Ein neuartiger Schutzschild gegen den Papst oder nur eine Privilegiensammlung?

Eva Schlotheuber und Maria Theisen erforschen „Die Goldene Bulle von 1356“ anhand der Prachthandschrift König Wenzels

Von Doris BulachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Bulach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der leinengebundene Prachtband Die Goldene Bulle von 1356. Das erste Grundgesetz des römisch-deutschen Reichs, geschützt durch einen zusätzlichen Schuber, ist ein herrlich zugangsoffenes Buch. Zum einen spricht es unterschiedliche Leserinnen und Leser an: bibliophile Menschen, die sich an der Qualität von Druck und Abbildungen erfreuen, Menschen, die bildliche und schriftliche Einblicke ins Spätmittelalter suchen, aber auch diejenigen, die sich im Rahmen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen für die neuesten Forschungen zur Goldenen Bulle, zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrem Fortwirken interessieren. Zum anderen ist der Band so angelegt, dass man auf ganz unterschiedliche Art mit Lektüre oder Betrachtung starten kann.

Der Band lässt sich einfach nur durchblättern und erfreut dabei durch die vielen Abbildungen, in deren Betrachtung man sich schnell verlieren kann. Hier finden sich Karten mit Einblicken in das Reich oder Italien und seine Territorien zu unterschiedlichen Zeiten, Abbildungen von Kurfürsten aus unterschiedlichen Handschriften, Abbildungen von Königen und Päpsten samt ihren Tätigkeiten, Abbildungen von Gegenständen wie Siegel, Thron oder Handschriften, aber auch Fotos von Städten und Kirchen und vielem mehr. Es können jedoch auch einzelne Themenfelder im Inhaltsverzeichnis herausgesucht und einzeln betrachtet werden, oder man kann zur Einstimmung endlich einmal die Goldene Bulle im Original oder in Übersetzung lesen. Alle Texte sind sehr gut und zugespitzt formuliert und präsentieren hervorragend lesbar die neuesten Forschungsergebnisse.

Wie wird nun die sogenannte Goldene Bulle in der Publikation vorgestellt? Ihr Name rührt von der Beglaubigung umfangreicher rechtlicher Bestimmungen mit dem goldenen Kaisersiegel her. Dieses Siegel wurde schon von den kaiserlichen Vorgängern Karls IV. für die Beglaubigung wichtiger Urkunden gebraucht. Die Verwendung für ein so umfangreiches Libell mit 86 Seiten, das dennoch als Urkunde behandelt wurde, war aber ein Novum. Wohl daher wurde diese „Urkunde“ schon wenige Jahre nach ihrer Entstehung als „das Buch mit der goldenen Bulle“ bezeichnet. Von hier war es nur noch ein kurzer Schritt hin zur sprachlichen Verkürzung auf das goldene Siegel selbst.

In dieser umfangreichen Sammlung verschiedener Privilegien wurde vor allem die Wahl der Könige und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, aber auch die Stellung der Kurfürsten geregelt – Regelungen, die letztlich bis zum Ende des Reichs im Jahr 1806 Gültigkeit behielten. Daher wird die Sammlung in der Forschung auch als „Grundgesetz“ des Alten Reiches bezeichnet. Dies und vieles mehr erfährt man in den ersten sechs Kapiteln des Bandes, für die die Historikerin Eva Schlotheuber verantwortlich zeichnet. Hier lässt sich zu Beginn eintauchen in die Entwicklungsgeschichte des Kurfürstenkollegs, bestehend aus sieben die Königswahl vollziehenden Fürsten, das sich bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Verdeutlicht wird in diesem Teil – ebenfalls mit Rückgriffen ins Hochmittelalter – die zunehmend erstarkende Rolle der Päpste und die machtvolle Bedeutung von Eiden.

Nach diesen sich dem Thema auf längere Sicht annähernden beiden Kapiteln legt der Band den Fokus auf die unmittelbare Vorgeschichte zur Entstehung der Goldenen Bulle. Spannend wie ein Krimi lesen sich die pointierten Ausführungen zur Regierungszeit Ludwigs des Bayern und zu seinen Auseinandersetzungen mit dem Papst. In Ludwigs Regierungszeit entstanden in seinem Umfeld wegweisende Schriften, die Karl IV. stillschweigend in sein Regelwerk einbezog. Ein weiteres Kapitel widmet sich Rom und Italien insgesamt: den dortigen politischen Verhältnissen, unter anderem der „Revolte“, zu der es 1347 in Rom unter dem Notar Cola di Rienzo kam, während der damalige Papst weiterhin in Avignon residierte, ebenso wie sein Nachfolger, der 1355 die Kaiserkrönung Karls durch einen Legaten vollziehen ließ.

