Wirkungen der Wunderwasser

In „The German Girl“ verfolgt Ulrike Sterblich die Spuren des Dr. Max Jacobson

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1960er Jahre sind von ungebrochener Popularität – die Handlung vieler Romane ist in dem Jahrzehnt angesiedelt, Songs von den Rolling Stones oder den Beatles sind schon längst zu Klassikern geworden, die Hippie-Kultur erlebt ein Dauer-Revival. Alle Transitionen der Dekade, ihr ökonomischer Aufschwung und die zuvor ungeahnten Freiheiten offenbaren sich nirgendwo mehr als in der sprichwörtlichen Stadt, die niemals schläft.

Dorthin hat es Mona verschlagen, eine junge Deutsche, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält – mal als Strumpfhosenmodel, mal in einem Werbespot für Diätpillen. Als sie stark erkältet ist, bringt sie Adam, einer ihrer beiden Freunde, zu Dr. Max Jacobson, der für seine Patient*innen jeweils individuelle Substanzcocktails mischt, damit sie schnell wieder auf die Beine kommen oder schlichtweg über eine Extraportion an Energie verfügen. Schon während Jacobson ihr die Injektion verabreicht, fühlt Mona sich besser, durchflutet von einem Wohlbefinden, das nicht nur den grippalen Infekt verscheucht, sondern sie mit unstillbarem Tatendrang erfüllt. Weniger schön ist es, dass auf diese Hochphase ein Tief folgt, dem erneut mit Chemie gegengesteuert werden muss. Gefangen in diesem Auf und Ab fliegt Mona mit ihrem Freund Sydney nach Berlin, später nach Acapulco zu einer Werbeaufnahme. Sie erkennt, dass sie in Sydney ihre große Liebe gefunden hat, zieht mit ihm zusammen und lässt von den Drogen ab.

Gerahmt und kontrapunktiert ist die Handlung um Mona von der Aufklärung eines ominösen Todesfalls. Im Körper des plötzlich verstorbenen Fotografen Marc Shaw wurden große Mengen an Amphetaminen entdeckt. Da er Patient bei Jacobson war, gerät dieser in die Schusslinie der Ermittlungen. Zuerst stellt der Forensiker Michael Baden Nachforschungen an, später die Journalisten Boyce Rensberger und Lawrence Altman von der New York Times.

In Ulrike Sterblichs Romanerstling geben sich sowohl historische als auch fiktionale Figuren ein Stelldichein. Schade, dass die Leser*innen nur in einem knappen Nachwort darüber informiert werden und man zuvor bei einigen Charakteren die Historizität lediglich vermuten kann. Eine Liste mit Angaben zu Fakt oder Fiktion wäre hilfreich gewesen. Es ist zudem enttäuschend, dass die Figuren im Allgemeinen blass bleiben, kaum elaboriert sind, die breit angelegte Dokumentation auf Kosten der Individualität geht und damit auch die Chance authentischer Repräsentativität verspielt wird. Mona bedient das Klischee eines naiven Mädchens, das sein Glück in der großen Stadt sucht, dabei mit Männerbekanntschaften nicht zimperlich umgeht. Aus ihrer finanziellen Prekarität und gesundheitlichen Schieflage gleichermaßen rettet sie Sydney Gordon, der Erbe eines alteingesessenen Kaffee-Imperiums. Er ist der vorübergehend verlorene Sohn aus reichem Haus, denn er hat Kunstgeschichte studiert und moderiert eine Radiosendung. Da er das Familienerbe antritt, findet er auf den rechten Weg zurück.

In zahlreichen Szenen des Romans wähnt man sich irgendwo zwischen den Partys aus Fitzgeralds The Great Gatsby (man beachte die visuelle Ähnlichkeit zu The German Girl) und einem James-Bond-Film der 1960er Jahre – in einer Gesellschaft, die am Rande des Abgrunds auf einem schmalen Grat zwischen Anpassen und Ausflippen feiert. Nach den durchtanzten Nächten fehlt die Zeit zum Ausruhen, denn es ist so lange Leistung zu erbringen, bis auf die drogeninduzierten Kreativitätsschübe der Absturz folgt. In diesen New Yorker Soziotopen praktizieren die sogenannten „Feelgood-Doctors“, so etwa Dr. Robert Freymann, den Mona ebenfalls konsultiert, das vermeintliche Vorbild für den Dr. Robertson der Beatles im gleichnamigen Song, außerdem John Bishop. Der berühmteste und berüchtigtste von ihnen ist Dr. Max Jacobson, präsent in vielen zeitgenössischen Dokumenten, was das im Mai 2020 erschienene Dr. Feelgood Casebook beweist, das Texte vom Wunderdoktor und über ihn versammelt.

