Mord im Atelier

Mit „Tödliche Verdächtigungen“ setzt Silvia Stolzenburg ihre Reihe um die Stuttgarter Ermittlerin Anna Benz fort

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Stuttgart-Krimi wird Silvia Stolzenburgs dritter Roman um das Ermittlerduo Anna Benz und Markus Hauer vom Bookspot Verlag angekündigt. Die Marketingstrategie verwundert nicht. Regionalkrimis erfreuen sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit bei den Lesern, während ihr Ruf bei Literaturkritik und -wissenschaft zu wünschen übrig lässt. Von der Ostsee über den Taunus bis ins Allgäu hat inzwischen jede Region mindestens ein eigenes Ermittlerteam, das mal mehr, mal weniger mit Regionalkolorit gezeichnet ist. Auch wenn die Kommissarin Anna Benz in Stolzenburgs Roman zwischen der süddeutschen Landeshauptstadt und ihrem Wohnort Tübingen pendelt und in verschiedenen Szene-Kneipen recherchiert, bleibt dem Roman das Flair der schwäbischen Metropole weitgehend verschlossen. Manch ein Leser wird zufrieden konstatieren, dass keine Figur des Schwäbischen mächtig zu sein scheint. Stattdessen führt die Autorin die bereits in den Vorgängerromanen gelobte Detailgenauigkeit in Sachen Polizeiermittlung fort und zeichnet so realistisch wie kaum eine oder einer aus dem großen Kreis der Kolleginnen und Kollegen den Ablauf der kriminalistischen Ermittlung in einem Team von Sachverständigen und die Routinen in der Strafvollzugsanstalt Stammheim nach. Auf diese Weise verleiht sie dem fiktionalen Text eine große Nähe zur Realität. Doch worum geht es?

Ein Anruf ihres Vaters weckt die Ermittlerin Anna Benz. Der erfolgreiche und gerade mit einem renommierten internationalen Kunstpreis ausgezeichnete Maler Roland Kirchberger hat in seinem Atelier die Leiche seiner Galerieassistentin Marilene Hübner gefunden. Ihr Blut ziert das Gemälde, an dem er gerade arbeitet. Da sich der an einer bipolaren Störung mit psychotischen Schüben leidende Maler, der seine Medikamente nicht regelmäßig nimmt, um seine Kreativität nicht einzuschränken, weder daran erinnern kann, Marilene zu sich bestellt zu haben, noch weiß, wie er die letzten Stunden zugebracht hat, zweifelt er an sich selbst. Hat er die junge Frau im Wahn getötet? Auch seine Tochter Anna ist hin und her gerissen, kennt sie ihren Vater doch noch nicht lange, da ihre Mutter ihr erst kurz vor ihrem Tod verraten hat, wer ihr leiblicher Vater ist. Da lediglich ihre Freundin, die Gerichtsmedizinerin Bea, über ihre Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid weiß, verschweigt sie ihren Kollegen und Vorgesetzten ihre enge Verbundenheit mit dem Tatverdächtigen, um bei den Ermittlungen mitwirken zu können. Nur sie selbst – so ist sie überzeugt – wird sich nicht von den erdrückenden Indizien und dem Wunsch nach einem schnellen Ermittlungserfolg blenden lassen und den wahren Schuldigen ausfindig machen. Trotz der Arbeit im Team wird Anna Benz so zur Einzelkämpferin – gegen die Fakten ihrem Gefühl vertrauend oder vielleicht doch ihrem Wunschdenken? Tatsächlich scheinen alle Spuren auf Kirchberger zu deuten. Da er seine Krankheit nicht öffentlich machen möchte, gibt es vorerst keine andere Möglichkeit, als ihn unter Mordverdacht in das Untersuchungsgefängnis Stammheim einzuliefern. Hier ist er der Maschinerie der Gefängnisverwaltung ausgesetzt, die in größtmöglichen Widerspruch zu seinem Alltag als Einzelgänger in gehobenen Gesellschaftskreisen steht.

Es hat sich bereits angedeutet: Die persönliche Beziehung der Ermittlerin zum Tatverdächtigen verleiht dem Fall seine besondere Spannung, sind doch Konflikte der Kommissarin mit den Kollegen ebenso vorprogrammiert wie Alleingänge, nachdem sie offiziell von dem Fall abgezogen wird. Die ungemeine Vertrautheit mit dem fast unbekannten Vater und das hervorragende Gespür der Ermittlerin lassen den Leser gespannt dem Fortgang der Handlung folgen.

