Unter unbestechlichen Augen

Reiner Stachs großartige dreibändige Kafkabiografie ist nun als Gesamtausgabe erhältlich

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Reiner Stachs dreibändige Franz-Kafka-Biografie ist erst wenige Jahre alt, aber bereits jetzt ein Klassiker. Das gigantische Werk, dem der Biograf rund zwei Jahrzehnte seiner Lebenszeit widmete, hat Maßstäbe nicht nur für die Kafka-Forschung gesetzt, sondern für das gesamte Genre biografischen Schreibens überhaupt. Es ist deshalb ein Grund zur Freude, dass sich der  Verlag zu einer Gesamtausgabe der Biografie entschlossen hat, die es im Schuber auf mehr als 2500 Seiten bringt.

Die Neuausgabe versammelt den 2002 erschienenen zweiten (!) Band Die Jahre der Entscheidungen (1910–1915), den dritten Band, der sechs Jahre später erschien – Die Jahre der Erkenntnis (1916–1924) – und den zuletzt, 2014, veröffentlichten Abschluss- und eigentlichen Auftaktband über Kafkas Kindheit und Erwachsenwerden, Die frühen Jahre (1883–1911). Erweitert wurde die Neuausgabe durch einen Zusatzband, der unter dem Titel Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse eine knappe Auflistung ebenjener Daten für jeden einzelnen Tag in Kafkas Leben bietet. Stach will dem Leser an Hand dieser chronologischen Übersicht die Gelegenheit bieten, selbstständig Entdeckungen zu machen, die in der Synthese seiner eigenen Darstellung nicht vorkommen. So wird gleichsam das Skelett der gesamten Arbeit Stachs offengelegt. Die Entdeckerfreude des Biografen, die auch nach zwanzig Jahren anzuhalten scheint, soll seiner Leserschaft nicht vorenthalten bleiben. Der Zusatzband ist deshalb nicht nur, wie man zunächst meinen könnte, lediglich für ein germanistisches Fachpublikum interessant.

Doch nun zu Stachs zuletzt veröffentlichtem, in literaturkritik.de noch nicht besprochenem Band, zu Kafkas „frühen Jahren“. Stachs Biografie sei, so bewirbt der Verlag die Veröffentlichung mit einem Lob von Imre Kertész, selbst ein Roman – und tatsächlich ist es Stilistik, Kompositionsgeschick und Formgespür, mehr noch als Empathie, Fleiß und wissenschaftlicher Ehrgeiz, der diese Biografie an erster Stelle auszeichnet (ohne das letztgenannte ausbleiben!). Gleich das zweite Kapitel von Die frühen Jahre ist dafür ein hervorragendes Beispiel: Der Titel „Beginn der Vorstellung“ führt mitten auf den Prager Marktplatz, Altstädter Ring genannt, zu einer Massenhinrichtung im Juni 1621. Der Dreißigjährige Krieg, der drei Jahre zuvor in Prag ausgelöst worden war, ist in vollem Gang. Das Blutbad geht in das kollektive Gedächtnis der Prager ein, hat zunächst allerdings wenig mit Franz Kafka zu tun. Stach jedoch arbeitet mit filmischen Methoden und stellt mit einem Schnitt die Jahrhunderte zurückliegende Szene direkt neben seinen jungen Protagonisten, der als Jugendlicher mit seiner Familie eine Wohnung am Altstädter Ring bezieht. Es geht dem Autor dabei nicht um billige Effekte, sondern um die Einbettung in jenen Kontext, der für die beschriebene Person selbstverständlich ist, dem heutigen Leser jedoch in der Regel verborgen bleibt. So erfahren wir nicht nur allerhand darüber, welche Faktoren, Ereignisse und Gesetzmäßigkeiten das jüdische Leben in Prag beeinflussten, sondern auch, wie das Wetter an jenem 3. Juli 1883 war, als Franz Kafka geboren wurde. Stachs Absicht, möglichst viele Aspekte zu einer Synthese zusammenzufassen, wird hier deutlich. So spielt die Chronologie der Ereignisse eine eher nebengeordnete Rolle. Die Kapitel sind vorrangig thematisch gefasst, wenn sie natürlich auch Kafka in seiner Kindheit, Jugend, im Studium und in den ersten Berufsjahren folgen. Leser, die hier besondere Sensationen erwarten, seien vorgewarnt. Jenen Abiturienten, denen nach der Lektüre des Briefs an den Vater Hermann Kafka als riesenhaftes Monstrum vor Augen steht, wird ein zwar dominanter, doch in seinen Wesenszügen keinesfalls aus der Zeit fallender Mann vorgestellt.