Man erfährt auch, was etwa Francesco Petrarca oder Lupold von Bebenburg mit der Politik Karls IV. zu tun haben und wie sich Karls Romzug mit erfolgreicher Kaiserkrönung gestaltete. Kaum zurück aus Rom trieb Karl als Kaiser zwei wichtige Reformprojekte voran, das böhmische Landrecht und die schriftliche Festlegung der Reichsrechte sowie der Königswahl. Während die Verabschiedung des Landrechts in Prag vorbereitet wurde, dienten zwei Hoftage in Nürnberg und Metz zur Vorbereitung des Reichsgesetzes.

In den beiden letzten Kapiteln wird pointiert zusammengefasst, wie beide Vorhaben realisiert und von welchen Riten sie begleitet wurden, welche Persönlichkeiten beteiligt waren und welche langanhaltenden Wirkungen der dabei entstehende mittelalterliche „Bestseller“ hatte. Begleitet werden diese sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Goldenen Bulle annähenden Kapitel von den hochwertigen Abbildungen und Überblickskarten, in die man sich neben der Lektüre oder auch völlig losgelöst von dieser vertiefen kann und so viel über die Zeit des Spätmittelalters erfährt.

Der zweite Teil des Bandes wurde von der Kunsthistorikerin Maria Theisen bearbeitet. Er widmet sich zunächst der rund 50 Jahre nach Entstehung der Rechtssammlung um 1400 hergestellten Prachthandschrift für König Wenzel. Als Einstieg lässt sich hier gleich zu Beginn des Bandes durch die vollständig abgebildete Handschrift blättern, und die gotischen Minuskeln sowie die eingeflochtenen ideenreichen Verzierungen und herausragenden Miniaturen können bewundert werden. Auf den kleinen Malereien sind zum einen Darstellungen aus der Bibel, aber auch Stadtansichten, Abbildungen von Königen, Kurfürsten und Grafen oder Szenen aus dem Herrscheralltag zu sehen.

Will man sich zu einer oder anderen dieser Miniaturen eingehender informieren, kann auf die zusammenfassende Beschreibung der Bilder einige Seiten später zurückgegriffen werden, wo für Paläographie-Interessierte zudem die teils am Rand der Miniaturen durch einen Schreiber gegebenen Anweisungen für den Maler transkribiert sind, ebenso wie Hinweise auf die unterschiedlichen Maler der Miniaturen selbst. Gerade die Mitedition der Maleranweisungen, die selbst ein geübtes Auge manchmal nur schwer entziffern kann, zeigt, wie umsichtig die beiden Autorinnen bei ihrem gemeinsamen Buchprojekt vorgegangen sind und welche Vielfalt an Rezeptionsmöglichkeiten sie vor Augen hatten.

An die Edition schließen sich Erläuterungen zu den Hintergründen der Entstehung der Prachthandschrift an: Neben Einblicken in die Regierungszeit König Wenzels IV., dem ältesten überlebenden Sohn Karls IV., erhält man viele Informationen zur Entstehung der Handschrift, aber auch interessante Details zu den Malereien wie beispielsweise den dort verwendeten Emblemen, deren Rätsel die Autorin nachvollziehbar löst. Gefolgt wird dieser Teil von einer Liste aller noch erhaltenen sieben Original-Exemplare der sogenannten Goldenen Bulle mit Beschreibung und Aufbewahrungsort. Die gleichen Informationen werden auch zum illuminierten Exemplar von König Wenzel geboten.

Abgerundet wird das schwergewichtige Werk durch die Wiedergabe des lateinischen Textes der Goldenen Bulle mit beigegebener deutscher Übersetzung, die einer älteren Übersetzung von 1978 folgt. Am Ende findet sich neben einem weiterführenden Quellen- und Literaturverzeichnis auch ein Orts- und Personenregister.

Insgesamt ist mit diesem haptisch, optisch und wissenschaftlich herausragend gestalteten Band ein Werk entstanden, das die Bedeutung der Goldenen Bulle einem breiten Publikum nahebringt und dieses bis in die Neuzeit funktionierende „Schutzschild“ gegen den Papst anschaulich in Szene setzt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Eva Schlotheuber / Maria Theisen: Die Goldene Bulle von 1356. Das erste Grundgesetz des römisch-deutschen Reichs.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2023.
432 Seiten, 150,00 EUR.
ISBN-13: 9783534276424

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