Ulrike Sterblich porträtiert ihn als Besessenen, der von der Macht seiner medizinischen Errungenschaften hundertprozentig überzeugt ist. Um rund um die Uhr aktiv sein zu können, spritzt er sich selbst eine ausgeklügelte Mixtur aus Metamphetaminen, Vitaminen, Rinderblut, Knochenmark und menschlicher Plazenta. Außerdem betreibt er ein Forschungsinstitut, in dem er unter anderem mit Ultraschall und dem von ihm mitentwickelten Lasermikroskop arbeitet. Zeit seines Lebens bereits ranken sich Mythen um Jacobson und seine Praxis, in Sterblichs Roman transportiert von seinem nomadisierenden Ex-Mitarbeiter Adam Spencer. Dieser couchsurft mal hier, mal da und weist die typischen amphetaminbedingten antithetischen Affektwelten auf.

Ähnliche Disjunktionen durchziehen die gesamte Epoche, in der nicht nur junge Menschen die „Feelgood-Doctors“ und ihre Patient*innen zu Lifestyle-Ikonen überhöhen. Im öffentlichen Leben dominieren Flowerpower und Frieden, die von Attentaten und Morden jäh destruiert werden. In The German Girl finden John F. Kennedy, einer der Klienten von Jacobson, Martin Luther King, Rudi Dutschke und Sharon Tate als wohl berühmteste Opfer Erwähnung.

Leicht gewöhnungsbedürftig ist die Gestaltung des Romans, unter anderem deshalb, weil man sich in die Erzählsprünge zwischen der Aufklärung des Mordes und der Handlung um „the German girl“ erst einfinden muss. Irritierend wirken zu Beginn die Jahreszahlen, die anstelle von Kapitelüberschriften auf die klug eingesetzten und aussagekräftigen Motto-Zitate folgen, ebenso der im Jahre 1974 platzierte Auftakt, in dem es darum geht, dass Jacobson seine Approbation verlieren könnte. Rückblenden (insbesondere zu Eddie Fisher, Dauerpatient bei „Dr. Max“) und Vorausdeutungen (so etwa im letzten Kapitel ein Schlenker zu Robert Freymann, den die Behörden weitestgehend in Ruhe ließen) eskortieren die Haupt-Storyline. Aus diesem Procedere resultiert das eher lockere Gewebe eines Opus compositum, dessen an sich strahlender Mittelpunkt, „Miracle Max“, trotz allem ein bisschen zu fade daherkommt. Eine neutrale Erzählstimme, die allein mit dem Fokus auf Mona mitunter leicht an Subjektivität gewinnt, sowie tendenziell hölzerne Dialoge schmälern das Lesevergnügen. Dabei hat nicht nur Dr. Max, sondern auch Mona solides ästhetisches Potenzial. Die vermeintlichen Bartstoppeln in diversen Waschbecken hätten sich vielleicht als optische Illusionen mit Symbolwert entpuppen sollen und auch aus dem Selbstmörder, der vor Mona auf die Straße fällt, hätte man mehr machen können.

Nicht unerwähnt bleiben sollen einige amüsante Intermezzi, Szenen, die Freude bereiten und von denen man sich mehr hätte wünschen dürfen: Monas sprechender Kakadu Winnetou freundet sich mit der Nachbarskatze Tuesday an und miaut fortan immer, wenn er sie vermisst. Spaßig wirken die Episoden um den kauzigen Adam Spencer, um Eddie Fisher und den Regisseur Kaspar, der in Wortkaskaden spricht. Und Mona wächst über sich hinaus, wenn sie gegen die Konvention aufbegehrt, dass Frauen im „21“ nur Kleider oder Röcke tragen dürfen. Ungefähr in der Mitte des Romans nehmen die Erlebnisse der Protagonistin an Fahrt auf und stimmen hoffnungsfroh, bevor dann leider ein nichtssagendes Happy End folgt. Immerhin, so erfährt man noch, engagiert sich Mona in einer Stiftung, die suizidalen Menschen hilft. Bei aller Neutralität und Gediegenheit im narrativen Kontinuum erhebt sich das Charisma des Arztes Dr. Max Jacobson dennoch als deutlich modelliert aus dem semifiktionalen Text hervor, der des Weiteren einen guten Einblick in das Lebensgefühl der Möchtegern-Celebrities und echten Celebrities der 1960er Jahre erlaubt.

Titelbild

Ulrike Sterblich: The German Girl.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021.
352 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498001551

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