„Täglich denke ich mit geradezu wildem Verlangen an Sanary“
René Schickele und Annette Kolb im Exil
Von Günter Häntzschel
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Schickeles Gesinnung war eine Schule für ihn selbst und ein Vorbild für uns“, hören wir 1950 von Annette Kolb (Kolb 1950, S. 278). Und René Schickele versichert 1929: „Wofür Annette Kolb seit einem Lebensalter wirbt, das ist heute keine Utopie mehr.“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 931) Diese Worte zeigen exemplarisch die gegenseitige Wertschätzung, das gegenseitige Vertrauen und die gegenseitige Anteilnahme. René Schickele und die 13 Jahre ältere Annette Kolb sind durch ihre Veröffentlichungen in den von Schickele herausgegebenen Weissen Blättern seit 1914 freundschaftlich verbunden, leben seit 1923 als Nachbarn in Badenweiler und sind beide ihrer pazifistischen Aktivitäten wegen in Deutschland verhasst und bedroht. Ich möchte jedoch zeigen, dass seit Beginn des ‚Dritten Reichs‘ beide als Emigranten aufgrund ihres unterschiedlichen Temperaments an verschiedenen Exil-Orten unterschiedliche Erfahrungen machen und unterschiedliche literarische Schreibweisen entwickeln.
1. Pazifistisches Engagement von den Anfängen bis 1933
Als überzeugte Pazifisten lehnen René Schickele und Annette Kolb nicht nur den Krieg als politisches Mittel generell ab, sondern leiden aufgrund ihrer binationalen Herkunft in besonderer Bitterkeit unter der politischen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich, die ihren geistigen Lebensraum zerstört. Während der Elsässer Schickele seit 1919 als französischer Staatsbürger in Deutschland lebt, versteht sich Annette Kolb aufgrund ihrer französischen Mutter und ihres aus München stammenden Vaters von jeher als ‚Deutsch-Französin‘. Erst 1936 sollte es ihr unter Schwierigkeiten gelingen, die begehrte französische Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Schon vor 1933 zeichnen sich beider unterschiedliche Temperamente ab. Als die Weissen Blätter ihrer pazifistischen Haltung wegen 1916 in Deutschland angegriffen wurden, war Schickele für einige Jahre in die Schweiz ausgewichen, um hier und später zurückgezogen im eigenen Badenweiler Haus weiter Kritik an Krieg, Kriegs- und Revolutionsgewinnlern zu üben und sich für die Erhaltung der deutschen Kultur im französisch gewordenen Elsass einzusetzen.
In gleicher Mission, doch anders agiert die umtriebige, reise- und kontaktfreudige Annette Kolb. Ihre seit 1899 erscheinenden autobiographisch gefärbten Aufsätze, Essays, Feuilletons und Romane stehen unter dem Programm des Pazifismus und der deutsch-französischen Verständigung. Ihr 1915 mitten im Krieg gegen Krieg und für Völkerverständigung werbender Vortrag in Dresden endete mit einem Eklat und dem Vorwurf des Landesverrats. Das Bayerische Kriegsministerium verhängte eine Reise- und Briefsperre und ließ sie polizeilich überwachen, so daß sie nur durch Eingreifen Walter Rathenaus 1917 – wie ein Jahr zuvor Schickele – in die Schweiz emigrieren konnte. 1919 nimmt sie am ‚Berner Internationalen Sozialistenkongreß‘, 1928 an der neunten Tagung des Völkerbundes in Lugano teil, hält Vorträge an vielen Orten Deutschlands und in Paris und gewinnt sogar den französischen Außenminister und Friedensnobelpreisträger Aristide Briand für ein persönliches Gespräch über die Möglichkeiten einer deutsch-französischen Verständigung.
