Jüdischer Widerstand gegen Mächtige aller Art
Yaniv Iczkovits Roman „Fannys Rache“ spielt im russischen Kaiserreich des späten 19. Jahrhunderts
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür Fanny Kajsman gibt es keine Wahl: Sie muss ihren Ehemann und ihre Kinder zurücklassen, um ihren Schwager, der sich nach Minsk abgesetzt hat, ausfindig zu machen und von ihm die Einwilligung zur Scheidung von seiner Frau Mende – also Fannys Schwester – einzuholen, damit diese nicht länger seine Gefangene bleibt. Fanny, die jüngere der beiden Schwestern, ist eindeutig die Stärkere, die Widerständigere. Als Tochter eines jüdischen Metzgers, eines Schächters, der die Tiere nach jüdischen Gesetzen tötet, wird sie schon früh mit dem Tod, mit dem Töten konfrontiert. Dass sie erst zwölf war, als ihre Mutter starb, hat sie in ihrer Überzeugung, für sich selbst verantwortlich sein zu müssen, nur gestärkt. Und weil ihre Schwester Mende dies nicht kann, übernimmt sie diese Verantwortung und alles, was damit zusammenhängt, auch für sie.
Bereits als Kind hat sich Fanny für das Tun ihres Vaters interessiert und ihn beim Schächten beobachtet – wenn auch heimlich. Als der Vater sie dabei ertappt, antwortet sie auf seine Bemerkung, dass sie nicht hätte zuschauen dürfen, sie wolle es auch erlernen, „das Messer erlernen“. Dieses Messer, am Oberschenkel befestigt, rettet sie denn auch immer wieder vor tödlicher Gefahr auf ihrer langen Reise nach Minsk.
Begleitet wird Fanny auf dieser Reise von Cicek, einem Fährmann, der vor allem bekannt ist für seinen Rum, von dem jene zu trinken bekommen, die seine Fährdienste beanspruchen, und von seiner Sprachlosigkeit. Cicek redet nicht, schon gar nicht über seine Geschichte. Dass er früher Joschke Berkowicz geheißen hat und aus einer sehr armen Familie kommt, dass er zu jenen gehört, die auf Befehl des Zaren als Soldatenkinder rekrutiert worden waren. Doch dass er lesen und schreiben konnte, ermöglichte ihm, als Soldat in einer Kompanie Dienst zu leisten, ohne großen Gefahren ausgesetzt zu sein. Die Erfahrungen, die Fanny und Cicek gemacht haben, sind sich ähnlich. Insbesondere jene, dass so manches vorbestimmt ist und dass vieles von dem, was sie erleben mussten, geprägt ist durch ihre Herkunft: Für Fanny bedeutete dies, dass sie sich als Tochter/Frau der männlichen Vormachtstellung unterzuordnen hätte, Cicek wiederum erfuhr als Sohn einer sehr armen Familie, dass über ihn verfügt wird. Doch Fanny und Cicek akzeptieren die ihnen zugewiesenen Rollen nicht, sie setzen sich gegen die Gesetze der Mächtigen zur Wehr, lehnen sich gegen Unrecht und Unmenschlichkeit auf und schrecken auch nicht vor Gewaltanwendung zurück, wenn es die Situation erfordert.
In seinem Roman Fannys Rache, der mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, schöpft Yaniv Iczkovits aus dem Vollen. Er erweist sich als großartiger Geschichtenerzähler, der seinen Leser:innen zwar einiges zumutet, sie jedoch gleichzeitig reich belohnt. Denn er erzählt eine spannende Geschichte, die in einer geografisch und politisch ausgesprochen interessanten Gegend angesiedelt ist, nämlich in Polen und Russland, in Belarus und in der Ukraine. Und er führt zurück ins späte 19. Jahrhundert, als Kaiser Alexander III. über das Russische Reich herrschte und nach seinem Tod 1894 sein Sohn Nikolaus II. den Thron bestieg.
Dabei geht es dem Autor nicht in erster Linie darum, historische Fakten zu präsentieren, weder über die politischen Entwicklungen noch über das Ostjudentum. Iczkovits entführt seine Leser:innen in mythologische Landschaften und lädt sie ein, einzutauchen in ein Geflecht an Handlungssträngen, die sich scheinbar in Nebenhandlungen verlieren. Doch gekonnt kehrt er auf unzähligen Umwegen immer wieder zurück zu dem, was als Haupthandlung bezeichnet werden könnte, nämlich zu Fannys Rache. Diese Erzählweise erfordert Durchhaltevermögen – immerhin umfasst der Roman gut 600 Seiten –, denn nicht immer liegen die Zusammenhänge der Nebenhandlungen mit der Haupthandlung auf der Hand. Doch Yaniv Iczkovits erzählt so mitreißend, farbig und sinnlich, er zeichnet seine Figuren überzeugend, was in der deutschen Übersetzung von Markus Lemke hervorragend wiedergegeben wird.
Übrigens hat der Roman einen Untertitel, der Türen öffnet und eine Richtung vorgibt. Titel und Untertitel lauten: Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester. Darin ist bereits die Gewalt enthalten, die nötig ist, um Machtstrukturen zu hinterfragen und auch dagegen anzutreten. Und im Vorsatz, der eine Karte enthält mit den Ortschaften, die den zwölf Teilen, in die der Roman gegliedert ist, auch die Titel geben und der so eine geografische Orientierung ermöglicht, ist zu lesen: „Die Reise von Fanny Kajsman und Cicek Berschow und Inspektor Novaks Verfolgungsjagd“, was auf den Abenteuercharakter hinweist, der diesen Roman auch auszeichnet.
Yaniv Iczkovits wurde 1975 in Be’er Scheva, Israel, geboren und studierte in Oxford und Tel Aviv. Er lehrte an der Philosophischen Fakultät der Universität von Tel Aviv und forschte an der Columbia University. Als Offizier der israelischen Armee verweigerte er den Dienst in den besetzten Gebieten und saß deswegen eine einmonatige Gefängnisstrafe ab. Heute lebt Yaniv Iczkovits als Sprachphilosoph und Schriftsteller in Tel Aviv.
Der Roman Fannys Rache überzeugt mit seinen Geschichten vom Widerstand gegen Machtstrukturen, gegen Regeln, die den einen alle Macht verleihen und die anderen der Macht ausliefern, ebenso wie gegen patriarchale Strukturen, die Frauen als die Schwachen und Rechtlosen abstempeln. Der Roman schafft starke (Frauen-)Figuren, die handeln und so die Opferrolle ablegen. Und nicht zuletzt zeigt er die Gemeinsamkeiten in den Strukturen von Familie und Gesellschaft auf.
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