Ein Kaleidoskop des Mannes im 21. Jahrhundert
In neun Geschichten beleuchtet David Szalay die Gemütsverfassung des Mannes in Europa
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Begriff des Romans wird seit Jahrhundert immer wieder strapaziert und über alle Grenzen hin ausgedehnt. Frühestes Beispiel dafür ist der Tristram Shandy von Laurence Sterne, der Mitte des 18. Jahrhunderts erschien und auf einen roten Erzählfaden verzichtet. Nun legt David Szalay unter der Bezeichnung Roman neun einzelne und in sich abgeschlossene Geschichten vor, in denen die männlichen Protagonisten sich mit dem Phänomen der Liebe im weitesten Sinne auseinandersetzen.
Die Geschichten laufen über ein Kalenderjahr und beginnen im April mit dem siebzehnjährigen Simon, der mit einem Freund durch Europa interrailt und sich im stillen Gedanken an eine heimliche Liebe im lebenslustigen Prag ausschließlich in Kunst und Literatur verströmt. Sie enden im Dezember mit dem über siebzigjährigen Tony, der sich mit seinem Alter und dem Sterben auseinandersetzt und der sich als der Großvater von Simon entpuppt, von dem er ein Gedicht aus Prag erhält. In diesem Sinne, so erläutert es Szalay selber in einem Interview, „besitzt das Buch eine übergreifende Architektur und eine stilistische und thematische Einheit.“
Der 1974 in Montreal geborene und in London aufgewachsene Szalay lässt seine Geschichten in ganz Europa spielen. Es ist (noch) ein Europa der offenen Grenzen und immer wieder brechen seine Protagonisten aus ihren Heimatländern in andere Länder auf, die Szalay mit überraschend detailliertem Lokalkolorit zu schildern weiß. Eine „schockierend billige“ Pauschalreise nach Zypern unternimmt so beispielsweise der Abhänger Bernard aus Lille, der sich endlich einmal von seinen Ego Shooter-Spielen und vom Kiffen lösen kann. Auf Zypern hofft er auf ein spannendes Nachtleben mit schönen Mädchen und kommt schließlich in seinem heruntergekommenen Hotel mit einer monströs fettleibigen Mutter und ihrer Tochter zu einem erotischen Abenteuer zusammen. In anderen Geschichten begleitet ein Leibwächter aus Ungarn eine Edel-Prostituierte und ihren Freund und Zuhälter nach London, wo es mit einem der reichen Kunden zu einem gewalttätigen Zwischenfall kommt, ein Mediävist überführt einen Luxus-SUV von England nach Polen und wird auf dem Weg mit der Schwangerschaft seiner Freundin konfrontiert oder der Journalist Kristian aus Schweden deckt eine Affäre des Verteidigungsministers auf und stellt ihn an dessen Urlaubsort in Andalusien zur Rede.
David Szalay erzählt nüchtern und einfühlsam von Loosern und Gewinnern, von Sympathieträgern und Kotzbrocken, von Armen und Reichen oder ehemals Reichen – so wie dem russischen Milliardär, der alles verloren hat und auf seiner 120-Meter-Yacht im Mittelmeer sein Leben beenden will. Doch: „Er schlief ein. Das hatte er anders geplant. Er hatte ins Meer springen wollen, Er hatte sich ertränken wollen. Stattdessen schlief er zum ersten Mal seit vielen Tagen einfach ein.“
David Szalay erzählt seine Geschichten im schnörkellosen Stil und mit starken Dialogen und beeindruckt durch die Vielzahl von unterschiedlichen Charakteren, Altersstufen, Sujets und Ländern. Auf einer ganz breiten Klaviatur beleuchtet er so das Leben von Männern in Europa, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Ängste und Egoismen, ihre Liebe und Leidenschaften. Über den Jahreszeitenverlauf und das zunehmende Alter seiner Protagonisten geht es aber auch immer mehr um das Altern, um Tod und Vergänglichkeit: „Man nimmt immer an, am Ende stünde eine heitere Gelassenheit. Irgendeine Form von heiterer Gelassenheit. Kein ekelhaftes Chaos aus Scheiße und Schmerzen und Tränen“ sagt Tony, der mit seinem latenten Schwulsein hadert.
Im Verbund ergibt sich aus diesen neun Geschichten tatsächlich eine faszinierende stilistische und thematische Einheit und ein kurzweiliger Roman über das Leben des Mannes in unserer Zeit und über die uns „unaufhörlich entgleitende Gegenwart“.
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