Eine gediegene Analyse des Deutschheitsproblems

Aleš Urválek hat die Vergangenheitsreflexion nachkriegsdeutscher Historiker und Schriftsteller in den Blick genommen

Von Cyril de BeunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cyril de Beun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach mehr als einem halben Jahrhundert geschichtswissenschaftlicher, literarischer und philosophischer Reflexionen über Deutschheit scheint es an der Zeit, diese Reflexionen selbst aus historischer Sicht zu untersuchen. Dies ist genau das Vorhaben, das Dem deutschen Problem in der nachkriegsdeutschen Literatur und der Geschichtswissenschaft von Aleš Urválek zugrunde liegt. Dieses Buch ist das Ergebnis einer Studie, mit der der Verfasser 2017 an der Masaryk-Universität zu Brno habilitiert wurde.

Urválek zeigt sich der außergewöhnlichen Brisanz bewusst, mit der das Thema der Deutschheit – von ihm treffend als das „deutsche Problem“ bezeichnet – nach dem Zweiten Weltkrieg umgeben war. Als Terminus a quo hat er die späten 1950er Jahre gewählt, mit Adornos Essay Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? als wegbereitendem Text. Der Terminus ad quem, das Jahr 2010, fungiert in seiner Studie als Konvergenzpunkt für alle jüngeren Äußerungen zum Deutschheitsproblem.

Urválek setzt an mit einigen zentralen Deutschlandreden der nachkriegsdeutschen Epoche: Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart des Ritter-Schülers Hermann Lübbe, Richard von Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985, Günter Grass’ Geschenkte Freiheit, Ernst Noltes Vergangenheit, die nicht vergehen will, Philipp Jenningers berühmt-berüchtigte Bundestagsrede zum 50. Jahresgedenken der Novemberpogrome 1938 und schließlich Martin Walsers Über Deutschland reden. Aus diesem einleitenden Kapitel gehen einige theoretische Anhaltspunkte beziehungsweise Prämissen hervor: Die Studie ist interdisziplinär angelegt und berücksichtigt neben Historikern und Literaten ebenfalls Philosophen und Politiker. Weil Urválek mit diesem interdisziplinären Anliegen nicht in eine Eindimensionalität verfallen will, vermeidet er auch ein Entweder-oder-Kategorisieren, etwa gemäß dem politischen Schema ‚links‘ gegenüber ‚rechts‘ oder solchen Oppositionen wie Vergangenheitsbewältigung gegenüber Vergangenheitsverleugnung und Freiheit gegenüber Einheit.

Es ist diese Spannung zwischen den historisch festgelegten, ideologisch bestimmten Argumentationsschemata und Denkmustern einerseits und der umso differenzierteren Realität der intellektuellen Deutschlanddebatten andererseits, die im Zentrum von Urváleks Betrachtung steht. Einen Leitfaden bildet die Gegenüberstellung von anthropologischen und geschichtsphilosophischen Sichtweisen, die sich in den geschichtswissenschaftlichen Denkschulen des Historismus (Gerhard Ritter) beziehungsweise der kritischen, ethisch inspirierten Zeitgeschichte (Fritz Fischer) einprägsam niedergeschlagen hat. Urválek ist darum bemüht, viele der in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bereits ausführlich besprochenen Texte zum Deutschlandproblem auf ihre argumentativen Positionen und Positionswechsel, insgesamt also auf ihre rhetorischen Strategien hin zu analysieren, um so nach „Mittelwegen, Kompromissen und Zwischenpositionen“ zu suchen. Urválek macht so Schnittstellen zwischen Autoren sichtbar, die sich sonst als Oppositionen begegnen.

Exemplarisch stehen dafür die Unterkapitel zu den theoretischen Varianten des deutschen Sonderwegs. Einerseits spricht Urválek vom Sonderweg als „einer historischen Tatsache“, deren Tatsächlichkeit man jedoch bezweifeln kann, zumal er die zu diesem Konzept in Konkurrenz stehende Idee des Eigenwegs gar nicht erwähnt. Andererseits – und das ist für seine eigene Argumentation viel relevanter – verweist er auf den Sonderweg als Sammelbegriff für eine Vielzahl theoretischer Überlegungen zur historischen Entwicklung Deutschlands. Es prävaliert hier das geläufige Denken über den Sonderweg als eine aus dem anvisierten Endziel (liberale Demokratie) heraus gedachte, von diesem abweichende historische Entwicklungslinie. Das Interessante an Urváleks Blickrichtung ist jedoch, dass sie ihm eine Unterscheidung zwischen verschiedenen diskursiven Positionen erlaubt. Es kommen dabei ‚rechte‘ und ‚linke‘ Vorstellungen eines deutschen Exzeptionalismus zur Sprache: Während Erstere die deutsche Demokratisierung nach 1945 als Ausnahme vom Normalzustand der Vorkriegszeit verstehen, schwanken Letztere zwischen Westbindung und einem manchmal unbequemen Verhältnis zum Westen hin und her, was zum Beispiel in ihrem Antiamerikanismus zum Ausdruck kommt. Diese Ablehnung einer nachkriegsdeutschen Ersatzidentität gleichermaßen auf der rechten wie auch der linken Seite ist mit einem Hufeisen zu vergleichen, dessen zwei Enden aufeinander zulaufen. Scharfsinnig sind in dieser Hinsicht auch Urváleks Ausführungen über die Totalitarismustheorie: Sie diente in den 1950er Jahren nicht nur einer Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus, sondern wurde umgekehrt auch von der linken Seite verwendet, um durch ein In-Beziehung-Setzen von Kapitalismus und Faschismus das eigene Gewissen zu beschwichtigen.

