Sind wir alle Taugenichtse?

Nina Verheyen zeigt, was ‚Leistung‘ leistet

Von Markus SteinmayrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Steinmayr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die FDP kann einpacken. Die Beschwörung ihrer selbst als Bastion der Leistungswilligen erfährt durch das Buch der Historikerin Nina Verheyen eine ganz neue Interpretation. Der moderne Begriff der Leistung hat nämlich gar nicht so viel mit den bürgerlichen Tugenden zu tun, die die FDP wie eine Monstranz vor sich her trägt, sondern mit Thermodynamik und den Ingenieurswissenschaften, jenen Zentralakteuren des Messungs- und Quantifizierungswahns, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt worden ist. Somit gelingt es den Ingenieurswissenschaften im Verbund mit der beginnenden Managementlehre jenes folgenreiche Narrativ zu etablieren, dass sich durch Steigerung bzw. durch die Steigerbarkeit der individuellen Leistung die Performanz des Sozialen automatisch mit steigere.

Mit ihrem Buch hat die Historikerin eine, wie man im Ton des Buches sagen müsste, herausragende individuelle Leistung vorgelegt. Die Leistung des Buches besteht einerseits in einer Dekonstruktion der Konvergenz zwischen bürgerlichen Tugenden und Leistungsdenken. Andererseits analysiert die Autorin – in Anlehnung an die Bielefelder Schule der Historischen Sozialwissenschaften – die sich erst ganz allmählich etablierende Funktion des Begriffs „Leistung“ als Element der politisch-sozialen Sprache.

Das Buch arbeitet aber nicht nur mit begriffsgeschichtlichen Quellen, sondern zeigt darüber hinaus an zahlreichen Beispielen aus Literatur und Film, wie in den Künsten und in der Kultur eine Art Gegendiskurs entsteht, der die offiziellen Leistungsmythen entlarvt oder, etwas vorsichtiger formuliert, ihnen ihre Kontingenz entgegenhält. Mit dem Schlagwort „Leistung“ etabliert die moderne Gesellschaft einen zentralen Begriff ihrer Selbstbeschreibung.

„Leistung“ hat, dies führt Verheyen aus, mindestens zwei Komponenten: die individuelle und die soziale. Beide sind untrennbar miteinander verbunden. Die Autorin plädiert für ein „soziales Leistungsverständnis“, also ein Leistungsverständnis, das nach den sozialen Bedingungen jeder vermeintlich individuellen Leistung fragt. Die Subjektivierung von Leistung erweist sich somit als fatal. Durch sie entsteht ein „soziales Ordnungsprinzip“, das in der Lage ist, zwischen den Leistungswilligen und den Leistungsunwilligen zu diskriminieren.

Wie es zu der gesellschaftlichen Fiktion kommt, Leistungen objektiv messen zu können, überhaupt erst die Differenz zu etablieren zwischen denjenigen, die wollen, und denjenigen, die nicht wollen oder können, zeigt der Blick zurück auf die Entstehungszeit unserer modernen Weltauffassung, jener Sattelzeit um 1800, die sich ihrer selbst noch nicht gar nicht sicher ist. In Rückbezügen auf die für ihre Genealogie des Leistungsbegriffs zentralen Diskurse der Arbeit und der Bildung zeichnet Verheyen nach, wie das Bürgertum sich zunächst gegen das Verständnis der Gesellschaft als Leistungsgesellschaft wandte. Der Ehrgeizige galt lange Zeit im bürgerlichen Kontext als bloßer Parvenü, als ungeschmeidiger Soziallegastheniker, der es schafft, jede noch so entspannte Konversation in eine Wettbewerbssituation zu verwandeln.

Aufstieg durch Leistung, Arbeit oder Bildung ist zunächst einmal ein nicht-bürgerliches Programm. So liest der gebannte Leser, wie der Hamburger Bürger Friedrich Beneke sein Leben gerade nicht um Arbeit oder stete Leistungsbereitschaft herum organisiert, sondern um Muße und Freizeit, also um freie Zeit, die er besonders gerne mit seinen Kindern verbrachte. Anders formuliert: Work-life balance bedeutet für den Bürger der damaligen Zeit work-life discrimination.

Erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts wird der moderne Leistungsbegriff etabliert, der um 1900 seine erste ‚Krise‘ erlebt. Das Leistungsethos, die Fiktion der Messbarkeit von Leistungen, die Institutionalisierung des Leistungszwangs in Schule und Universität werden für die erste Erfahrung von Modernität als Krise bedeutsam. Nicht ganz zufällig arbeitet Verheyen an dieser Stelle mit Texten aus dem Kanon des Fin de siècle und der Jahrhundertwende: Wedekinds Frühlingserwachen, Hesses Unterm Rad werden einer (auch und gerade für die Literaturwissenschaft) instruktiven Lektüre unterzogen. Mit stetem Blick auf die Gegenwart gelingt es Verheyen, Elemente einer Literatur- und Kulturgeschichte der Leistungsopfer zu schreiben. Hier fragt der Literaturwissenschaftler sich, warum die große Literaturgeschichte der Leistungsverweigerung nicht zumindest angedeutet wurde. Schaut man z.B. in den Studentenroman um 1900, so wird relativ schnell deutlich, dass trotz aller meritokratischen Orientierung der Universität das Studentenleben jenseits aller Leistungsorientierung geschildert wird. Der offensichtlichen Leistungsverweigerung auf der Seite der Studierenden im Studentenroman entspricht die Sozialisationskraft des burschenschaftlichen Umfelds, das die Studierenden mit denjenigen Kompetenzen und Fähigkeiten versorgt, die letzten Endes über Karrieren entscheiden: Geschmeidigkeit im sozialen Umgang, Nonchalance, Distanz und Dezenz. Streber, Bildungsaufsteiger oder Ehrgeizlinge, die ihre gesellschaftlichen Ambitionen auch noch sehen lassen, kommen als positive Charaktere in diesen Texten nicht vor.

Das Buch Verheyens ist ein wichtiger Beitrag zur Neujustierung gesellschaftlicher Debatten über die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Leistungsbegriffs. Es geht hier nicht darum, den Wert der Leistung für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung in Frage zu stellen. Vielmehr geht es darum, den Begriff „Leistung“ von allen neoliberalen Zumutungen zu befreien. In Zukunft sollen die Debatten sich nicht mehr allein auf das immer weiter steigerbare Leistungsvermögen des Einzelnen kaprizieren. Vielmehr sollten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Leistung zuallererst ermöglichen und den Einzelnen in die Lage versetzen, sie zu erbringen, in den Mittelpunkt rücken. Dann schafft es jedeR. Leistung, so kann man nach der Lektüre feststellen, lohnt sich.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256873

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