Glanz und Elend der Silmaril

Christopher Tolkien gibt ein weiteres Heldenlied aus Mittelerde heraus

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte über dieses Buch den Kopf schütteln. Wer schreibt im 20. Jahrhundert eine märchenhafte Legende über eine schicksalhafte Liebe und den Kampf zwischen Gut und Böse und verfasst darüber auch noch ein mehrtausendzeiliges Versepos? Das klänge in der Tat seltsam – wenn der Autor nicht John Ronald Reuel Tolkien hieße. Beren und Lúthien ist eine Geschichte, die ins Herz seines Mittelerde-Kosmos führt und zum Kernbestand des Silmarillion gehört, jenes erzählerisch-mythologischen Kompendiums, das Tolkien als sein Hauptwerk betrachtete und an dem er sein Leben lang gearbeitet hat, ohne es vollenden zu können. Tolkien selbst bezeichnete Beren und Lúthien sogar als die wichtigste Geschichte im Silmarillion. Obwohl er den meisten nur als Autor des Herrn der Ringe und des Hobbit bekannt ist, womit er das moderne Fantasy-Genre fast im Alleingang begründet hat, waren diese Texte für ihn lediglich Teile eines viel umfassenderen Weltentwurfs und Mythengewebes, dessen Nichtabgeschlossenheit ein geradezu zwingendes Element darstellt.

Herausgegeben wird das Buch wieder von seinem Sohn Christopher Tolkien, der sich seit Jahrzehnten der Veröffentlichung der nachgelassenen Schriften seines Vaters widmet. Und auch er wird nicht fertig werden, wie er im Vorwort andeutet: „Im Alter von dreiundneunzig Jahren ist dies (vermutlich) mein letztes Buch in der langen Reihe von Editionen der Schriften meines Vaters.“ Dabei entsteht eine so erstaunliche wie passende Parallele. Die Beschäftigung mit einer Welt, die in einer imaginären Vergangenheit situiert ist und deren Bewohner stark in Traditionen von Volks- und Familienverbänden verankert sind, schlägt in die Wirklichkeit um. Ein Sohn stellt sein Leben in den Dienst am Werk seines Vaters: ein Mehrgenerationenprojekt, das in absehbarer Zeit auf einen weiteren Nachfolger warten wird.

Innerhalb von Tolkiens Werk ist die Geschichte von Beren und Lúthien etwas Besonderes, weil sie eine große persönliche Bedeutung für ihn hatte. Als Soldat im Ersten Weltkrieg nahm er 1916 an der Schlacht an der Somme teil, erkrankte danach mehrfach und wurde nach Yorkshire verlegt. In dieser Zeit ereignete sich eine geradezu traumhafte Szene, die zum Ausgangspunkt für Beren und Lúthien werden sollte: Seine Frau Edith tanzte für ihn auf einer mit weißen Schierlingen übersäten Waldlichtung. So, wie ihn die Geschichte ein Leben lang in immer neuen Formen und Überarbeitungen begleitete, war sie auch an seinem Ende anwesend: Auf dem Grabstein der Tolkiens sind die Namen des Ehepaars mit „Beren“ und „Lúthien“ ergänzt. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunlich wirken, dass die Geschichte erst jetzt herausgegeben wird, aber Christopher Tolkien macht in seinem Vorwort auf die großen editorischen Probleme aufmerksam, die nicht zuletzt auf den zahlreichen Varianten und der engen Verflechtung mit dem übrigen Silmarillion-Stoff beruht.

Die Geschichte handelt von der Liebe der unsterblichen Elbin Lúthien und dem sterblichen Waldläufer Beren. Beren beobachtet Lúthien zufällig beim Tanzen im Wald und verliebt sich sofort in sie. Er gewinnt ihre Zuneigung, wird aber von ihrem Vater, dem Elbenkönig Thingol, abgelehnt, da er als Mensch einer Elbin nicht würdig sei. Halb im Scherz, halb aus Bosheit stellt Thingol ihm eine unmögliche Aufgabe: Er soll ihm aus der eisernen Krone Morgoths, des „schwarzen Feindes der Welt“, einen der drei Silmaril bringen, elbische Edelsteine, in denen das ursprüngliche göttliche Sternenlicht eingefangen ist und die Morgoth einst geraubt hatte. Nach allerlei Abenteuern gelangt Beren in Morgoths Reich Angband (gewissermaßen ein erstes Mordor), kann den Silmaril aber nur mit Hilfe Lúthiens, die ihrem Geliebten mutig gefolgt ist, aus der Krone brechen. Auf der Flucht aus Angband beißt ein riesiger Wolf Beren die Hand ab, die den Silmaril umschließt, und verschlingt sie. Sie kehren zurück, und Beren erklärt dem König, er habe den Stein in seiner Hand, nur die Hand leider nicht mehr. Der König, von seinen Taten beeindruckt, will ihm nun Lúthien zur Frau geben, Beren besteht jedoch darauf, dass er den Silmaril auch herbringen will. Inzwischen ist der Wolf, wahnsinnig geworden durch den seine Eingeweide verbrennenden Stein, selbst in das Elbenreich gekommen und verwüstet das Land. Er wird von Beren, dem König und einigen Getreuen getötet. Dabei kommt Beren ums Leben, kann dem König den Edelstein aber noch übergeben. Lúthiens Trauer um den toten Geliebten berührt die Götter so sehr, dass es ihr gestattet wird, Beren wieder in die Welt mitzunehmen, aber nur, wenn sie sein Schicksal als Sterbliche zu teilen bereit ist. So kommt die Geschichte zu einem gebrochenen Ende, das gut und gleichzeitig tragisch ist. Oder, wie Streicher alias Aragorn im Herrn der Ringe sagt, bevor er den Hobbits ein Lied über Beren und Lúthien vorsingt: „Es ist eine schöne Geschichte, obwohl sie traurig ist, wie alle Geschichten von Mittelerde, und doch mag sie euren Herzen Mut machen.“