Gleichzeitig zeigt sich der linke Exzeptionalismus ebenfalls in seinem Anspruch, den ‚besseren Westen‘ darzustellen. Urválek schreibt den nachkriegsdeutschen Intellektuellen nämlich drei postnationale Formen des Staatsverständnisses zu: das der Kulturnation, der transnationalen Demokratie und des Verfassungspatriotismus. Vor allem der sich gegen das enge Politische abschottende Kulturnationalismus und der eben politikphilosophisch dominierte Verfassungspatriotismus unterliegen laut Urválek der Gefahr, auf eine Hyperkorrektheit hinauszulaufen, durch die sich Deutschland trotzdem wieder vom Westen entfremdet. Zuletzt bezieht sich Urválek in dieser Diskussion auf Heinrich August Winkler, der die deutsche Identitätsfrage auch für die Zukunft als „Zusammenspiel des Partikularen mit dem Universalen“ sieht. So rekurriert Urválek dann doch – und sei es auch nur indirekt – auf die These des historischen Eigenwegs.

Über die historisch-politische Debatte zur nationalen Erinnerungskultur erweitert Urválek das Geflecht der Debatten um literarische Perspektiven. Hier gibt sich Urválek zu bescheiden in seinen Ansprüchen an die Literatur, deren Behandlung doch im weiteren Verlauf (zwei Drittel des gesamten Buches) im Rampenlicht steht. Zwar schreibt er der Literatur – sofern es ihre Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit betrifft – einen sich im Laufe der Jahrzehnte steigernden Reflexionsstand zu, er stellt sie dadurch jedoch auf die gleiche Ebene wie politische und geschichtswissenschaftliche Diskurse. Da sich die Literatur gerade durch ihren Rückgriff auf andere gesellschaftlich kursierende Diskurse auszeichnet, wäre es hingegen logischer gewesen, wenn er in ihrem Fall von einem höheren Maß an reflexivem Bewusstsein ausgegangen wäre. Damit wäre er seiner darauffolgenden literarischen Besprechung besser gerecht geworden.

Diese beginnt dann auch mit einer Kritik allzu teleologischer Auffassungen zur deutschen Erinnerungskultur, die in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt und zugleich auch einen entscheidenden Wendepunkt erreicht haben soll. Urválek zieht hier Parallelen zur Stunde Null. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass es sich bei diesem Begriff um eine Vergangenheitsverdrängung oder -komprimierung durch den postulierten Neuanfang handelt, während Urválek in den 1990er Jahren vor allem die Gefahr einer Absolutsetzung erblickt, die zur moralischen Überheblichkeit führen könne. Er bemängelt die Voreingenommenheit vieler Studien bei ihrer Auswahl literarischer Autoren und die einseitigen Analysen, die sie aus vergangenheitsreflexiver Perspektive darbieten. Die vier von ihm angeführten Autoren – Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß – sollen gerade versucht haben, diesem Reflex abzuhelfen.

Theoretischer Zielpunkt seiner Kritik ist der durchaus mit dem antagonistischen Denken verbundene, aus Karl Mannheims Schriften entlehnte Generationsbegriff. Urválek bevorzugt eine relationale Herangehensweise, die generationellem Außenseitertum (man denke etwa an die Kennzeichnung Enzensbergers als 68er) und Übergängen zwischen Generationen Rechnung trägt. Er zieht unter anderem das Werk von Helmut Schelsky („skeptische Generation“), Aleida Assmann und Sigrid Weigel heran, um deren Arbeiten in der Gegenüberstellung mit dem Konzept der „positiven Entzweiung“ (Joachim Ritter, Odo Marquard) zu entkräften. Marquards Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie entnimmt er die Strategie, Autoren nicht auf den anthropologischen oder geschichtsphilosophischen Pol festzulegen. Wie Urválek zeigt, verweigern sich die von ihm untersuchten vier Autoren dem Bekenntnis zu einem dieser beiden Standpunkte. Stattdessen pflegen sie mit ihren Zwischenpositionen ein Spannungsverhältnis, wodurch sie ihrer Generationsmoral zumindest teilweise widersprechen. 

