Tierisches Mittelalter

Christian Heck und Rémy Cordonnier entschlüsseln in einem hochwertigen Bildband die Bedeutungen von Tierdarstellungen in mittelalterlichen Handschriften

Von Simone HackeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hacke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tiere sind in mittelalterlichen Handschriften häufig anzutreffen: als dekorative Initiale, erläuternde Illustration zum Text oder humoristische Randdrolerie. Die Faszination, die mittelalterliche Handschriften auch auf moderne Betrachter ausüben, hängt eng mit dieser farbenfrohen und fantasievollen Ausgestaltung zusammen. Die Autoren des vorliegenden Bandes Christian Heck und Rémy Cordonnier – beide Kunsthistoriker und Experten für mittelalterliche Ikonographie – beschreiben diese fortwährende Faszination für die bebilderten Codices wie folgt: „Öffnet man den dicken, schützenden Einband, dann entführt uns das, was lediglich eine mit Tinte und Farben bedeckte Tierhaut ist, augenblicklich in andere Gefilde.“ Gleiches lässt sich auch über den vorliegenden Band sagen, der den Leser in eine andere Welt voller fabelhafter Wesen entführt und in dem die Grenzen zwischen Tier und Mensch teilweise zu verwischen beginnen, wenn etwa Tiere in Menschenkleidung oder Menschen mit tierischen Körperteilen in Erscheinung treten.

Das Tier ist in den Handschriften des Mittelalters auf allen Deutungsebenen präsent und konnte als Diener oder Begleiter des Menschen ebenso auftauchen wie in der Fabel oder Parodie, als reales oder imaginäres Lebewesen sowie als Sinnbild für Tugenden oder Sünden. Die Tiere waren somit neben ihrer Bedeutung für den realen Alltag der Menschen vor allem Zeichen, die symbolisch und allegorisch gedeutet werden mussten. So verwiesen einige Tiere laut Heck und Cordonnier auf die Psychologie des Menschen, wenn etwa die Klugheit der Schlange, die Treue des Hundes oder die Faulheit des Esels dem menschlichen Leser wie ein Spiegelbild vorgehalten werden sollte.

In der Einleitung des Bandes wird auch die Bedeutung von Tieren in der Heraldik betont. Die Wappen und Schilde gewannen im Mittelalter als Erkennungszeichen für den jeweiligen Adeligen stark an Bedeutung, da das Gesicht der Männer unter den Helmen zunehmend nicht mehr eindeutig zu erkennen war. Im Mittelalter zeigten etwa drei von zehn Wappen Tiere. Im Verlauf des Bandes wird jedoch auf die Heraldik kaum noch eingegangen. Der Schwerpunkt liegt erkennbar auf der mittelalterlichen Buchmalerei.

Die Deutung der Tiere als Symbol war allerdings nicht immer eindeutig und häufig stark vom Kontext der jeweiligen Handschrift abhängig. Neben naturkundlichen Handschriften wie dem Physiologus oder den Bestiarien des 12. und 13. Jahrhunderts tauchten Tierdarstellungen auch in kalendarischen Monatsbildern und Tierkreiszeichen, in belehrenden Fabelerzählungen sowie in christlichen Psaltern und Gebetsbüchern auf.

Die Vielschichtigkeit der Deutungen und die häufig damit einhergehende Ambivalenz kann am Beispiel des Hundes aufgezeigt werden: So war der Hund vor allem beim Adel positiv konnotiert und galt als treuer Begleiter bei der Jagd und als Schoßhund. Eine ähnliche Bedeutung findet sich auch bei den Dominikanermönchen, die aufgrund der Wortähnlichkeit mit den lateinischen Begriffen domini und canus als treue Hunde des Herrn bezeichnet wurden. Darüber hinaus besaß der Hund aber auch eine sexuelle Konnotation, wenn etwa eine Jungfrau einen Welpen als Zeichen ihrer Jungfräulichkeit an ihren Werber übergab, und auch der Werber selbst wurde in einigen Darstellungen als Hund bei der Belagerung des Château d’Armour (Liebesschlosses der Frau) gezeigt. Außerdem konnte der Hund als ein Symbol für Betrug und Diebstahl gedeutet werden. Dieses negative Bild wurde vor allem durch die Bibel geprägt, in der der Hund als Allegorie für die Verräter und Peiniger Christi auftaucht. Bei Hrabanus Maurus wird der Hund gleichgesetzt mit Häretikern, Juden, Heiden, Sündern und dem Teufel. Somit konnte die Bedeutung eines Tieres für den Lebensalltag der Menschen eine völlig andere sein als die gesellschaftlich oder religiös propagierte.