Ihr Freundes- und Bekanntenkreis ist beachtlich. Mit Hippolyte Taine, dem Kirchenhistoriker Louis Duchesne, dem Diplomaten Camille Barrère, mit Jean Giraudoux, Carl Jacob Burckhardt, Henri Bergson und Max Scheler, Ernst Robert Curtius, Ludwig Quidde und Erich Maria Remarque, Harry Graf Kessler, Thomas und Heinrich Mann und vielen anderen steht sie in Verbindung. Während Schickele eher zurückhaltend die Leute zu sich kommen läßt, sucht Annette Kolb in ausgedehnter Reisetätigkeit im In- und Ausland direkt auf, wen sie interessiert.[2]
2. Die Flucht aus Deutschland
Im nationalsozialistischen Deutschland Hitlers sind beide gleichermaßen gefährdet. Schickele erkennt bereits 1932 die drohende Gefahr. „Von Tag zu Tag wurde der Druck stärker. Man brauchte nur den Knopf zu drehen: das Radio quoll über von Militärmusik und tyrtäischen Gesängen. […] Ich überlegte nicht lange […], so entschloss ich mich zur Verwirklichung eines längst gehegten Planes: den Winter am Mittelmeer zu verbringen.“ (Schickele 1939, S. 137 f.) Im November trifft er in Sanary-sur-Mer ein und übersiedelt später nach Nice-Fabron und Vence.[3] Und als Annette Kolb am 31. Januar 1933 Hitlers Antrittsrede im Radio hört, hält auch sie nichts mehr in Deutschland. „Worte, von mir zum ersten- und letztenmal vernommen – in einem niederträchtigen Deutsch, eine Stimme, die in Gebell ausartete. Töne und Untertöne des Hasses, der Rachgier, der hündischen Wut. Sie entfachten in mir ein Organ für alle Infamie, deren dieser Unmensch fähig sein würde.“ (Kolb 1960, S. 10) Wenige Tage später von Manfred Hausmann wegen ihrer kritischen Äußerungen über die neue Regierung in einem Vortag des Westdeutschen Rundfunks im Februar 1933 gewarnt, lässt sie sich – buchstäblich in letzter Minute – mit einem Taxi von Badenweiler über die Schweizer Grenze nach Basel bringen. Im Gegensatz zu den meisten Exilanten haben beide weder unter sprachlichen und existentiellen Anpassungs-Schwierigkeiten zu leiden noch sind sie als Katholiken rassischen Diskriminierungen ausgesetzt.
3. René Schickele in Sanary
Hätte es da nicht nahegelegen, die trotz gelegentlicher Kontroversen so harmonische Badenweiler Nachbarschaft mit dem vertrauten Freund René Schickele in Südfrankreich oder an anderen Orten gemeinsam fortzusetzen?
Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist ebensowenig denkbar, sich Annette Kolb mit oder ohne Schickele für längere Zeit in dem kleinen Sanary vorzustellen wie René Schickele allein oder in Begleitung von Annette Kolb im turbulenten Paris und auf ihren „wilden Reisen“. (Kolb/Schickele 1987, S. 304) Ihre unterschiedlichen Sympathien und Temperamente profilieren sich in der Fremde noch deutlicher. Allein Schickele konnte die mediterrane Naturlandschaft der Cote d’Azur mit ihren kleinen Hafenstädten und Fischerdörfern als Ersatzheimat gefallen. Sanary-sur-Mer war zwar schon in den dreißiger Jahren ein legerer Treffpunkt französischer, englischer und deutscher Künstler und Literaten geworden, hatte aber seinen ursprünglichen intimen Charme noch bewahrt. Daher kann sich Schickele in seinem neuen Domizil verhältnismäßig wohl fühlen und mitunter sogar etwas von dem idyllischen Charakter der kleinen Stadt Badenweiler in der mediterranen Landschaft wiederfinden. Anfangs klingen seine Briefe zwar mutlos und pessimistisch. Er leidet unter Depressionen und Heimweh. Doch erlebt er auch glückliche Phasen und arrangiert sich mit der neuen Umgebung, die ihm in ihrem reizvollen Ambiente und ihrer Überschaubarkeit gefällt und die ihn sogar zu schriftstellerischer Arbeit ermuntert. Selbst davon überrascht, teilt er Emil Bizer mit: „Komisch, vom ersten Tag an, da wir hier in La Ben Qui Hado [die hoch gelegene Villa in Sanary] waren, habe ich vergnügt am Schreibtisch gesessen, und seitdem fließt die Arbeit regelmäßig und munter fort.“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1170) Zuversicht und Besorgnis halten sich die Waage: „Seit Monaten reiht sich ein blauer Tag an den andern; ich arbeite so gut wie noch nie, ich könnte geradezu mit mir zufrieden sein, stände nicht das Gespenst der (leider sehr begründeten) Existenzangst am Horizont.“ (Ebd., S. 1177) Finanzielle Sorgen, Krankheiten, beschwerliche Asthmaanfälle, Depressionen und manche Entbehrungen heimischer Gewohnheiten belasten zwar seinen neuen Lebensrhythmus, doch gelingt es ihm immer wieder, Verdruß und Ärgernis durch kontinuierliche literarische Tätigkeit zu kompensieren. (Vgl. Nieradka 2010)
