Wiederholte Spiegelungen

Der Katalog zur Münchener „Du bist Faust“-Ausstellung zeigt Adaptionen des deutschen „Nationaldramas“ in der bildenden Kunst

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Wolfgang Goethes Faust-Dramen haben nicht nur eine veritable Text-, sondern auch eine entsprechende Bilderflut ausgelöst. Der gelehrte Teufelsbündler, sein diabolischer Antagonist und – nicht zuletzt – seine jugendliche Geliebte wurden unzählige Male ins Bild gesetzt, sei es als Gemälde, Skulptur, Postkartenfotografie oder im Film. Im Rahmen des Münchener „Faust-Festivals“ (https://faust.muenchen.de/) widmet sich die Ausstellung Du bist Faust dem rasch einsetzenden Nachleben von Goethes Dramen-Text in der bildenden Kunst. Der von Roger Diederen und Thorsten Valk in Zusammenarbeit mit Sophie Borges und Nerina Santorius herausgegebene Katalog ist mehr als nur das Dokument dieser Ausstellung. Dieses aus Essays und zahlreichen qualitativ hochwertigen Abbildungen bestehende Buch ist in seiner Kompaktheit und Reichweite ein konkurrenzloses Kompendium auf dem Gebiet der Faust-Illustrationen.

Goethes Faust, so erläutern Diederen und Valk im Vorwort, sei das „weltweit bekannteste Werk der deutschen Literatur“ und „ebenso wie Shakespeares Hamlet oder Mozarts Don Giovanni ein Mythos der Moderne“. Es reflektiere die „Sinnsuche des modernen Subjekts“ und verwebe sie „mit den großen Themen der Menschheitsgeschichte“. Dem ist zunächst nicht zu widersprechen. Es wirkt allerdings ein wenig schief, wenn die Herausgeber erläutern, die Ausstellung widme sich der Frage, „inwiefern Goethes Protagonist als Repräsentant einer von vielfältigen Widersprüchen geprägten Moderne anzusehen ist und inwieweit er sich als Spiegelfigur des neuzeitlichen Subjekts zu erkennen gibt“.

Die Konzeption der Ausstellung ist damit nicht allzu treffend beschrieben. Sicher sind diese Fragen von großer Bedeutung – die germanistische Faust-Exegese der letzten Jahre arbeitet sich mit großer Energie und Leidenschaft an ihnen ab –, in den Essays des Kataloges aber stehen sie keineswegs im Vordergrund, was auch daran liegen dürfte, dass die Exponate derlei Fragen nicht eben dringlich provozieren. Zudem geht es, so viel semiologische Differenzierung sei gestattet, mitnichten um ‚Goethes Protagonisten‘, sondern allenfalls um die Spiegelungen, die dieser in den Werken anderer Künstler erfahren hat; darüber hinaus ist die Ausstellung keineswegs auf den Protagonisten allein bezogen. Sicher, Faust hat die Fantasie zahlreicher Künstler angeregt. Doch das gilt ebenso für Mephistopheles und vor allem für Margarete – beide sind Figuren, denen charakteristischere Merkmale eignen als dem als Typus vergleichsweise konventionellen Gelehrten aller vier Fakultäten und die daher dankbare Gegenstände künstlerischer Aneignung sind. Entsprechend sei, so die Herausgeber, der „appellative Titel“ eigentlich zu ergänzen: „Du bist Faust, Du bist Margarete, Du bist Mephisto“.

Die (angesichts der Faust-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts fast schon unfreiwillig tragikomische) Nähe zur „Du bist Deutschland“-Kampagne der 2000er Jahre hingegen wird nicht thematisiert. Da die Ausstellung sich von früheren, weltanschaulich motivierten Indienstnahmen der Tragödie distanziert und ausdrücklich vom Anliegen bestimmt wird, „die künstlerischen Adaptionen des Goethe-Dramas in ihrem internationalen Bezugsrahmen vor Augen zu führen“, wie Valk in seinem einführenden Essay darlegt, muss diese Assoziation wohl als konzeptioneller blinder Fleck verbucht werden.

Die Essays widmen sind übergeordneten Themen. Nach einem knappen Überblick über die Faust-Tradition vor Goethe und einer Charakterisierung des Dramas als „göttliche Komödie“ stehen die Hauptfiguren im Mittelpunkt, wobei Margarete gleich drei Abschnitte gewidmet sind, während sich Faust und Mephisto mit je einem begnügen müssen. Außerdem sind Essays zu den Illustrationen der Walpurgisnacht – deren überbordende Erotik, wie nicht anders zu erwarten, besonders große Resonanz gefunden hat –, zu Illustrationszyklen zu Faust II und schließlich zu bibliophilen Faust-Drucken des 19. und 20. Jahrhunderts enthalten. In ihren Ausführungen zum Goethe-Text sind die einführenden Texte meist profund, wenn auch nicht allzu originell, bisweilen sogar etwas altbacken. Anregender sind die Passagen, in denen die Adaptionen vorgestellt werden. Ohnehin sind hier die Bilder viel wichtiger als die Texte.

Mephistopheles etwa, wenn er nicht umstandslos als Klischee-Teufel dargestellt wurde, regte zu einer beachtlichen Bandbreite an – vom sinister grinsenden Schelmen im klassischen roten Gewand mit Hahnenfeder bis hin zum hüllenlosen Melancholiker. Wie die Rolle des Mephistopheles für Schauspieler gegenüber dem, wie es in Theodor Fontanes Der Stechlin mit sanftem Spott heißt, „sentimentalen ‚Habe-nun-ach-Mann‘“ die interessantere Rolle ist, so auch für die Bildgestaltung. Fausts ikonographische Merkmale des melancholischen Studierzimmerhockers, wie sie besonders prägnant in dem berühmten Gemälde Georg Friedrich Kerstings von 1829 festgehalten sind, bieten weniger Spielraum.