Die christliche Weltordnung ist es auch, die dem Menschen einen Platz über den Tieren und somit eine gewisse Autorität zuweist, da es Adam war, der den Tieren erst ihre Namen und damit ihre Daseinsberechtigung auf Erden gab. Diese Herrschaft der Menschen über die Tiere zeigt sich in der Landwirtschaft und Viehzucht ebenso wie bei der Jagd oder in dem Bestreben vieler Adeliger, in den Besitz wilder, seltener oder exotischer Tiere zu gelangen, die zu Statussymbolen wurden. Im Frühmittelalter waren dies vor allem einheimische Tiere wie Bären oder Wildschweine, wohingegen im Hoch- und Spätmittelalter die exotische Herkunft bedeutsamer wurde und sich in den Gärten der Adeligen Löwen, Leoparden, Elefanten, Kamele, Affen, Antilopen oder Giraffen tummelten.

Die Herrschaft des Menschen über die Tiere stand in starkem Kontrast zur Wildnis und den wilden Tieren, die den Menschen in seiner Existenz bedrohen konnten und daher Ängste und negative Evokationen hervorriefen. In der mittelalterlichen Geographie wurden die Tiere auf der Weltkarte nicht nur nach ihrem tatsächlichen Vorkommen, sondern vor allem nach den zeitgenössischen Glaubensvorstellungen verteilt. So wurde Äthiopien zum Ort der wilden Tiere und barbarischen Völker, während Indien als das Land der Wunder und der fantastischen Tierwesen angesehen wurde.

Eine friedliche Beziehung zwischen dem Menschen und dem wilden Tier wurde durch die Heiligen vorgelebt. Diese wurden häufig als Freunde der Tiere dargestellt und ein friedlicher Umgang mit der Tierwelt wurde zur wesentlichen Tugend vieler Heiliger. Zu nennen wäre hier beispielsweise der Heilige Antonius, der in seinem Einsiedlerleben abseits der Zivilisation von wilden Tieren unterstützt wurde, oder der Heilige Franziskus, der zu den Vögeln predigte.

Vorgestellt werden im vorliegenden Band 100 Tiere, die grob fünf Großgruppen zugeordnet werden können. Die größte Gruppe ist die der Vögel, in der Wildvögel (Adler, Eule, Rabe) ebenso betrachtet werden wie Singvögel (Amsel, Lerche, Sperling) oder domestizierte Vögel (Huhn, Gans). Den Menschen in ihrem Alltag am nächsten stand die zweite Gruppe der domestizierten Tiere wie Esel, Hund, Pferd, Schaf, Hausschwein, Ziege oder Biene, deren Bedeutung jedoch weit über den häuslichen Bereich hinausreichte. Bei der dritten Gruppe der exotischen Tiere werden unter anderem Affe, Löwe, Krokodil, Elefant, Skorpion und Panther vorgestellt, die in den mittelalterlichen Handschriften ebenso ihren Platz hatten wie die vierte Gruppe der einheimischen wilden Tiere wie Eichhörnchen, Wildschwein, Hirsch, Wolf, Fledermaus, Schlange oder Spinne. Da die Vorstellungs- und Bilderwelt des Mittelalters zudem stark von wunderbaren Erscheinungen geprägt war, darf natürlich auch die letzte Gruppe der fantastischen Tierwesen, zu denen etwa Basilisken, Drachen, Einhörner, Greifen oder Kentauren gehörten, in dieser mittelalterlichen Tierenzyklopädie nicht fehlen.

Im Band selbst sind die verschiedenen Tierarten alphabetisch nach ihren lateinischen Bezeichnungen sortiert. Zu Beginn des Buches wird aber zusätzlich eine alphabetische Liste mit den deutschen Tiernamen vorgelegt, was den Zugang und das Auffinden beziehungsweise Nachschlagen bestimmter Tierarten deutlich erleichtert. Exemplarisch sollen an dieser Stelle einige Tiere vorgestellt werden, um den Aufbau der einzelnen Artikel zu veranschaulichen.

Die Eule ist neben dem Hund ein weiteres Beispiel für einen sehr ambivalenten Symbolgehalt. Nachttiere hatten im Mittealter generell einen eher schlechten Ruf. Die Eule galt zusätzlich als unheilvoll, da sie düstere Orte und Friedhöfe bevorzugte. Außerdem war sie ein Bestandteil des Bestiariums der Hölle und erschien in einigen Illustrationen von Dante Alighieris Inferno sogar als Bewacher der Pforte zum Höllenschlund. Die Eule galt zum einen als diffamierendes Bild für Juden, da die Juden die Finsternis dem Licht vorgezogen hätten, als sie Jesus verurteilten. Zum anderen wurden Eulen aber auch als Christusfigur interpretiert. Nach den mittelalterlichen Exegeten symbolisierte die Schleiereule Christus, da sie in der Finsternis lebe, so wie Christus unter den Sündern gelebt habe. Eulen gehörten zu den häufigsten in der Buchmalerei abgebildeten Vögeln. Häufig wurden diese Darstellungen aber auch nur zu rein dekorativen Zwecken verwendet.