4. Annette Kolb auf Reisen und in Paris
Annette Kolb dagegen sind Seßhaftigkeit, Ruhe und Konzentration auch während ihres Exils im tiefsten fremd. Sie schmiedet Reisepläne und denkt an Besuche bei ihrer Luxemburger Freundin Aline Mayrisch in Schloß Colpach, an Aufenthalte auf Mallorca und auch an Sanary-sur-Mer. Einige Male besucht sie zwar das Ehepaar Schickele in Sanary, hält es aber dort immer nur kurze Zeit aus und bezieht 1934 eine Wohnung in Paris, in der alte und neue Freunde aus Politik, Kunst und Literatur an von ihr organisierten jours fixes ein- und ausgehen, ihr beistehen oder sie finanziell unterstützen. Von Paris aus fährt sie 1934 und in den folgenden drei Jahren über die Schweiz zu den Festspieltagen nach Salzburg und trifft sich dort mit ihrer Freundin Mary Dobrzensky, besucht mehrfach Bekannte in der Schweiz, ist bald in Luxemburg, bald längere Zeit in Irland bei einer ihrer Schwestern zu Gast. 1938 reist sie als Teilnehmerin am Internationalen PEN-Kongreß nach New York und wird in Washington Präsident Roosevelt vorgestellt. 1940, nach Schickeles Tod und als Frankreich von der deutschen Wehrmacht besetzt wird, flieht sie zunächst nach Vichy und von dort über Cusset nach Genf, bis sie schließlich unter größten Gefahren über Spanien und Portugal nach New York erneut emigrieren kann.
5. Literarische Arbeitsweisen – der Sammler Schickele
Aus den verschiedenen Lebensweisen und Exil-Erfahrungen resultieren unterschiedliche literarische Arbeitsweisen. Sie lassen sich unter dem Gegensatz von Sammlung und Zerstreuung charakterisieren. Schickele, seine in Deutschland gewohnte Arbeitsmethode in Sanary fortsetzend, verkörpert den Typ des Sammlers. Schon 1918 hatte er in der von ihm begründeten Europäischen Bibliothek Gedichte aus den Weissen Blättern zu einer Menschliche Gedichte im Krieg betitelten Anthologie zusammengestellt. (Zürich: Rascher 1818) Eine ähnliche literarische Sammeltätigkeit setzt er im Exil mit der Anthologie Das Vermächtnis. Deutsche Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Nietzsche fort, die ihm die geistige Verbindung zur deutschen Kultur lebendig erhält.[4] Auch die eigenen literarischen Texte verdanken sich seiner Sammelliebe. Die 1932 und 1933 noch in Deutschland erscheinenden Bücher Die Grenze (Berlin: Rowohlt 1932)und Himmlische Landschaft (Berlin: Fischer 1933) und 1939 dann Le Retour. Souvenir inédits (Paris: Fayard 1938), Erinnerungen aus seiner deutsch-französischen Kindheit, setzen sich aus Sammlungen von Essays, Skizzen, Charakteristika, Schilderungen, Erzählungen und Tableaus der Kultur Badens und des Elsass zusammen. Sammlungs-Charakter tragen ebenso die in Sanary entstehenden Romane Die Witwe Bosca (Berlin: Fischer 1933) und Die Flaschenpost (Amsterdam: de Lange 1937), deren Handlungen durch eine Fülle von Episoden, Anekdoten, Porträts, Milieu-, Natur- und Sittenschilderungen begleitet werden. Sie spiegeln Ambiente und Fluidum der im Exil erlebten südlichen Landschaft. Hermann Kesten nennt ihn ein „Weltkind“ und einen „Heimatdichter“ in einem. „Er singt den Gesang der Vögel, das Rauschen der Blätter im Wald, den Sturm und den holdesten Zephyr, die Jahreszeiten und die Gebirge, die Hunde und die Igel und die Landstreicher und Strassenbettler. Er sieht die Natur sinnlich.“ (Kesten 1939, S. 16 f.) Der Poet des Elsass entwickelt sich zu einem Poeten der Cote d’Azur.