Von größerem Interesse als der von Weltschmerz und Erkenntnisekel geplagte alternde Doktor war für viele Künstler offenbar der verjüngte Liebende. Nicht umsonst hat die erste Begegnung mit Margarete zu vielen Bebilderungen angeregt. Diese wiederum zeigen exemplarisch, dass Goethes Text geradezu übermalt wurde, da etwa aus der von der Szenenanweisung vorgegebenen Straße oft ein Kirchenvorplatz wurde. Die Verbildlichungen sind eben mehr als nachträgliche Dokumente. Sie sind als eigenständige Bestandteile eines sich stetig weiterentwickelnden Mythos zu begreifen. Das Fortwirken eines – und sei es zum nationalen Literaturheiligtum aufgestiegenen – Textes ist nicht an die bloße Aktualisierung seiner Buchstäblichkeit geknüpft.

Zugleich aber gibt es dann unter den verschiedenen Margarete-Bildern doch zahlreiche Ähnlichkeiten zu entdecken, sodass von einer regelrechten „Gretchen-Ikonographie“ die Rede sein kann. Die spätere Kindermörderin wurde häufig als Muster altdeutscher Weiblichkeit dargestellt, was ganz besonders zu einer umfänglichen Verkitschung taugte. Mittels einiger lustvoller Brechungen folgt noch die von Karl Lagerfeld als Margarete fotografierte Claudia Schiffer dem Muster der blonden Vorzeigedeutschen. Wie Sophie Borges hervorhebt, üben die künstlerischen Umsetzungen der Margarete-Figur insbesondere im 19. Jahrhundert, ganz anders als der Dramentext, keine Kritik an der zeitgenössischen frauenfeindlichen Sexualmoral, sondern zementieren ein klischiertes Verständnis von Weiblichkeit. Wüsste man es nicht besser, man könnte kaum glauben, dass die bieder-züchtigen Margarete-Darstellungen und die von überbordender Nacktheit dominierten Walpurgisnachts-Bilder vom gleichen Text inspiriert sind – was freilich ein Beleg für den Facettenreichtum des Textes und die unerschöpflichen Möglichkeiten seiner Interpretation ist.

So etwa anlässlich der „Mütter“, diesen den Sterblichen unbekannten „Göttinnen“, die Mephisto nicht selbst aufsuchen kann und vor denen Faust schaudert. „Von ihnen sprechen ist Verlegenheit“, heißt es bei Goethe, sie zu zeichnen offenbar nicht. Diese nicht näher beschriebenen und (nicht nur deshalb) vielleicht rätselhaftesten Figuren im großen Kosmos des zweiten Teiles der Faust-Dichtung werden von Franz Stassen um 1900 als voll- und barbusige sinnliche Prachtweiber gezeigt, die Faust mit seinem phallischen Schlüssel in Bann hält, was wiederum sehr nah am Text bleibt. Ohnehin erwies sich Faust II für die künstlerische Rezeption als erheblich vertrackter. Dies liegt zweifellos an der gegenüber dem ersten Teil nochmals erhöhten poetischen Komplexität, aber auch, wie Johannes Rössler ausführt, daran, dass der erste Teil ein prägnantes Reservoir an leicht wiedererkennbaren Bilden bereitstellt, woran es dem zweiten Teil mangelt. Tatsächlich hat Goethe die meisten Schlüsselszenen, die zu solchen ikonischen Bildern hätten werden können, hinter die Bühne verlegt. Das führte dazu, dass sich lange „kein eigenständiger Bilderkanon zu Faust II entwickelt“ hat. Der hochgradig allegorische, tatenarme und gedankenvolle Text wurde zu einer Herausforderung für die Kunst der Moderne. Die Bewältigungsversuche fielen denkbar unterschiedlich aus und reichen von Stassens Jugendstil-Schwulst bis zu Zeichnungen Max Beckmanns.

Bevor er mit einer knappen Auswahlbibliografie schließt, wird der Katalog von einer selektiven Übersicht über die unterschiedlichsten Buch-Ausgaben des Faust abgerundet, vom ersten Reclam-Taschenbuch über Comic-Adaptionen hin zu bibliophilen Prachtausgaben. Unliebsame Erinnerungsstücke wie den 1915 erschienene „Tornisterfaust“, der in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges deutschen Soldaten moralische Erbauung im Dienst für Ruhm und Ehre des Vaterlands gewähren sollte, bleiben hier ausgespart.

Insgesamt aber überwiegen die Entdeckungen bei Weitem die Anlässe, Fehlendes zu beklagen. Der Katalog lädt zu einer Erkundung eines weit verzweigten Feldes des Faust-Mythos ein. Zu entdecken gilt es, wie frei und assoziativ die bildende Kunst mit den Anregungen umgeht, die Goethes Text bietet. Es handelt sich häufig nicht allein um „Illustrationen“ von vorhandenen Motiven, sondern um freie Umdeutungen und Weiterführungen, aber auch um bildliche Ausleuchtungen und Interpretationen von Figurenkonstellationen. Über Helena (die im Katalog nur ganz am Rande vorkommt) heißt es in Faust II: „Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau; / Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht zur Schau“. Das gilt für die mythologischen Figuren Faust, Mephistopheles und Margarete nicht minder – und nicht allein der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau, sondern auch bildende Künstler seit über 200 Jahren.

Titelbild

Roger Diederen / Thorsten Valk: Du bist Faust. Goethes Drama in der Kunst.
Prestel Verlag, München 2018.
304 Seiten, 34,95 EUR.
ISBN-13: 9783791357188

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch