Parallele Existenzen

Peter Stamm versucht mit „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ aus dem Gefängnis des Realismus zu entfliehen

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor zwei Jahren erzählte Peter Stamm in Weit über das Land von einem Familienvater, der unverrichteter Dinge seine Familie verließ, um sich ein neues Leben einzurichten und Jahrzehnte später im stillen Einverständnis mit seiner Frau wieder zurückzukehren, als sei nichts geschehen. Die Faszination dieser Erzählung bestand auch darin, die beiden Lebenswege von Mann und Frau parallel verfolgen zu können. Zunächst schilderte Stamm jedes Detail der „Flucht“ des Mannes, um dann auf den letzten Seiten viele Jahre auf wenige Zeilen zu reduzieren. Anfangs in Zeitlupe versetzt, wurde der Leser urplötzlich in eine fast atemberaubende Zeitmaschine katapultiert, die durch die Jahre galoppierte. Die Klammer war Stamms sanfte Sprache, die ohne Psychologisierungen auskam, sondern einfach nur erzählte.

Den behutsamen, zuweilen stifterisch anmutenden Duktus führt Stamm auch in seinem aktuellen Roman Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt fort. Fast lullt der Autor dabei den Leser ein; man droht, zu Beginn den richtigen Einstieg in diese Geschichte zu verpassen, wenngleich man sich an einigen Ungereimtheiten stört, die sich dann erst im Laufe der Handlung auflösen.

Denn die hat es in sich. Der Ich-Erzähler Christoph, Schriftsteller mit einem erfolgreichen Erstling, begibt sich eines Tages zu einer Lesung in seinem Heimatort, den er bereits als Jugendlicher verlassen hatte. Bei der Übernachtung in einem Hotel, in dem er vor rund 15 Jahren selber einmal gearbeitet hatte, begegnet er Chris, einem Doppelgänger. Instinktiv erkennt er, dass es sich mehr als nur um eine zufällige physiognomische Übereinstimmung zu handeln scheint. Er beginnt nachzuforschen und entdeckt, dass der Doppelgänger mit einer Frau zusammen ist, die seiner ehemaligen Liebe nicht nur äußerlich ähnelt.

All dies schildert Christoph einer gewissen Magdalena, die er über das Internet gefunden und als ehemalige Freundin seines Doppelgängers entdeckt hat. Die beiden treffen sich – ohne dass ersichtlich wird, warum – in Schweden. Magdalenas Lebensweg ähnelt demjenigen Lenas – der jetzigen Freundin von Chris. Zunächst reagiert Magdalena skeptisch, aber als Christoph Details aus ihrem Leben weiß, die er als Außenstehender gar nicht wissen kann, steigert sich ihre Verwirrung.

Stamms Erzählperspektive wechselt zwischen Magdalena und Christoph in der Gegenwart und Lena und Chris in der Vergangenheit. Zuweilen changieren die Perspektiven – und aus Magdalena wird Lena und aus Christoph Chris. Christoph stellt sich die Frage, ob es möglich ist, „dasselbe Leben [zu] führen“ wie vor 15 oder 20 Jahren. „Dann müsste sich die ganze Welt verdoppelt haben“, so die Schlussfolgerung, die allzu unwahrscheinlich anmutet. Denn es gibt durchaus Unterschiede neben all den verblüffenden, zum Teil bis ins Intime hineinreichenden Übereinstimmungen.

Skurril wird es, wenn Christoph in Chris’ Leben erscheint und beide miteinander interagieren. Müsste es nicht seinerzeit Christoph ähnlich ergangen sein? Oder ist das eine der Abweichungen? Sind diese Abweichungen nicht einfach nur eine Ausflucht aus der wackeligen Stringenz der Geschichte? Immer wieder wird der Leser auf die Gesprächssituation Magdalenas mit Christoph zurückgeworfen. Hier gelingen Stamm hübsche kleine Nebenerzählungen etwa über einen Besuch im Möbelhaus oder die Landschaft an der Peripherie von Stockholm. Wäre da nicht der „störende“ Plot.

„Es geht beim Schreiben nicht um das Machen, sondern um das Finden“, lautet eine der Grundätze des Schriftstellers Christoph. Wenn man das liest, fragt man sich, was Peter Stamm hier gefunden hat. Oder bricht hier jemand aus dem Gefängnis der realistischen Literatur aus und sucht ein neues Heim in der Phantastik? Denn ohne Zweifel ist Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt ein phantastischer Roman in der Definition des Literaturwissenschaftlers Tzvetan Todorov. Es gibt eine Ereignisfolge, die „sich aus den Gesetzen [der] vertrauten Welt nicht erklären läßt.“ Magdalena/Lena übernimmt die Rolle des Lesers, der sich, so Todorov in seiner Romantheorie, „für eine der zwei möglichen Lösungen entscheiden“ muss: „entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität.“

Es könnte eine Stärke sein, dass Stamm diesen Zwiespalt nicht auflöst und in der Schwebe hält. Aber leider wirkt die Geschichte nicht in allen Punkten plausibel und ist nicht konsequent „phantastisch“. Allzu gerne wird der Ausweg der Unterschiede bemüht, wenn die Parallelität der Lebensläufe an ihre Grenzen stößt. Einer Art subkutanen Rationalität der Zeit verpflichtet scheut Stamm den endgültigen Übertritt in das Feld der phantastischen Literatur. Die Unerklärbarkeiten führen nicht in ein geheimnisvolles Dunkel, sondern werden mit einer zuweilen arg banalen Schicksalsgläubigkeit der Protagonisten zugekleistert, die dann feststellen, dass am Ende doch alles so kommt „wie es kommen muß“. Mit diesen Plattheiten stürzt Stamm leider immer wieder in die Niederungen des Illustriertenromans ab. So breitet sich bei fortschreitender Lektüre beim Lesen eine sanfte Gleichgültigkeit gegenüber diesem sprachlich so hoch ambitionierten Roman aus.

Aber die letzten vier Seiten lohnen sich dann doch.

Titelbild

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
156 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103972597

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