6. Die Zerstreute Annette Kolb
Annette Kolbs Veröffentlichungen im Exil fehlt dagegen fast jeglicher Bezug zu den von ihr bereisten Örtlichkeiten. Ihr 1934 noch bei Samuel Fischer in Frankfurt veröffentlichter Roman Die Schaukel schildert weitgehend autobiographisch die Situation ihrer Familie im München der Jahrhundertwende. Das Buch über die Festspieltage in Salzburg und Abschied von Österreich (Amsterdam: de Lange 1938) enthält kein Wort über die Salzburger Landschaft, sondern erschöpft sich neben eher flüchtigen Bemerkungen zu den Inszenierungen in ausführlichen Schilderungen der Reisemodalitäten, der Ankunft beider Freundinnen, ihrer Kleidung und ihrer Verabschiedung bis zum Wiedersehen beim nächsten Treffen. Genauer geht sie auf die Situation Österreichs nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht ein. Glückliche Reise (Stockholm: Bermann-Fischer 1940), ihr Bericht über die Fahrt zur Tagung des Internationalen PEN-Clubs in New York 1940, lässt nur wenig über Amerika erkennen.
Beflügeln die südfranzösische Natur und Landschaft René Schickele in Sanary zum Schreiben, so leidet die unstete, hektische Annette Kolb unter Schreibblockaden. Im Briefwechsel mit Schickele ist davon zum Beispiel anläßlich ihres Romans Die Schaukel ausführlich die Rede. Sie hat größte Mühe, ihn fertigzustellen. Schickele treibt sie wiederholt zur Arbeit an und schlägt ihr so manche Tips vor, etwa durch Einführen einer fremden Gestalt die sie lähmende enge autobiographische Enge zu erweitern. Trotzdem bleibt sie unsicher: „René, die Anstrengung diese Buches deckt sich doch nicht mit dem Resultat. […] schon schrumpft der leuchtende Schmetterling zur unansehnlichen Raupe, und der Anlauf, der mir noch zu nehmen bleibt, ist schrecklich.“ (Kolb/Schickele 1987, S. 114 f.) „Ich bin halt eben keine geborene Schriftstellerin […].“ (Ebd., S 127) Nachdem sie schließlich den „schlechten Schluss“ (Ebd., S. 124) doch einigermaßen bewältigt hatte, zeigt sich Schickele begeistert: „Ein wundervolles Buch – der Eindruck war noch viel stärker als beim Lesen des Manuskripts. Ein Labsal.“ (Ebd., S. 150) In seinem Tagebuch notiert er allerdings: „Ihr Deutsch ist fragwürdig, sie versteht nichts von der Komposition eines Romans, sie schreibt drauflos, es geht ‚über Stock und Stein‘, humpelt und rumpelt, […] während man sie ächzen und seufzen hört über das gräßliche Handwerk, das sie recht eigentlich dilletantisch [sic] ausübt […].“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1111)
Verkörpert Schickele den Typus des geduldigen Sammlers, so repräsentiert Annette Kolb den des flüchtigen Zerstreuers und des Zerstreuten. „Bei aller Lieblichkeit hat Deine Zerstreutheit manchmal etwas Furchterregendes“, empört sich Schickele. (Kolb/Schickele 1987, S. 274) Über ihre sprichwörtlich bekannte Vergesslichkeit und Zerstreuung im alltäglichen Leben hinaus kennzeichnet die Zerstreutheit oder Streuung von im Grunde unvereinbaren Elementen auch ihre Sammelbände. Sie zwingen unterschiedlichste Texte aus unterschiedlichen Entstehungszeiten und verschiedenster Thematik zusammen. Allerdings mögen zur Mehrfachverwertung derselben Texte in verschiedenen Bänden kommerzielle Gründe den Ausschlag gegeben haben.
7. Das literarische Sanary
Dass Annette Kolb sich nur beiläufig über Sanary geäußert hat, erklärt sich einmal aus ihren nur kurzen Besuchen dort bei René Schickele und seiner Frau, zum andern – und das ist wohl der wichtigere Grund – weil in politisch brisanten Zeiten ihre ganze Anteilnahme immer zuerst direkt der Anklage und Bekämpfung des Unrechts, hier der Verfolgung und Vertreibung der Juden im Nationalsozialismus, gilt und ihr etwa in den Romanen sichtbares Interesse für Natur und Landschaft dann in den Hintergrund tritt.