Stach erweist sich an solchen Stellen als unbestechlicher Beobachter, der Kafkas Biografie und die Eigenheiten der so vielfältigen, von zahlreichen Neuaufbrüchen gekennzeichneten Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zunächst aus Kafkas Werk, sondern aus tausend kleinen Einzelteilen zusammen sammelt. Geht es aber um die literarischen Texte, so ist Stach ganz Literaturkritiker, vergleicht, bewertet und urteilt.

Unter den Stach‘schen Blick gerät natürlich auch Max Brod, Kafkas Freund und langjähriger Inhaber der Deutungshoheit über dessen Leben und Werk. Sein wegen eines Rechtsstreits noch unzugänglicher Briefnachlass war es, der Stach zu Beginn seines Schreibens dazu veranlasste, Kafkas frühen Jahre zuletzt zu behandeln. Das lange Warten erwies sich als vergeblich, sodass die Schriften zur Zeit der Abfassung immer noch in der Tel Aviver Wohnung von Brods Erbin verschlossen lagen. Zu einem Ergebnis kam das Oberste Gericht in Israel erst 2016, als es das Erbe der Hebräischen Nationalbibliothek zusprach. Ob Stach nun alles umschreiben muss? Zumindest hat er in einem Artikel der ZEIT vorsichtig angedeutet, in einer „revised edition“ der Biografie einige der „weißen Flecken“ durch die neuen Erkenntnisse zu ergänzen, womöglich mit Blick auf das nächste Kafka-Jubiläum.

Max Brod jedenfalls, der umtriebige „literarische Networker“, hat unter Stachs Augen keinen leichten Stand. Dessen Tagebuch sei „unpersönlich gerade im Persönlichsten“, „kein Lichtstrahl aus dem Laboratorium seines Werkes hellt diese Ödnis auf.“ Kafka dagegen sei auch in seinen Tagebüchern „originell vom ersten Satz an“. Als Leser spürt man Mitleid mit dem armen Brod, neben einer Jahrhundertfigur wie Kafka unter Stachs aufmerksamen, selbstbewusst urteilenden Blick geraten zu sein. Kafka selbst schreibt in einem Brief über die Lektüre von Büchern: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Kopf weckt, wozu lesen wir dann das Buch?“ Der Faustschlag Stachs, der hinter der sprachlichen Eleganz und der Nuanciertheit seiner Sprache doch seine Kraft behält, ist der Aufruf zur Reflexion, der an den Leser unwillkürlich ergeht: Wie würde mein Leben unter dem Blick eines aufmerksamen Biografen bewertet werden? Dazu geben auch Stachs schöne, die Macht des Biografen widerspiegelnden Resümees Anlass: „Noch weiß es Kafka nicht, aber …“ Ein Ereignis betrachten sie bereits im Lichte der zukünftigen Entwicklung.

Wenn Stach angesichts der den Vergleich mit Kafka nicht bestehenden Schreibkünste Max Brods für diesen nur ein Stirnrunzeln übrig hat, so ist es umso erstaunlicher, dass sich der Biograf neben dem Meister eine sprachlich eigene, souveräne Position erarbeitet. Keine Frage, Stach besitzt einen individuellen sound. Dazu gehören auch die effektvoll eingesetzten Anglizismen, die er mit einer gewissen Selbstironie zu gebrauchen weiß.

Die Eigenständigkeit, die der Biograf so erreicht, spiegelt sich im gesamten Spektrum seines Schreibens. Sie macht sein Werk auch für den interessant, der sich bisher noch kaum mit Kafka beschäftigt hat – ganz abgesehen von seinen Verehrern, denen Stach in drei Bänden reichlich Material bietet, zu neuen Perspektiven hinsichtlich des großen Schriftstellers zu gelangen.

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Reiner Stach: Die Kafka-Biographie in drei Bänden. Limitierte Gesamtausgabe im Schuber. Mit dem Zusatzband ‚Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse‘ und einem historischen Stadtplan von Prag.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
2647 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972566

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Titelbild

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014.
608 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783100751300

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