Dies ist gewissermaßen der stabile Kern der Geschichte, die Tolkien im Laufe der Zeit immer wieder umschrieb und erweiterte. In ihr zeigt sich auch zum ersten Mal das Grundmuster der „Quest“, der Reise in die Dunkelheit und wieder zurück, verbunden mit einem Prozess der persönlichen Veränderung und Reifung, das alle folgenden großen Erzählungen aus Mittelerde prägt: Der Hobbit, Der Herr der Ringe, das 2007 erschienene Die Kinder Hurins, und viele, nicht weiter entwickelte Geschichten aus dem Silmarillion oder dem Buch der verschollenen Geschichten.

Christopher Tolkien verbindet mehrere Herangehensweisen miteinander, um die Entwicklung der Geschichte nachzuzeichnen. Da ist zum einen die chronologische Entwicklung des Textes, die 1917 mit einer vollständig vernichteten Fassung begann, sich in einer ersten Prosafassung fortsetzte und mit dem in Versform gehaltenen Leithian-Lied bis 1931 seine ausführlichste, wenn auch nicht vollendete Fassung fand – die Tolkien über 20 Jahre später noch einmal überarbeitete. Da ist zum anderen der Verlauf der Erzählung selbst, der im Lauf der Zeit mehrfach umgestaltet wurde und umfängliche Erweiterungen fand, mit denen sie in die Gesamtmythologie Mittelerdes immer stärker eingewoben wurde. Christopher Tolkien schiebt dazu immer wieder andere Texte ein, von denen die wichtigsten in das Silmarillion eingingen. Er fügt neben dem Vorwort auch mehrere erläuternde Anmerkungen zur Textauswahl und den zeitlichen Zusammenhängen der verschiedenen Texte ein, die die Bearbeitungsschritte der Geschichte nachvollziehbar machen.

Das Buch kombiniert also belletristische und philologische Aspekte. Damit ist ziemlich klar, dass es sich nicht an jeden richtet, sondern vor allem an Tolkien-Fans, die schon über Mittelerde-Kenntnisse verfügen und tiefer in sein Werk einsteigen wollen. Trotz seines eigenständigen Charakters ist es als Ergänzung zu den übrigen Werken gedacht. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die im Silmarillion niedergelegte Fassung der Legende nicht aufgenommen, sondern nur auf sie verwiesen wird.

Beren und Lúthien ist folglich ganz anders angelegt als Der Hobbit oder Der Herr der Ringe, die als Geschichten für sich stehen können, und unterscheidet sich auch von Die Kinder Hurins, jener anderen großen und tragischen Legende aus dem Ersten Zeitalter Mittelerdes, die in wesentlich geschlossenerer Form existiert und mit deutlich geringerem editorischem Apparat veröffentlicht wurde.

Die größte übersetzerische Herausforderung war zweifellos das in vierhebigen Jamben gehaltene Leithian-Lied, in das Tolkien seine Erfahrungen mit englischer mittelalterlicher Heldenepik einfließen ließ. Man bemerkt die Schwierigkeiten durchaus: Im Gegensatz zum englischen Original ist das deutsche Versmaß gelegentlich holprig, auch die Reime sind nicht immer treffsicher. Ein weiteres Problem stellen die unterschiedlichen lyrischen Traditionen dar. Im Deutschen wirken Verse in vierhebigen Jamben mit Paarreimen einem dramatischen und heroischen Inhalt längst nicht so angemessen wie im Englischen, es kann sogar eher an Gebrauchslyrik erinnern. Insofern muss man im Deutschen auch gegen die eigenen lyrischen Erfahrungen anlesen. Trotz dieser Einschränkungen muss die Übertragung des Liedes als eine besondere Leistung gewürdigt werden, die souverän gemeistert wurde.

Das Buch ist mit zahlreichen Farb- und Schwarzweiß-Illustrationen Alan Lees ausgestattet, des zweifellos wichtigsten Tolkien-Illustrators, der auch maßgeblich für das Design der Herr der Ringe-Filme verantwortlich war. Mit Beren und Lúthien hat der Klett-Cotta-Verlag einen weiteren wichtigen Baustein seiner Tolkien-Editionen vorgelegt. Tolkien-Lesern steht nun ein weiteres, sorgfältig ediertes und schön ausgestattetes Buch aus dem Mittelerde-Kosmos zur Verfügung. Der Erwerb sei hiermit nachdrücklich empfohlen.

Titelbild

J. R. R. Tolkien: Beren und Lúthien.
Herausgegeben von Christopher Tolkien. Mit Illustrationen von Alan Lee.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring und Helmut W. Pesch.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
304 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608961652

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