René Schickele dagegen, jahrelang in Sanary und Umgebung ansässig, ein entschieden von Natur und Landschaft geprägter Dichter, thematisiert seinen Abscheu gegen den Nationalsozialismus nicht öffentlich, er vertraut ihn seinem Tagebuch an. In seinen literarischen Texten äussert er sich ‚hermetisch‘.[5] „Mit der Witwe Bosca hoffte ich mehr als nur ein ‚ablenkendes Buch‘ zu schreiben. Die todestrunkene Bosheit und Rachsucht einer götzendienerischen, entgotteten Zeit in einer auf der Straße aufgelesenen Gestalt darzustellen – darauf kam es mir an. Ausdrücklich wollte ich jede aktuelle Beziehung vermeiden und das Übel an der Wurzel zeigen.“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1192)
Als ‚ablenkendes Buch‘ ist der Roman offensichtlich zunächst verstanden worden, sonst hätte er wohl kaum im Dezember 1933 noch bei Samuel Fischer in Deutschland erscheinen können. Mittlerweile ist die Witwe Bosca als indirektes politisches Bekenntnis und sublime Verarbeitung des persönlichen Exilschicksals analysiert worden.[6] Schickele selbst bekennt, der Roman „war wortwörtlich meine Rettung aus tiefster Trübsal“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1178), „und ich übertreibe kaum, wenn ich sage, daß er mir das Leben rettete.“ (Ebd., S. 1208)
An einem kurzen Textabschnitt möchte ich diese Substanz kurz skizzieren. Und ich wähle den Beginn des Romans, der wohl als Schlüssel seines Verständnisses zu deuten ist:
Die Jahreszeiten der Provence wechseln leise in der Nacht. Du siehst, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz…
Das Blühen findet kein Ende von Valence, dem Tor des Sonnenreiches, bis hinunter ans Meer, dem die hellen Götter entstiegen. Selbst in den kahlsten Monaten, November und Dezember, blühen immer noch Rosen, roter Centranthus und weißer Thymian an Rain und Fels, Geranien und Ringelblumen in den Gärten, im Pinienwald das hohe Heidekraut, es blühen schon die frühen Mimosen, die Nelken. Die Blüten des Mispelbaumes sind unscheinbar, aber wenn dich plötzlich ein Duft einhüllt, süß und dicht, fast glaubst du, ihn mit Händen zu greifen, so ist es der Duft der Mispel – der leiseste Wind spült ihn über Hecken und Mauern.
In Trupps sprudeln die Blumen aus dem Boden, du gerätst in Düfte wie in überströmendes Quellwasser, das auf gut Glück seinen Weg sucht. […]
Nachts hängt der Sternenstaub in Wolken am Himmel, unruhig zucken die Fackeln der großen Gestirne. Du siehst: die Schöpfung ist nicht zu Ende, sie ruckt und gärt, ruhelos geht sie weiter.
So ist es von Valence, dem Tor des Lichtreiches, bis hinunter ans Meer. (Schickele 1959, Bd. 2, S. 393)
Liest man diese Anfangspassage des Romans auf der Folie von Schickeles Briefen und Tagebucheintragungen, so wird schnell deutlich, dass sie weit über eine bloße Naturbeschreibung hinaus ein Gegenbild zu den beklagten Verbrechen, Freveln und Gräueltaten des NS-Regimes bildet. Der ruhige, beständige Rhythmus der Jahreszeiten in der Provence steht der gestörten Ordnung, der gesetzwidrigen Konfusion in Hitler-Deutschland entgegen, ihr leiser Charakter widerspricht den lautdröhnenden Propagandaparolen, das andauernde „Blühen“ der südlichen Natur opponiert dem dortigen Verwelken, Verfall und Abtöten menschlicher Würde. Der „götzendienerischen, entgotteten Zeit“ des ‚Dritten Reichs‘ stehen hier „die hellen Götter“, selbst „in den kahlsten Monaten“, den barbarischsten Zeiten gegenüber, ihr „Lichtreich“ opponiert mit der ‚dunkelsten‘ Zeit des ‚Dritten Reichs‘. Dem Mord und Totschlag der Schlägertruppen korrespondieren ‚in Trupps sprudelnde Blumen‘, deren „Düfte“ gegen den Aasgeruch der Nazi-Schergen protestieren. „Die Schöpfung ist nicht zu Ende“, sie geht weiter, sie hat Bestand – so wird wiederholt den mit „du“ persönlich angesprochenen Lesern versichert – , als Vorstellung der von Gott geschaffenen Welt aus der Sicht des Katholiken Schickele und zugleich als vom Menschen geschaffenes Kunstwerk, mit dem der Dichter Schickele in Fülle und Vielfalt der provenzalischen Flora Trost und Zuversicht gegen den Terror ausspricht.
