Autobiographische Entwürfe von der Antike bis in die Gegenwart

Ein literaturwissenschaftlicher Sammelband widmet sich diversen Formen erschriebenen Lebens

Von Julia StetterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Stetter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autobiographische Entwürfe sind keine Erfindung unserer Zeit: Schon in der Antike entstanden Augustinus’ Confessiones, die grundlegend für weitere autobiographische Zeugnisse wurden und auf die Jean-Jacques Rousseaus Les Confessions vom Titel her anspielen. Dennoch haben sich autobiographische Diskurse seitdem teilweise elementar gewandelt. Vor dem Hintergrund kulturgeschichtlicher Veränderungen in Moderne und Postmoderne wurden tradierte Modellierungen des eigenen Ichs bekanntlich erschüttert. Damit einher gingen neue Schreibweisen für die Betrachtung und Inszenierung des eigenen Lebenswegs. In aktuellen literaturwissenschaftlichen Forschungen kommt autobiographischen Formen verstärkt Aufmerksamkeit zu.

Im von Renate Stauf und Christian Wiebe herausgegebenen Sammelband Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård wird der Fokus auf ein „‚Sich-Selbst-Erfinden‘ im Schreiben“ gelegt. In Anlehnung an Erhard Schütz’ Formulierung des ‚erschriebenen Lebens‘ geht es weniger um das beschriebene Leben als um den „künstlerisch geformten Ausdruck dieses Lebens“, welcher auch fiktionale Anteile enthalten kann. Gegenstand der Betrachtungen sind daher die „autofiktionalen Strategien, literarischen Autor-Figuren und Poetiken des Selbst, die im und durch den Schreibprozess entstehen“. Ebenfalls wird das Spannungsfeld aus fiktionalen und faktualen Komponenten autobiographischer Selbstreflexionen näher betrachtet. Zurückzuführen ist der Sammelband auf eine gleichnamige Ringvorlesung, die zwischen 2016 und 2018 an der Technischen Universität Braunschweig abgehalten wurde.

Neben den 19 Beiträgen von Professor*innen und Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Universitäten findet sich im Band auch eine von Carsten Rohde erstellte alphabetische Erklärung von relevanten Begriffen, die im Zusammenhang mit der Erforschung autobiographischer Diskurse häufiger auftreten. Abzugrenzen ist die prototypische ‚Autobiographie‘ beispielsweise vom ‚autobiographischen Schreiben‘ – einem Begriff, der vermehrt seit Ende der 1980er Jahre verwendet wird und der als ein Oberbegriff für verschiedene Formen autobiographischer Zeugnisse dient. Ferner erwähnenswert sind der Begriff der ‚Autofiktion‘ – d.h. eine „Selbstfiktionalisierung“, wie man sie in Felicitas Hoppes Roman Hoppe (2012) findet – sowie der Begriff des ‚autobiographischen Romans‘, für den als Beispiel Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790) genannt werden kann.

Aufgeteilt sind die Beiträge des Bandes in vier Sektionen. In I. Spiegelung der Selbstbespiegelung werden zunächst autobiographische Entwürfe der Klassischen Moderne vorgestellt. Übergreifendes Merkmal ist bei ihnen eine Tendenz zur Fragmentarisierung und Prozesshaftigkeit, sodass es zu Abweichungen von linear-chronologischer Autobiographik kommt. In II. Selbsterforschung, Selbstrechtfertigung, Selbsttäuschung  und III. Selbstentwurf, Selbsterfindung treten weitere Perspektiven hinzu: Zu den untersuchten Autoren gehören hier unter anderem Marc Aurel, Augustinus, Jean-Jacques Rousseau, Sigmund von Birken, Karl Philipp Moritz, Heinrich Heine, Walter Benjamin und Thomas Glavinic. Schließlich werden in IV. Mediale Lebensschriften Beiträge gesammelt, die die materialen Räume in den Blick nehmen, in denen autobiographische Entwürfe stehen. Betrachtet werden etwa Briefkopierbücher Jean Pauls oder ein Filmporträt über Felicitas Hoppe.

Dass ein Unterschied zwischen erschriebenem und beschriebenem Leben thematisiert werden kann, zeigt sich beispielsweise insbesondere in Toni Tholens Beitrag zu Karl Ove Knausgårds autobiographischem Romanzyklus Min Kamp und Carolin Bohns Untersuchungen zu Marcel Prousts À la recherche du temps perdu.

Mit Bezug auf den norwegischen Gegenwartsautor Knausgård konstatiert Tholen, dass es ihm in seinem autobiographischen Werk wesentlich auch um „Codierungen seiner Männlichkeit“ geht. In Auseinandersetzung mit seinem Vater, der ihm als Kind Anerkennung versagt hat und in ihm Angst auslöste, werden bei Knausgård verschiedene Vorstellungen von Männlichkeit evoziert. Laut Tholen ist ein relevanter Schritt in Min Kamp, dass Knausgård eines Tages selbst Vater wird und damit die Position des Vaters übernimmt. Einerseits entwickelt er dabei Züge von „Familienmännlichkeit“, indem er z.B. bei der Hausarbeit hilft oder sich um die Kinder kümmert. Andererseits weist er aber auch Ähnlichkeiten mit seinem eigenen Vater auf und neigt z.B. zum Trinken von Alkohol. Männlichkeit gestaltet sich in Min Kamp daher widersprüchlich und wird im Prozess des Schreibens erst entworfen. Gezeigt werde „das Performativ eines Ringens; und zwar eines Ringens schreibender Männer einerseits mit ihrer tiefen Verwurzelung in Formen traditioneller […] Männlichkeit und Autorschaft, andererseits mit neuen Existenz- und Schreibweisen“.