Ein Fabelwesen, das in mittelalterlichen Handschriften ebenfalls sehr präsent war, war der Drache. Während der Drache in der Neuzeit meist als großes, vierbeiniges, Feuer speiendes Reptil dargestellt wird, konnte er im Mittelalter viele Formen annehmen. Häufig war seine Gestalt schlangenähnlich, was vor allem auf die Bibel zurückzuführen ist, in der draco als Bezeichnung für diabolische Schlangenfiguren viel Verwendung fand. Somit wird der Drache zum Sinnbild für den Teufel und die ewige Verdammnis in der Hölle schlechthin, was ihn auch zu einem beliebten Gegenspieler für Heilige und fromme Ritter machte. In den Bestiarien tauchte der Drache als größter aller Schlangen und größtes Geschöpf auf Erden auf, dessen Kraft nicht in den Fängen, sondern im Schwanz saß, mit dem er seine Opfer wie Elefanten oder andere große Landlebewesen erdrosselte.

Als weitaus alltäglicherer Angstgegner und wildes Tier par excellence galt im Mittelalter der Wolf. Er verkörperte alle menschlichen Ängste gegenüber der Tierwelt. In mittelalterlichen Buchmalereien wurde der Wolf vor allem nach volkstümlichen Vorstellungen als Viehdieb dargestellt. Als Menschenfresser taucht der Wolf in den Darstellungen hingegen kaum auf. In der Bibel werden Wölfe nicht erwähnt, dort wurde aufgrund der Lage der meisten biblischen Schauplätze im Nahen Osten stattdessen der Löwe zur Projektionsfläche für diese Ängste. In den mittelalterlichen Fabeln taucht der Wolf hingegen sehr häufig auf und wird meist als hinterlistig und grausam charakterisiert. In den Randdrolerien der Handschriften, die auf amüsante Weise belehrend sein sollten, ist besonders häufig der Ysengrim aus dem Roman de Renart (dt. Reinhart/Reineke Fuchs) zu finden. Dort werden vor allem die Dummheit und die niederen Instinkte, die Gier und die Wollust des Wolfes parodiert, der sich immer wieder vom Fuchs auf unterschiedlichste Art und Weise hereinlegen lässt.

Die Wolfsjagd war im Mittelalter weit verbreitet und wurde zum Teil sogar von den Herrschenden angeordnet mit dem Ziel, den Wolf als Nahrungskonkurrenten des Menschen auszurotten. Die Legende vom Werwolf ging auf die antiken Metamorphosen Ovids sowie auf alte germanische Traditionen zurück und symbolisierte eine Freisetzung der wilden, animalischen Instinkte, die in jedem Menschen schlummerten und bekämpft werden mussten. Ovids Metamorphosen wurden wie viele andere Texte antiker Autoren im Mittelalter moralisch-belehrend aufbereitet. Eine positive Konnotation erfährt der Wolf lediglich in den antiken Darstellungen von Romulus und Remus, die von einer Wölfin aufgezogen wurden. Die angeführten Beispiele verdeutlichen das breite Spektrum und die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten der Tierdarstellungen im Mittelalter.

Der vorliegende Band liefert neben den enzyklopädischen Einträgen zu den 100 Tierarten zahlreiche großformatige und sehr hochwertige Abbildungen, auf denen es unglaublich viel zu entdecken gibt. Auf diese Weise lädt dieses farbenfrohe und reich bebilderte Buch zum Blättern und Staunen darüber ein, welche Pracht die mittelterlichen Buchmaler auf das Pergament brachten. Auch der Umfang und das Gewicht des Buches muten fast wie ein dicker mittelalterlicher Pergamentcodex an. Die Wahl der Tiere und Fabelwesen ist sehr abwechslungsreich und ergibt einen sehr guten Gesamtüberblick über die Darstellungen und Deutungen von Tieren im Mittelalter. Den Autoren gelingt es ausgezeichnet, auch die Ambivalenzen des Symbolgehalts einiger Tiere aufzuzeigen, gegenüberzustellen und zu erläutern. Die zum Teil sehr humoristischen Anekdoten und Zitate aus zeitgenössischen Werken gewähren darüber hinaus interessante Einblicke in die mittelalterliche Vorstellungswelt.

Stellenweise geht aus dem Text leider nicht eindeutig hervor, welches der Bilder gerade beschrieben wird oder ob ein Bild erläutert wird, das gar nicht abgedruckt ist. Hier wären Nummerierungen der Abbildungen sowie direkte Verweise im Text sinnvoll gewesen. Dies bleibt jedoch das einzige Manko dieses fantastischen Bandes.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christian Heck / Rémy Cordonnier: Bestiarium. Das Tier in mittelalterlichen Handschriften.
Übersetzt von Gisella M. Vorderobermeier.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2020.
300 Seiten, 100,00 EUR.
ISBN-13: 9783534272020

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