Eine wichtige erkenntniserzeugende Funktion kommt dabei der Gattung der Autobiografie zu. Urválek weiß überzeugend darzulegen, wie die Autobiografien von Grass (Beim Häuten der Zwiebel, einschließlich der autobiografischen Elemente in Die Blechtrommel) und Walser (Ein springender Brunnen) die positive Entzweiung aktiv herbeiführen, indem sie auf die moralische Überlegenheit des Erzählers und die ihr anhaftenden Selbstentlastungsstrategien verzichten. Ihre Aufspaltung des Protagonisten in eine erzählte und erzählende Instanz stellt – so kann hier hinzugefügt werden – ein Experiment mit dem „pacte autobiographique“ (Philippe Lejeune) dar, woraus sich gleichzeitig die Skandale und die vielen Missverständnisse hinsichtlich dieser Autobiografien erklären lassen. Trotz Urváleks Gespür für rhetorische Strategien wird er gelegentlich selbst von ihnen mitgerissen. So soll Walser zwar behauptet haben, dass man über Deutschheit und den Holocaust frei nachdenken soll, an anderer Stelle wird ihm jedoch unterstellt, es stehe ihm als Angehöriger der ‚Tätergruppe‘ und aus Respekt vor den Opfern nicht zu, über Auschwitz zu schreiben. Die Zickzack-Bewegung im Leben Enzensbergers mag hier als positives Gegenbeispiel dienen, weil Urválek sie als Selbststilisierung entlarvt: Enzensberger sei viel mehr dem Zeitgeist gefolgt, als er seinen Lesern im Nachhinein vorspiegelt.

Urválek wägt im Allgemeinen sorgfältig die von verschiedener Seite vorgebrachten Argumente ab und ist sich der darin enthaltenen Nuancen bewusst. Allerdings hätte er einige seiner theoretischen Abschnitte, zum Beispiel die Auseinandersetzung mit verschiedenen Generationsthesen, etwas knapper formulieren können. Im Zusammenhang damit sei noch bemerkt, dass man sich als Literaturwissenschaftler eingehendere Textanalysen mit längeren Belegen gewünscht hätte. Durch die übergreifenden Bespiegelungen wirkt sein Text nämlich an mancher Stelle ein wenig distanziert. Auch die Kapiteleinteilung leuchtet nicht immer ein: Grass hätte doch ein eigenes Kapitel gewidmet werden können, zumal auch die drei anderen Autoren getrennt behandelt werden. Außerdem kann man sich die Frage stellen, ob Urválek sein Buch nicht besser in zwei Teile hätte gliedern können, was den Übergang von der rein geschichtswissenschaftlichen zur literatur- und geschichtswissenschaftlichen Perspektive klarer hervorheben würde.

Das Schwierige an einem Fokus auf oppositionellen Schemata ist, dass man sie nur aufdecken kann, indem man sich auf sie einlässt. Das ist insofern unproblematisch, als man sich dieser Falle bewusst ist, wie es Urválek tatsächlich in großen Teilen seiner Studie ist. Daher wundert es doch, dass er in seiner Schlussfolgerung das Entweder-oder-Kategorisieren zum historisch bedingten Wesensmerkmal der Deutschheit macht. Trifft dies für die Philosophie vielleicht noch in (sehr) begrenztem Maße zu, für die deutschen Intellektuellen lässt sich das so pauschal nicht behaupten. So negiert Urválek gänzlich den in der Vorkriegszeit oft erhobenen Anspruch, Deutschland vertrete aufgrund seiner Mittellage zugleich auch die goldene Mitte zwischen östlichem Despotismus und westlicher Demokratie. Seine Argumentation verfällt sogar in Stereotype, etwa dann, wenn er anführt, das Selbstbewusstsein sei „ein berühmter deutscher Grundsatz“ und der Heroismus sei typisch für Deutschland. Dass die deutschen Intellektuellen erst nach dem Zweiten Weltkrieg Anschluss ans europäische Denken gefunden haben sollen, mutet skurril an, da sie selbst Teil der europäischen Kultur gewesen sind und deren Denken folglich mitgestaltet haben. Nach seiner präzisen Analyse des Deutschheitsproblems ist es doch schade, dass Urválek abschließend solche Kurzschlüsse formuliert.

Es ist Urválek gut gelungen, die verschiedenen Stimmen in der historischen Debatte über Deutschland auf differenzierte Weise zu betrachten. Gleichwohl wird er selbst wahrscheinlich auch zugeben müssen, dass das politische Spektrum immerhin großen Wert hat, soweit es als Bandbreite dazu dient, größere Tendenzen in der Deutschheitsreflexion offenzulegen. Urválek zeigt jedoch mit großer Scharfsicht, dass die Grenzen zwischen den geschichtspolitischen Lagern häufig fließend verlaufen und dass sogar in einigen Fällen die gleiche Botschaft von einander geschichtspolitisch entgegengesetzten Personen vermittelt wird.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Aleš Urválek: Das deutsche Problem in der nachkriegsdeutschen Literatur und der Geschichtswissenschaft.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
398 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783826063039

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