Beobachterin der Erosionen

Anna Maria Stadlers Debütroman „Maremma“ begleitet eine Gruppe erwachsen gewordener Kindheitsfreund:innen auf ihrer alljährlichen Reise

Von Pauline WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pauline Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf welche Weise entwickeln sich Freundschaften, wenn man erwachsen wird? Wenn man in der Kindheit und Jugend unzertrennlich war und sich nun wegen Studium, Arbeit und räumlicher Entfernung nur noch ein paar Mal pro Jahr sehen kann? Diese Fragen stellen sich auch der Erzählerin Esther und ihren Kindheitsfreund:innen Lea, Georg, Ali, Amira und Pascal. Jedes Jahr fahren sie im Sommer für eine Woche gemeinsam ans Meer, in wechselnden Konstellationen: „Dieses Jahr ist es das Kind, das neu ist.“ Die Lebensentwürfe weichen voneinander ab: Amira ist Mutter geworden, Ali ist Ärztin mit Leib und Seele – und Esther hat meist keinerlei Vorstellung davon, wie ihr Leben in einigen Jahren aussehen könnte.

In diesem Jahr treffen sie sich auf einem Campingplatz in der Maremma, Italien. Normalerweise reisen sie zu Orten, an denen jemand von ihnen bereits als Kind einmal war, doch dort hat noch niemand von ihnen einen Urlaub verbracht. Niemand erinnert sich daran, warum die Wahl auf diesen Ort fiel, dessen Landschaft neben malerischen Stränden undurchdringliche, sumpfige Wälder prägen und in dessen Hinterland die Spuren einer Erdbebenkatastrophe noch sichtbar sind.

Die erzählte Zeit im Roman erstreckt sich über den Zeitraum der gemeinsamen Reise. Jedes Kapitel bildet einen Tag ab und trägt im Titel den Namen geologischer Phänomene, beispielsweise FLUTE MARKS oder CLASTIC DIKE. Diese Motive ziehen sich durch den Roman, die Erzählerin beobachtet ihre Umgebung sehr genau und beschreibt das, was sie wahrnimmt, präzise und eindrücklich, seien es kleinste Bewegungen oder Spuren im Sand. Äußere Reize lösen Assoziationen und Fragen aus, die sie den Lesenden mitteilt – man sieht die Welt mit Esthers Augen, hört ihre Gedanken, befindet sich genau dort, wo sie sich befindet.

Die Abdrücke im festgetretenen Sand neben Georgs Beinen, ich frage mich, wovon sie stammen könnten. Was hier gelegen haben mag, das diese Abdrücke hinterlassen hat. Ich schaue mir die Konturen an und komme nicht dahinter. Es ist keine Form, die ich zuordnen kann, sodass ich, wie immer, wenn ich die Zusammenhänge nicht überblicke, die Ränder fokussiere. Ich schaue auf die weichen Formen im Sand und auf die Gebilde aus Algen und Gräsern dazwischen, welche die Strömung am Grund des Meeres und der Wind am Ufer bewegt. Manchmal bleibt eines in einer Düne hängen. So lange, bis ein Windstoß vom Meer her es weiterträgt. Im Rollen sammeln die trockenen Gebilde Weiteres auf, sodass aus Bewegung Form wird. Sie häufen sich und geraten in Ansammlungen verschieden großer Kugeln von ähnlicher Beschaffenheit aneinander. Ich nehme eine auf, die mir am nächsten liegt, und zerpflücke sie. Ihr Inneres aus dicht verwobenen Fäden. An einer Stelle wachsen aus den abgestorbenen Überresten des Meeres neue Gräser.

Der Roman ist eher handlungsarm. Die Freund:innen liegen viel am Strand, schwimmen und schlafen. Maremma lebt vor allem von den alltagsnahen Beobachtungen der Erzählerin und den dadurch geweckten Erinnerungen: „Die Fragen stellen sich uns hier anders, die Erinnerungen stellen sich hier anders dar, erscheinen uns wie ausgefranst, dabei klarer. Ich erinnere mich hier in aller Deutlichkeit an Situationen, die ich sonst selten abrufe.“

Neben der Natur betrachtet Esther ihre Freund:innen und deren Beziehungen untereinander. Aus den Beobachtungen und den Gesprächen, die Esther oftmals in der indirekten Rede wiedergibt, entwickelt sich nach und nach ein Bild der Gruppendynamik und gleichermaßen eines der Individuen. Lea, die so gut und lieb ist wie kein Mensch sonst, den Esther kennt, das aber ungern gesagt bekommt. Pascal, der regelmäßig unter Panikattacken leidet, was Esther in einen Zustand der Hilflosigkeit versetzt. Amira, die nie eine Mutter hatte, nun aber selbst eine ist. Obwohl nur wenig Spannung Erzeugendes während des Urlaubs geschieht, wird deutlich, wie sie alle zueinander stehen und wie sie sich seit der gemeinsamen Kindheit verändert haben. Dasselbe trifft auf Esthers Leben zu: Ihre Gedanken führen sie immer wieder nach Hause, zu ihrem Partner Jonathan, ihrer Arbeit als Familienbetreuerin und ihrem kranken Großvater. Obwohl man sie nur sieben Tage lang begleitet, haben die Lesenden einen eindrücklichen Blick in Esthers Welt.

Besonders wichtige Themen im Roman sind die Folgen des Klimawandels und die menschliche Ausbeutung von Tier und Natur. Die Freund:innen sind sich der Rolle des Menschen in diesem Kontext bewusst, immer wieder kommt in den Gesprächen die Sprache darauf:

Wir sehen uns die kurzen, verwackelten Videos von der braunen Flut in den schmalen Gassen immer wieder an und begreifen, auch die Stürme, die wir als Kinder erlebt haben, sind kein Richtwert dafür, was uns in Zukunft erwarten wird. Durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsere große Schuld, sagt Pascal […].

Trotz des Bewusstseins über die Rolle der:des Einzelnen dominiert eine Passivität. Der Zustand der Welt wird hingenommen. Aus dem Müll, der bei einem Unwetter an den Strand gespült wurde, bauen sie einen kleinen Unterschlupf für das Kind und tragen Fetzen davon auf dem Rückweg in den Wald hinein, hinterlassen menschliche Spuren. Esther erkennt, wie es um die Welt steht, doch strebt, zumindest in den Tagen in der Maremma, keine Veränderung an. Das mag moralisch enttäuschend oder frustrierend für manche Lesenden sein, doch sie werden durch die Art dafür entschädigt, wie die Geschichte erzählt wird, und stattdessen auf die eigene Verantwortung zurückgeworfen. Es gibt keinen erhobenen Zeigefinger, es wird lediglich gezeigt, wie die Welt ist – nun liegt es an uns.

Anna Maria Stadler gelingt mit ihrem Debütroman ein eindrückliches Portrait einer Gruppe von mittlerweile erwachsenen Freund:innen, die trotz partieller Entfremdung einander nicht loslassen. Ihre Worte erzeugen gestochen scharfe Bilder und vermitteln ein Gefühl der Ruhe, obwohl immer wieder durchschimmert, dass sowohl die Beziehungen als auch die Umgebung, die gesamte Welt dabei sind, sich zu verändern. Die Autorin wird hoffentlich weiterhin von sich hören lassen.

Titelbild

Anna Maria Stadler: Maremma.
Jung und Jung, Salzburg 2022.
224 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990272701

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