Schutzlos ausgeliefert

Laurence Tardieu schildert in „So laut die Stille“ den Kampf gegen akute Bedrohungen

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich hätte es ein Roman über den Verlust des Hauses in Südfrankreich werden sollen. Durch den Verkauf droht die Ich-Erzählerin, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Um diese Bedrohung, die sie in ihrem Innersten trifft, etwas entgegenzusetzen, will sie erzählen: von den Ferien, die sie dort verbracht hat, von der Geborgenheit, die sie in diesem Haus und bei den Menschen, die ebenfalls dort waren, erfahren hat, auch von der Schönheit, die das Haus in sich birgt und ausstrahlt. Doch dann wird sie überrascht von den Terroranschlägen in Paris, und zwar so existenziell, dass sie keine Möglichkeit zu einem Weiterleben mehr sieht:

Liegt es wohl daran, dass beide Übergriffe, Mittwoch und Freitag, am 7. und am 9. Januar, ganz in der Nähe meiner Wohnung in Paris passiert sind, dass ich mich so fühle, als wäre auch mein Körper von den Attentaten getroffen worden? Obwohl ich doch in meiner Wohnung war, in Sicherheit – tatsächlich also nicht direkt betroffen bin von diesem Grauen, nicht zu den sechzehn Menschen zähle, die getötet wurden, keiner meiner Angehörigen unter den Opfern ist. Warum also dieses ganz reale, leibhaftige Gefühl, mein Körper sei verwundet worden? Warum die große Diskrepanz zwischen meiner Realität (dem Gefühl, getroffen worden zu sein) und der Realität (ich bin in keiner Weise von den Attentaten betroffen)?

Dass diese Grundfrage – meine Realität / die Realität – sie nicht mehr loslässt und sie zwingt, nicht aufzugeben, dürfte für die Autorin, die hier ihre eigene Geschichte erzählt, tatsächlich überlebenswichtig geworden sein. Denn eigentlich gibt es keinen Grund mehr für sie, weiterzuleben: Weder die beiden Töchter noch der Mann noch das Kind, das in ihr wächst, geben ihr Anlass, am Leben festzuhalten. Da ist nur die Hartnäckigkeit der Autorin, die sich zwingt, an dem einmal gefassten Vorsatz, über das geliebte Haus in Südfrankreich zu schreiben, festzuhalten – Konsequenz ist eindeutig eine ihrer Stärken. Und weil sie gleichzeitig auch dringend über das aktuelle Geschehen – die Terroranschläge und was diese mit ihr machen – schreiben muss, verwebt sie geschickt die beiden Stränge miteinander und zeigt, wie eng das Politische mit dem Privaten verknüpft ist, dass das Private politisch ist (wie Frauen bereits in den 1970er-Jahren wussten).

So laut die Stille ist außerdem eine Geschichte über „Dinge“ im Leben, die überleben, die eine Grundlage bilden, um weiterzuleben. Ist es das Haus der Kindheit, das in den Erinnerungen daran überlebt? Ist es der Duft der Mutter, den sie mitten in einer Nacht zu riechen meint und den sie doch nie wieder begegnen wird? Ist es das Kind, das die nächste Generation ankündigt? Für die Ich-Erzählerin im Roman ist es vor allem das Schreiben, mit dem sie die Geschichte einfängt, um so eine Linie zu ziehen, die verbindet und weiterführt, die eine Kontinuität bildet. Erzählen und Schreiben erlauben ihr, die Geschichte an ihren Sohn weiterzugeben:

Im Laufe der zwei Wochen im Haus […] schoss mir manchmal der Gedanke durch den Kopf, dass er sich später nicht erinnern würde, an den Garten, an die Mauern, die Gerüche, dieses Glück, zusammen hier zu sein, und machte mich plötzlich benommen und ganz leer, bis zu jenem Tag, an dem ich überlegte, wie ich alles, was wir hier erlebt hatten, zwischen diesen Mauern, in so vielen Jahren, bewahren könnte, damit Spuren erhalten blieben, Spuren, die auch meinen Jungen erreichen würden, damit nicht noch einmal das Vergessen alles überlagerte.

Es ist eine schmerzhafte Konfrontation mit sich selbst in einer bedrohlichen und bedrohten Umwelt, die Laurence Tardieu in Sprache einfängt, eine Konfrontation mit ungewissem Ausgang:

Heute Morgen, während ich die letzten Zeilen schreibe, scheint mir, dass etwas passiert ist, sich in mir verändert hat, als hätte ich eine lange, schmerzhafte, an sich unmögliche Reise hinter mich gebracht. Ich bin im Begriff, neues Ufer zu betreten, ein Ufer, von dem ich nichts wusste, als ich anfing, diesen Text zu schreiben, ein Ufer, das zu betreten ich mir nicht vorstellen konnte, ich nicht zu betreten vermochte, ein Ufer ohne weißes Haus und Mimosenduft, ein Ufer ohne Zufluchtsort, ein Ufer, an dem der Wahnsinn der Menschen innerhalb eines Augenblicks alles zerstören kann.

Die radikale Ehrlichkeit, mit der Tardieu ihre Ich-Erzählerin sich konfrontieren lässt, überzeugt in diesem Roman. Letztlich erfordert er eine ebenso radikale Lektüre: Die Leserinnen und Leser müssen sich ihrerseits konfrontieren lassen mit einer Frau, die sich ganz persönlich ins Zentrum stellt und ungeteilte Aufmerksamkeit fordert. Das ist eine spannende Herausforderung, die zum Nachdenken anregt – und erstaunlicherweise nicht depressiv werden lässt, ganz im Sinne des Originaltitels: À la fin le silence.

Titelbild

Laurence Tardieu: So laut die Stille. Roman.
Mit einem Nachwort von Husch Josten.
Übersetzt aus dem Französischen von Kirsten Gleinig.
edition fünf, Gräfelfing 2017.
160 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783942374897

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