Dennoch hat der Roman auch Schwächen. Überzeugt die Darstellung der Abläufe während der Mordermittlung und der Inhaftierung des Tatverdächtigen durch die detailgenaue Schilderung, so greift die Autorin bei der Zeichnung des Künstlers und seines Umfeldes auf Klischees zurück. Der geniale Künstler ist nicht nur psychisch krank, sondern so weltabgewandt, dass er in manchen Szenen autistische Züge erhält. Da er sich nur für seine Bilder und deren Schaffensprozess interessiert, hat er keine Ahnung von den Arbeitsabläufen in der Galerie oder den persönlichen Lebensumständen seiner engsten Mitarbeiterinnen. Auch der Verfolgungswahn, unter dem er zu leiden scheint, macht ihn nicht vertrauenswürdiger. So ist der weltfremde Künstler keine Hilfe bei den Ermittlungen und es gelingt den Kriminalisten nur auf Umwegen, die Verstrickung der Galerieassistentin aufzudecken. Auch wenn man als Leser nicht mit Wolfgang Ullrichs Thesen zur Siegerkunst vertraut ist, irritiert die schemenhafte Zeichnung von Kunstmarkt und Künstlerdasein.  Gerade im Kontrast zur realistischen Schilderung des kriminalistischen Arbeitsalltags erscheinen diese Teile des Romans wenig glaubwürdig. Auch Versuche, mithilfe von internen Fokalisierungen den Erinnerungsprozess des Verdächtigten nachzuzeichnen, tragen wenig dazu bei, der Figur mit kindlichem Gemüt mehr Plastizität zu verleihen.

Die emotionalen Verstrickungen verleihen dem dritten Fall der Stuttgarter Mordkommission nicht nur ein ungewöhnliches Spannungsmoment, sie lassen zudem eine aktuelle Tendenz in der Kriminalliteratur erkennen. Es ist nicht der Einbruch von zerstörerischer Gewalt in ein idyllisches, ländliches oder kleinstädtisches Milieu, das die aktuelle Flut an Kriminalromanen auszeichnet. Vielmehr verweisen die zentralen Protagonisten der Reihen darauf, dass die heile Welt bereits gestört ist, sind doch die Ermittlerfiguren selbst versehrte Figuren, die sich gegen ihre Umwelt behaupten müssen. Wie dies gelingt, wird schrittweise über mehrere Romane hinweg entwickelt. So folgt der Leser einem Heilungsprozess, in dem die verschieden gelagerten Mordfälle jeweils eine Facette der Psyche der Figur besonders betonen.

Für Abwechslung in diesem narrativen Schema sorgt die von Anfang an offensichtliche Verbindung von Tötungsdelikt und Ermittlerin. Dabei geht Stolzenburg nicht so subtil vor wie dies beispielsweise im Roman Schatten von Ursula Poznanski der Fall ist. Im vierten Fall der Salzburger Oberkommissarin Beatrice Kaspary wird diese von ihrer Vergangenheit eingeholt, da (ungeliebte) Menschen aus ihrem Umfeld ermordet werden. Ein ausgeklügelter Plot und eine mehrdimensionale Figurenzeichnung, die Poznanski scheinbar mühelos gelingen, ist in Stolzenburgs solide geschriebenen Krimi nicht auszumachen. Gemeinsam ist den Autorinnen aber die Stoßrichtung, in der Gestaltung ihrer Protagonistinnen: Sie entwerfen weibliche Figuren, denen der berufliche Erfolg im Kampf gegen das Böse keine Hilfe ist bei der Bewältigung persönlicher Probleme.

Obschon diese Zerrissenheit ebenso die männlichen Figuren betrifft, scheint sie besonders gut dazu geeignet zu sein, einen Wandel im Alltag und Familienleben von Frauen in der Gegenwart zu dokumentieren. Wird Anna Benz im ersten Roman der Reihe im Gespräch mit einem Psychologen eingeführt, so konfrontiert sie auch dieser Fall mit ihrer persönlichen Geschichte. Die sich anbahnende Vater-Tochter-Beziehung wird durch den Mord ebenso auf die Probe gestellt wie der Heilungsprozess der Ermittlerin. Der Fall droht, Annas Leben aus dem Lot zu bringen. Der anonyme Anruf ihres Bruders bei ihrem Chef, der ihren offiziellen Ausschluss aus der Ermittlung zur Folge hat, zeigt die Familie als Hort des Bösen und der unmotivierten Aggression, der auch bereits in anderen Fällen eine Rolle spielte. Die Bekanntschaft mit Roland Kirchberger eröffnete im Gegensatz zum Verhältnis zu ihrem unberechenbaren Bruder eine positive Erfahrung von Familie, die Vertrautheit und Verständnis in den Vordergrund rückt. So kämpft die Protagonistin um mehr als um die Lösung eines Falles. Ob es am Ende gelingt, das Rätsel um den Mord an Marilene Hübner zu lösen und die Gefahren von der Kernfamilie abzuwenden, bleibt das Geheimnis des Lesers.

Titelbild

Silvia Stolzenburg: Tödliche Verdächtigungen. Kriminalroman.
Bookspot Verlag, München 2016.
257 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783956690693

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