Zu einem ähnlichen Ergebnis, bei dem das Erschreiben als Praktik und nicht das Beschriebene im Vordergrund steht, kommt Carolin Bohn in Bezug auf Prousts À la recherche du temps perdu. Durch Analyse der bekannten Madeleine-Szene, bei der es um das Tunken eines Madeleine-Küchleins in Tee geht, stellt Bohn fest, dass das in der Recherche erzählte Leben „eben nicht erinnert, sondern konstruiert und erschrieben“ ist. Wenn es dann doch zu Erinnerungen kommt, überlagern sich Erzählebenen verschiedener zeitlicher Erzähler-Ichs. Daher bestehe der Roman weniger aus „(auto-)biographischen Erinnerungen, sondern realisiert eine Fiktion, die sich aus dem Versuch, sich zu erinnern und das vergangene Leben zu erforschen, speist“.

Ein weiteres Charakteristikum autobiographischer Zeugnisse ab dem 20. Jahrhundert besteht in der häufigen Fragmentarisierung der Lebensbeschreibungen. So weist Jan Röhnert in seiner Besprechung von Roland Barthes par Roland Barthes darauf hin, dass Barthes in seinem autobiographischen Projekt „kleine und kleinste, notizartige Formen des Schreibens“ erprobt, sodass aus verschiedenen Sequenzen „ein inter- und intratextuelles Netz“ entsteht. Dafür gehe Barthes unter anderem auf seinen Alltag und seine Gewohnheiten ein. Auch finden sich vielfach Selbstzitate, die eine Verbindung zwischen Werk und Leben aufzeige. Vergleichbar wie bei Benjamin werden laut Röhnert bei Barthes überdies Erinnerungsbilder hervorgehoben, die keine Funktion im Sinne einer übertragenen Bedeutung aufweisen.

Tatsächlich stellt Annette Simonis mit Blick auf Walter Benjamins Selbstentwürfe fest, dass Benjamin „eine Vorliebe für die ‚kleine Form‘“ habe, sodass man bei ihm oftmals eine „konzentrierte Detailbeobachtung“ findet. Dies korrespondiere mit Benjamins Neigung zum Sammeln. Wie Simonis ausführlich darlegt, hat Benjamin sich als Sammler nicht nur für Kinderbücher, sondern auch für Kinderspielzeug interessiert. Kinderspielsachen könnten für ihn nicht zuletzt eine kulturhistorische Bedeutung gehabt haben. Schon bei Heinrich Heine findet man teilweise ähnliche Merkmale, die Eigenschaften des modernen autobiographischen Schreibens im 20. Jahrhundert vorwegnehmen. Auch bei ihm liegt etwa ein beabsichtigter fragmentarischer Charakter in seinen Memoiren vor, wie Renate Stauf vermerkt.

Eine weitere Perspektive bietet Jan Standke, der Thomas Glavinics Das bin doch Ich auf seine didaktische Verwendbarkeit hin prüft. Standke argumentiert, dass im Deutschunterricht insbesondere der Sekundarstufe 2 bisher immer noch zu wenig Gegenwartsliteratur thematisiert werde. Trotz des häufigen Scheiterns der Figuren im Werk von Glavinic sei es dazu geeignet, Prozesse literarischen Lernens bei Schülerinnen und Schülern zu fördern. Anhand von Das bin doch ich lassen sich zudem „Selbstinszenierungspraktiken von Autorinnen und Autoren“ exemplarisch thematisieren, zumal Glavinic auch im Internet, etwa auf der eigenen Homepage oder bei YouTube, präsent ist.

Mit Selbstinszenierung von Autor*innen, welche teilweise jedoch vom Literaturbetrieb und seiner wirtschaftlichen Ausrichtung auf Gewinn hin vorgegeben wird, beschäftigt sich auch Doren Wohllebens Beitrag über Felicitas Hoppes Filmporträt Felicitas Hoppe sagt (2017). Der Film wurde bisher oftmals dem autofiktionalen Roman Hoppe kontrastierend gegenübergestellt: Der Roman sei spielerisch-fiktional, während im Film die Autorin authentisch-unvermittelt zu den Zuschauer*innen spreche. Wohlleben führt jedoch aus, dass dieser Dualismus nicht haltbar ist.

Insgesamt bietet der Band diverse Einblicke in das aktuell in der Literaturwissenschaft häufig betrachtete Forschungsfeld des autobiographischen Schreibens. Mit seiner Fokussierung auf das erschriebene statt auf das beschriebene Leben orientiert er sich in vielversprechender Weise am Konzept der Performativität, wodurch neue Perspektiven eröffnet werden. Durch die Verschriftlichung der Beiträge der Braunschweiger Ringvorlesung wird auch denjenigen, die damals nicht teilnehmen konnten, eine nachträgliche Teilhabe ermöglicht. Es werden vielfältige Anregungen und Impulse gegeben, die sich in weiteren Studien vertiefen ließen.

Titelbild

Renate Stauf / Christian Wiebe (Hg.): Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
396 Seiten , 66,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346393

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