afrikanisches Land ist homogen. Aussagen wie die im Zitat angeführten verfolgen demnach weniger den Zweck, reale Zustände zu schildern, sondern sind vor allem darauf ausgerichtet, Kontraste zu erzeugen, Unterschiede zu konstruieren und letzten Endes ein Zivilisationsgefälle aufzuzeigen, welches implizit auf die Demonstration weißer Überlegenheit abzielt und sich dabei kolonialrassistischer Narrationen bedient.

Auf einer paradigmatischen Ebene läuft im gesamten Roman exakt das gleiche literarische Verfahren u.a. in Bezug auf das Thema Schmutz bzw. Müll ab. So verweist Herr Sieg immer wieder auf den Schmutz, der ihm überall begegnet: in den Wohnungen und sogar in der Küche, auf den Straßen, in der Stadt. Während des deutschen Kolonialismus sei die Stadt Arusha (im Nordosten von Tansania) allerdings sehr sauber gewesen, sinniert Herr Sieg mit Bezug auf ein Zitat eines Zeitzeugen. Hier wird mehr oder weniger subtil ein sauberes Deutschland einem schmutzigen Afrika entgegengestellt. Problematisch ist dabei nicht nur die positive Konnotation des deutschen Kolonialismus in Afrika, sondern auch das Verschweigen der Tatsache, dass europäische Länder, allen voran Deutschland, ihren Müll in Afrika entsorgen. Die Sauberkeit in Deutschland ist nur deswegen möglich, weil wir unseren Müll auf einen anderen Kontinent exportieren, den wir dann für seinen Schmutz kritisieren. Unsere Sauberkeit hat zudem einen hohen Preis: Putzutensilien kosten nicht nur Geld, sie müssen nach einer gewissen Zeit auch ihrerseits entsorgt werden – und verursachen somit neuen Müll. Gerade elektronische Geräte, die in deutschen Haushalten für Sauberkeit sorgen (Staubsauger, Waschmaschine, Spülmaschine) werden, nachdem sie funktionsuntüchtig geworden sind, in Afrika entsorgt. Ohne diese anhaltende Ausnutzung des globalen Südens (u.a. als gigantische Müllhalde) könnten wir Europäer*innen unseren sogenannten westlichen Lebensstandard gar nicht aufrechterhalten. Global betrachtet ist der Norden somit definitiv schmutziger als der Süden. Zu behaupten, dass afrikanische Länder schmutzig seien, erzählt also nicht die ganze Geschichte.

Ähnlich einseitig berichtet Herr Sieg über die Person Carl Peters. Carl Peters, von der zeitgenössischen Presse auch „Hänge-Peters“ genannt, ist vor allem bekannt aufgrund seiner kolonialen Verbrechen. Vom Deutschen Reich als Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet eingesetzt, wurde er bereits nach einem Jahr wieder aus dem Amt entfernt, da selbst das kolonialrassistische Deutsche Reich seine fortwährenden Vergewaltigungen und Morde an den kolonialisierten Afrikaner*innen nicht länger verantworten wollte. In seinem Text erwähnt Herr Sieg in Bezug auf Carl Peters dessen Habilitation und seine machtstrategische Gewandtheit gegenüber Bismarck. Mit keinem Wort geht er jedoch auf Peters Verbrechen ein. Informationen werden somit selektiert: Wie sich im Streitgespräch gezeigt hat, ist Herr Sieg über die gesamte Vita von Carl Peters sehr gut informiert; er hat sich demnach bewusst dazu entschieden, nur Peters vermeintlich positiven Aspekte zu thematisieren. Leser*innen, die Carl Peters nicht kennen, bekommen somit einen vollkommen falschen Eindruck von dieser Person. Natürlich erzählt Herr Sieg die Wahrheit, wenn er über Carl Peters berichtet; aber eben nicht die ganze Wahrheit, sondern wieder nur einen Teil der Geschichte – eine singuläre Geschichte, bei der eine deutsche weiße Person als zivilisiert wegkommt, als Akademiker, der strategisch geschickt handeln konnte – obwohl er ein Serienvergewaltiger und Serienmörder war.

Indem solche Einordnungen, Kontextualisierungen und übergreifenden Bezüge grundsätzlich fehlen, bildet sich der Eindruck heraus, dass Probleme wie z.B. Müll, Kriminalität und Sexismus spezifisch afrikanisch seien, obwohl es sie überall auf der Welt und auch in Deutschland gibt. Sie treten lediglich in unterschiedlicher Form und in unterschiedlicher Ausprägung in Erscheinung. Herr Sieg bricht Problematiken somit einseitig herunter und übergeht dabei die komplexen Zusammenhänge. Komplexitäten auszuschließen sei ein typisches Kennzeichen für singuläre Geschichten, so Adichie. Auf diese Weise rauben singuläre Geschichten Menschen die Würde, betont sie, denn sie fokussieren die „Andersartigkeit“ und übersehen die Ähnlichkeit.

Die von Penguin Random House beauftragte Sensitivity-Gutachterin hat Herr Sieg zu dessen Empörung vorgeschlagen, sich rassismuskritisch fortzubilden und das Buch anschließend noch einmal zu schreiben. Einen derartigen Vorschlag abzulehnen, der nicht nur eine Unmenge an Arbeit bedeuten würde, sondern auch die Bereitschaft zu einem kompletten Umdenken, ist sicherlich nur menschlich. Niemand lässt sich gerne kritisieren. Niemand hat Lust, ein fertiges Buch noch einmal zu schreiben. So sehr ich auch die Perspektive der Gutachterin teile, war dies vermutlich ein eher unrealistischer Vorschlag. Möglicherweise war auch ihr Ton zu harsch. Und dennoch bleibt die Frage: Was für ein Text wäre dabei herausgekommen, wenn Herr Sieg diesen Vorschlag tatsächlich angenommen hätte? Was wäre gewesen, wenn er die Anregungen seiner Gutachterin nicht schlichtweg abgelehnt und gegen ihre Umsetzung angekämpft hätte, sondern wenn er die Kritik positiv aufgenommen und ihr Feedback ernsthaft reflektiert hätte?

Titelbild

Sören Sieg: Oh, wie schön ist Afrika…. Meine Couchsurfing-Abenteuer in sechs Ländern bei 18 Hosts.
Goldmann Verlag, München 2022.
315 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783442316328

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