Eine Interpretation des Romans könnte zeigen, dass mit dem grotesken Ende des Bösen in der Figur der zerstörerischen, egoistischen und lebensverachtenden Witwe Bosca die Ordnung der Welt wiederhergestellt wird. Schickeles zweiter in der Provence entstandener Roman Die Flaschenpost ist dagegen weniger zuversichtlich. „Es ist ein listiges Buch, es verleitet zu Humor und ästhetischem Behagen, […] aber es hat einen doppelten Boden“ (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1245) und endet tragisch-zynisch im Irrenhaus. Mit dem Titel hofft der Verfasser vergeblich, dass seine der Flaschenpost anvertraute subversive Botschaft aus dem Amsterdamer Exilverlag nach Deutschland gelange und in ihrer geheimen Bedeutung verstanden werde.
Literatur
Kesten, Hermann: Vorwort in: René Schickele: Heimkehr. Aus dem französischen Original übersetzt von Ferdinand Hardekopf. Strasbourg 1939.
Kolb, Annette: Briefe einer Deutsch-Französin. Berlin 1916.
Kolb, Annette: Um René Schickele. In: Die Neue Rundschau 61 (1950), S. 278-281.
Kolb, Annette: Memento. Frankfurt a. M. 1960.
Annette Kolb – René Schickele. Briefe im Exil 1933-1940. In Zusammenarbeit mit Heidemarie Gruppe hrsg. von Hans Bender. Mainz 1987.
Nieradka, Magali Laure: ‚Die Hauptstadt der deutschen Literatur‘. Sanara-sur Mer als Ort des Exils deutschsprachiger Schriftsteller. Göttingen 2010.
Schickele, René: Heimkehr. Aus dem französischen Original übersetzt von Ferdinand Hardekopf. Strasbourg 1939.
Schickele, René: Werke in drei Bänden. Hrsg. Von Hermann Kesten unter Mitarbeit von Anna Schickele. Köln, Berlin 1959.
Anmerkungen
[1] Zitat im Titel dieses Beitrags: René Schickele an Annemarie Meier-Graefe, genannt Busch, 10.5.1935. (Schickele 1959, Bd. 3, S. 1221) Das Zitat präzisiert: […] – das von 1933.“
[2] Vgl. zu Annette Kolb Sigrid Bauschinger (Hg.): Ich habe etwas zu sagen. Annette Kolb 1870-1967. Ausstellung der Münchner Stadtbibliothek. München 1993; Armin Strohmeyr: Annette Kolb. Dichterin zwischen den Völkern. München 2002.
[3] Schickele lebt von November 1932 bis März 1934 in Sanary-sur-Mer, dann bis September 1938 in Nice-Fabron und anschließend bis zu seinem Tod am 31.1.1940 in Vence. Vgl. Mayse Staiber: „Ich lebe in mehr als einer Weise im Exil…“. René Schickeles Situation in der Exilliteratur (1932-1940). In: Adrien Finck, Alexander Ritter, Maryse Staiber (Hg.): René Schickele aus neuer Sicht. Beiträge zur deutsch-französischen Kultur. Hildesheim, Zürich, New York 1991, S. 129-141.
[4] Seine für 1938 bei de Lange in Amsterdam vorgesehene Ausgabe wurde jedoch – aus bisher unbekannten Umständen – in Deutschland beschlagnahmt und vernichtet und konnte erst posthum 1948 bei Karl Alber in Freiburg erscheinen.
[5] Schickele 1959, Bd. 3, S. 1208: Die Witwe Bosca „ist eine (etwas hermetische) Auseinandersetzung mit dem in Mord und Tod verstrickten Europa“.
[6] Maryse Staiber: „Eine (etwas hermetische) Auseinandersetzung mit dem in Mord und Tod verstrickten Europa“. Die Botschaft René Schickeles im Roman „Die Witwe Bosca“. In: Adrien Finck und Maryse Staiber (Hg.): Elsässer Europäer Pazifist. Studien zu René Schickele. Kehl: 1984, S. 148-166, hier S. 161. Die politische Dimension – eine „klare Absage an Deutschland“ – analysiert Annemarie Post-Martens: „Keinerlei Politik“ – und doch politisch? Irritationen in der Deutung der Witwe Bosca. In. Finck, Ritter, Staiber: René Schickele (Anm. 2), S. 240-252, Zitat S. 249.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine etwas gekürzte Fassung des Aufsatzes von Günter Häntzschel mit demselben Titel in: Fluchtorte – Erinnerungsorte. edition text + kritik 2017, S. 147-156. Wir danken dem RICHARD BOORBERG VERLAG für die freundliche Genehmigung dieser erneuten Veröffentlichung zum 50. Todestag von Annette Kolb.
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